Der Sinn von allem – oder zumindest fast (eBook)
448 Seiten
Ludwig Buchverlag
978-3-641-26443-7 (ISBN)
Wie sehen Farben für andere Menschen aus? Wo endet das Universum und was kommt danach? Existiert die Welt wirklich, oder leben wir in einem Traum? Inspiriert von den Fragen seiner Söhne Rex und Hank stellt der Philosophieprofessor Scott Hershovitz sich den großen Rätseln des Lebens. Er nimmt uns mit auf eine Reise durch die klassische und zeitgenössische Philosophie und entschlüsselt alte und neue Fragen der Metaphysik und Moral. Er erzählt von Kindern und anderen Philosophen - und erklärt, was wir von ihnen über Recht und Bestrafung, Gleichberechtigung und Verantwortung, Wahrheit und den Tod lernen können. Brillant und voller Humor berichtet er von seinem philosophischen Alltag und zeigt, dass Philosophie gar nicht so kompliziert und dabei wahnsinnig unterhaltsam ist.
Unterhaltsam und faszinierend. Getrieben von Gesprächen mit seinen beiden jungen Söhnen, flaniert Scott Hershovitz durch die hartnäckigsten Fragen der Philosophie: Ist das Universum unendlich? Können wir wirklich etwas wissen? Ist Fluchen in Ordnung? Sollten wir Rache üben? ?Der Sinn von fast allem - oder zumindest fast? ist eine leichtfüßige Einführung darüber, wie man tiefgreifende philosophische Themen mit Kindern diskutiert - und wie man selbst darüber nachdenken kann. - Pamela Druckerman, Autorin von Warum französische Kinder keine Nervensägen sind
Scott Hershovitz ist Professor für Recht und Philosophie an der University of Michigan. Nach seinem Studium, u.a. an der Universität Oxford und der Yale Law School, arbeitete er unter Ruth Bader Ginsburg am US Supreme Court. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel und Essays über Philosophie in den New York Times und den führenden Fachzeitschriften. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, Rex und Hank, lebt er in Michigan.
1
Rechte
Ich liebe es, ein Bad einzulassen. Nicht für mich natürlich. Ich bin ein heterosexueller Mann und wurde im letzten Jahrhundert sozialisiert. Ich bade also weder, noch äußere ich die volle Bandbreite menschlicher Gefühle. Aber meine Kinder baden, und jemand muss ihnen das Bad einlassen. Meistens fädele ich es so ein, dass ich dieser Jemand bin.
Warum? Weil das Badezimmer oben ist, im ersten Stock, und unten ist ein verdammtes Irrenhaus. Wenn die Kinder müde werden, steigt ihre Bewegungsenergie, und ihre Selbstkontrolle setzt aus. Der Lärm ist so ohrenbetäubend wie auf einem Rockkonzert. Irgendjemand schreit, weil es an der Zeit ist, Klavier zu üben, oder weil keine Zeit mehr ist, Klavier zu üben. Oder weil es keinen Nachtisch gab oder weil es Nachtisch gab und dieser auf dem T-Shirt landete. Oder ganz einfach, weil eben geschrien werden muss. Geschrei ist die kosmologische Konstante.
Ergo: ich fliehe. »Ich fang schon mal mit Hanks Bad an«, sage ich und steige die Treppe hinauf, dem besten Teil meines Tages entgegen. Ich schließe die Badezimmertür, drehe das Wasser auf und stelle die Temperatur ein. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Ein bisschen nach links, dann wieder nach rechts, als ob ich es so hinbekommen könnte. Fest steht: Das Wasser wird zu warm sein. Oder zu kalt. Oder beides, denn der Satz vom Widerspruch gilt bei meinen Kindern nicht. Ich werde also scheitern. Und trotzdem bin ich von Frieden erfüllt, denn das Badewasser dämpft das Geschrei. So sitze ich allein auf den Fliesen, allein mit meinen Gedanken (und wenn ich Gedanken sage, meine ich Telefon) und sauge die Einsamkeit auf.
Meine Frau hat mich durchschaut und kommt mir manchmal zuvor. »Ich fang schon mal mit Hanks Bad an«, sagt sie dann und zermalmt damit meine Seele. Aber sie ist eine heterosexuelle Frau und wurde im letzten Jahrhundert sozialisiert; also nutzt sie die Chance nicht. Sie stellt das Badewasser an, aber anstatt dann auf ihrem Telefon herumzuspielen, während sich die Wanne füllt, tut sie etwas Sinnvolles, wie Wäsche waschen. Oder aber etwas Unerklärliches, wie zu den Kindern zurückzukehren, um … nun ja, sie zu erziehen? Ich weiß, dass ich ein schlechtes Gewissen wegen dieser Sache haben sollte. Und das habe ich auch. Aber nicht aus dem Grund, der eigentlich naheliegen sollte. Einsamkeit ist der größte Luxus, den wir uns leisten können. Irgendjemand sollte ihn sich gönnen. Eher Julie als ich, sicher, aber wenn nicht sie, dann definitiv ich.
Da sitze ich also, auf dem Boden im Badezimmer, und mir schwant, dass der Wahnsinn im Erdgeschoss wahnsinniger ist als normalerweise. Hank (fünf Jahre alt) hat eine ausgewachsene Heulattacke, sodass es sich um etwas Ernstes handeln muss (und mit ernst meine ich nichtig). Irgendwann muss ich das Wasser abstellen, und meine Gelassenheit ist dahin.
»Hank, dein Bad ist fertig«, rufe ich die Stufen hinab.
Keine Antwort.
»HANK, DEIN BAD IST FERTIG!«, schreie ich, um seine Schreie zu übertönen.
»HANK, DEIN BAD IST FERTIG!«, wiederholt Rex genüsslich.
»HANK, DEIN BAD IST FERTIG!«, sagt Julie verärgert.
Dann quält sich das Schluchzen die Treppe hinauf. Langsam. Ein. Schritt. Nach. Dem. Anderen. Bis Hank, vollkommen außer sich und auch außer Atem, schließlich im Bad eintrifft.
Ich versuche, ihn zu beruhigen. »Hank«, sage ich sanft, »was ist los?« Keine Antwort. »Hank«, flüstere ich noch etwas sanfter, »was ärgert dich?« Er kann immer noch nicht antworten. Ich ziehe ihm die Sachen aus, während er versucht, wieder zu Atem zu kommen. Als er schließlich in der Wanne sitzt, versuche ich es noch einmal. »Hank, was ärgert dich?«
»Ich habe keine … Ich habe keine …«
»Was hast du nicht, Hank?«
»ICH HABE KEINE RECHTE!«, bricht es aus Hank heraus, und wieder kullern die Tränen.
»Hank«, sage ich leise, weiterhin in der Hoffnung, ihn beruhigen zu können, aber auch neugierig. »Was sind Rechte?«
»Ich weiß nicht«, wimmert er, »aber ich habe keine.«
◆ ◆ ◆
Dieses Mal brauchte Hank einen Philosophen. Glücklicherweise hatte er einen.
»Hank, du hast sehr wohl Rechte.«
Das ließ ihn aufhorchen und seine Tränen etwas langsamer kullern.
»Und zwar eine ganze Menge.«
»Wirklich?«, fragte Hank, während sich seine Atmung normalisierte.
»Ja, hast du. Willst du mehr über deine Rechte wissen?«
Er nickte.
»Dann lass uns über Tigi reden«, sagte ich. Tigi ist für Hank wie Hobbes für Calvin: ein weißer Plüschtiger, der Hank seit der Geburt begleitet. »Kann dir irgendjemand Tigi wegnehmen?«
»Nein«, sagte er.
»Kann jemand mit Tigi spielen, ohne dich vorher zu fragen?«
»Nein«, erwiderte Hank. »Tigi gehört mir.« Die Tränen waren fast verschwunden.
»Das stimmt«, sagte ich. »Tigi gehört dir. Und das bedeutet, dass du ein Recht auf ihn hast. Niemand kann Tigi nehmen oder mit ihm spielen, wenn du es nicht erlaubst.«
»Aber es könnte jemand kommen und Tigi wegnehmen«, wandte Hank ein und stand wieder kurz vor den Tränen.
»Das ist richtig«, sagte ich. »Jemand könnte Tigi nehmen. Aber wäre das in Ordnung? Oder wäre das falsch?«
»Es wäre falsch«, sagte er.
»Richtig. Und wenn es falsch ist, dass jemand deinen Tigi nimmt, dann bedeutet das: du hast ein Recht darauf, dass ihn niemand nehmen darf.«
Hanks Gesicht leuchtete auf. »Ich habe ein Recht auf alle meine Toffstiere!«, sagte er und brachte mich mit seinem niedlichen Buchstabendreher zum Schmunzeln.
»Das ist richtig! Das hast du! Genau das bedeutet es, dass sie deine Stofftiere sind.«
»Ich habe ein Recht auf alle meine Spielzeuge!«, sagte Hank.
»Ja, das hast du!«
Dann verzog sich sein süßes Gesicht. Wieder Schluchzen, wieder Tränen.
»Hank, warum bist du jetzt traurig?«
»Ich habe kein Recht auf Rex.«
Das war also der Grund für den Tumult im Erdgeschoss. Hank wollte mit Rex spielen. Rex jedoch wollte lesen. Und Hank hatte, de facto, kein Recht auf Rex.
»Nein, du hast kein Recht auf Rex«, erklärte ich. »Er kann selbst entscheiden, ob er spielen möchte oder nicht. Wir haben kein Recht auf andere Menschen, außer wenn sie etwas versprechen.«
Zugegeben, das ist ein wenig vereinfacht. Manchmal haben wir nämlich Ansprüche an andere, selbst wenn sie uns nichts versprochen haben. Ich entschied mich allerdings dafür, eine eingehendere Erörterung des Themas so lange aufzuschieben, bis der Lernende sich emotional stabilisiert hatte. Stattdessen sprachen wir darüber, was Hank allein unternehmen könnte, wenn Rex mal wieder lesen wollte.
◆ ◆ ◆
Mit den Tränen kämpfend, machte Hank eine scharfe Beobachtung über Rechte. Ich fragte ihn, ob jemand Tigi ohne seine Erlaubnis nehmen könne. Er sagte Nein. Einen Augenblick später besann er sich eines Besseren. Jemand könnte Tigi ohne seine Erlaubnis nehmen. Interessanterweise hatte Hank nur wenige Jahre zuvor genau das mit den Spielsachen von Rex gemacht. Der Tigi von Rex heißt Giraffi. (Und bevor Sie die Namenskonventionen meiner Söhne kritisieren, sollten Sie wissen, dass ich als Kind sogar noch einfallsloser war. Meine Begleiter hießen Affe und Giraffe.) Als Hank krabbeln lernte, verschwand er, wann immer sich die Gelegenheit bot, im Zimmer von Rex, stopfte sich Giraffi unters Kinn und kam in Höchstgeschwindigkeit wieder heraus. Rex hatte ein Recht auf Giraffi, genauso wie Hank ein Recht auf Tigi hat. Aber Hank konnte Giraffi nehmen und tat es auch.
Was sagt uns das über Rechte? Nun, Hanks Recht auf Tigi schützt den Besitz von Tigi. Aber der durch dieses Recht verliehene Schutz ist nicht physischer Natur. Es gibt kein Kraftfeld um Tigi herum, das andere Menschen daran hindert, ihn zu nehmen. Stattdessen ist der Schutz, den ein solches Recht bietet, in Philosophensprech normativ. Das bedeutet, dass dieser Schutz durch die Normen und Standards entsteht, die gutes Verhalten definieren. Jemand, der sich gut verhalten will, würde Tigi nicht ohne Hanks Erlaubnis nehmen (zumindest nicht ohne einen wirklich guten Grund, darauf kommen wir gleich noch einmal zurück). Aber nicht alle Menschen streben danach, sich gut zu verhalten. Der Schutz, den ein Recht bietet, hängt von der Bereitschaft der anderen ab, dieses Recht anzuerkennen und zu respektieren.
◆ ◆ ◆
Bevor wir zum nächsten Punkt kommen, möchte ich mich kurz zum Thema Sprachpedanterie äußern. Wie beschrieben fragte ich Hank, ob jemand ohne seine Erlaubnis Tigi nehmen könne, und er sagte Nein. Dann dachte er noch einmal genauer nach und antwortete mit Ja. Er hatte beim ersten Mal recht. Und beim zweiten Mal auch.
Moment mal. Wie bitte? Wie kann das sein?
Das Wort können ist äußerst flexibel. Hier kommt eine kurze Geschichte zur Veranschaulichung:
Als ich in Oxford studierte, nahm mich ein Freund mit in eine Bar. Er bestellte zwei Pints.
»Sorry, Mate, kann ich nicht machen. Wir haben geschlossen«, sagte der Mann hinter der Bar.
Mein Freund sah auf die Uhr. Es war eine Minute nach elf, die...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2022 |
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Übersetzer | Daniel Müller, Elisabeth Schmalen, Karolin Viseneber |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Nasty, Brutish, and Short |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | 2022 • Alltagsphilosophie • Der Sinn des Lebens • eBooks • Kinderfragen • Kurze Antworten auf große Fragen • Lebensphilosophie • Neuerscheinung • Philosophie • Philosophie für Anfänger • Richard David Precht • Wer bin ich - und wenn ja, wie viele? |
ISBN-10 | 3-641-26443-X / 364126443X |
ISBN-13 | 978-3-641-26443-7 / 9783641264437 |
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