Rattennest (eBook)
272 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-506-4 (ISBN)
»Fesselnd und wichtig! Dieses Buch hilft zu verstehen, warum viele NS-Verbrecher nach Argentinien flüchteten.«
Olivier Guez, Autor des Bestsellers »Das Verschwinden des Josef Mengele«
Adolf Eichmann, der die Vernichtung der europäischen Juden organisierte, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso nach Argentinien ab wie Josef Mengele, der KZ-Arzt von Auschwitz. Hunderte NS-Verbrecher taten es ihnen gleich. Auf den sogenannten Rattenlinien gelangten sie in ein Land, das sie mit offenen Armen empfing. Doch warum ausgerechnet Argentinien? Lateinamerika-Kenner Hannes Bahrmann geht dieser Frage nach und stellt überzeugend dar: Die Antwort liegt in der Geschichte des Landes selbst begründet.
Hannes Bahrmann, Jahrgang 1952, studierte Lateinamerikawissenschaften und Geschichte, arbeitete als Journalist und ist Autor zahlreicher Sachbücher zur Geschichte Lateinamerikas, darunter Publikationen zu den gescheiterten Revolutionen in Kuba (2016), Nicaragua (2017) und Venezuela (2018). Darüber hinaus veröffentlichte er viel beachtete Bücher zur DDR-Politik und deutschen Vereinigung.
ARGENTINIEN
Binnenkolonisation auf Kosten der indigenen Völker – Afroargentinier »verschwinden« – Mit Gewalt wird der ungeheure Landbesitz an die Oligarchie umverteilt -Das Bevölkerungsideal: »Weder Gauchos noch Schwarze noch Arme« – Masseneinwanderung aus Europa
Argentinien ist riesig: Mit 3,7 Millionen Quadratkilometern ist es das siebtgrößte Land der Welt und nach Brasilien das zweitgrößte Lateinamerikas. Von Nord nach Süd misst es 3800, von Ost nach West an der breitesten Stelle 1400 Kilometer. Verglichen mit Europa entstünde eine Strecke von Sylt bis ins saudi-arabische Mekka. Über 4000 Kilometer lang ist die Küstenlinie am Südatlantik. Argentinien erstreckt sich über mehrere Klimazonen, subtropisch im Norden, kühl im Süden, wo die nahegelegene Antarktis das Klima beeinflusst.
Der Name des Landes war einst die Hoffnung der spanischen Eroberer, hier das begehrte Argentum, das Silber, zu finden. Sie erfüllte sich nicht. Von der Stadt Córdoba im Norden bis hinunter nach Patagonien im Süden erstreckt sich die fruchtbare Pampa (in der Sprache der Ureinwohner »Land ohne Bäume«). Nach Westen erheben sich die Anden mit drei Dutzend Bergen, teils über 6000 Meter hoch. Der Aconcagua ist mit 6959 Metern der höchste Berg außerhalb Asiens.
Die Hauptstadt am Ende des Río de la Plata nannte der spanische Eroberer Don Pedro de Mendoza Buenos Aires – Gute Lüfte. Luftig geht es hier in der Tat zu. Wahlweise wehen eisige Böen aus der Antarktis von Süden durch die Stadt oder Stürme vom Atlantik, die durch die Flussmündung eindringen. (Die Spanier ehrten mit dem Namen die Schutzpatronin der Seefahrer: Unsere Liebe Frau des Günstigen Windes.)
Historische Postkarte zeigt Indigene der TehuelcheGroße Teile des Landes waren zunächst dünn bevölkert. Hier siedelten die Ureinwohner Argentiniens, Nachfahren alter Kulturen Amerikas. In den Anden und im Nordwesten lebten die Kollas, Atacamas und Omahuacas sowie die aus der Amazonasregion stammenden Guaraní. Huarpes oder Huárpidos siedelten im Westen und im Zentrum, während in Patagonien die Tehuelche und die Mapuche lebten, zu denen auch die Onas (Selk’Nam) in Feuerland gehörten.
Der 1816 von der spanischen Krone unabhängig gewordene argentinische Staat betrachtete die Ureinwohner von Beginn an als Störfaktor. Mehrmals versuchte die Regierung in Buenos Aires den Süden des Landes zu kolonisieren. Den entscheidenden Vorstoß unternahm General Julio A. Roca (1834–1914), der seine Ziele in der Zeitung La Prensa am 1. März 1878 so beschrieb: »Zerstören wir also guten Gewissens diese Rasse, vernichten wir ihre Ressourcen und politische Organisation, damit ihre Stammesordnung verschwinde und nötigenfalls ihre Familien aufgelöst werden. Diese bankrotte und verstreute Rasse wird sich schließlich der Sache der Zivilisation anschließen.«
In den Kämpfen zur Erringung der Unabhängigkeit von Spanien hatten die Aufständischen in Europa Offiziere angeworben, um ihre Truppen effektiver führen zu lassen. Dem Aufruf folgte der preußische Oberstleutnant Eduard Kailitz Freiherr von Holmberg, der in Spanien gegen Napoleon gekämpft hatte. Der Anführer der Aufständischen Manuel Belgrano ernannte Holmberg nach dessen Ankunft 1812 zum Generalkommandanten der Artillerie. Mit seinen präzisen Kanonenschüssen rettete er 1816 Belgranos Truppen in der entscheidenden Schlacht von Tucumân.
Wie Holmberg hatte auch der in Argentinien geborene Oberstleutnant José de San Martín in Spanien gegen Napoleon gekämpft. Er kehrte 1812 nach Buenos Aires zurück, stieg zum General auf und befreite Argentinien, Chile und Peru von der spanischen Herrschaft. Er verkündete die argentinische Unabhängigkeit 1816 in Tu-cumân. War Simón Bolivar der Befreier des Nordens von Südamerika, gebührt diese Ehre San Martín als Befreier des Südens.
Am 9. Juli 1816 nahmen die Teilnehmer eines Kongresses in Tucumân die Unabhängigkeitserklärung der »Vereinigten Provinzen des Río de la Plata« an. Es folgten Jahrzehnte voller Wirren und Auseinandersetzungen mit inneren und äußeren Feinden. Jede Stadt hatte ihren lokalen Oligarchen, der unumschränkt herrschte, was zu Kämpfen zwischen den Provinzen und der Hauptstadt führte. Doch allmählich stieg Argentinien zur Regionalmacht auf.
Den Sieg über die spanische Kolonialmacht errangen Belgrano und San Martín mithilfe einer Gruppe Menschen, von der heute kaum noch die Rede ist: Afroargentinier. Dabei machten ehemalige Sklaven zwei Drittel der Truppen im Unabhängigkeitskampf aus. Für den Dienst erhielten sie ihre Freiheit. 1587 waren die ersten an den Río de la Plata gebracht worden. Sie kamen aus Westafrika, vor allem aus Angola, und wurden über Córdoba weiter nach Chile, Peru und Paraguay verkauft. Doch viele blieben. 1812 lag ihr Bevölkerungsanteil in der Hauptstadt Buenos Aires bei geschätzten 30 bis 40 Prozent.
Im außerordentlich verlustreichen Krieg von Argentinien, Brasilien und Uruguay gegen Paraguay (1865 – 1870) kämpften auf argentinischer Seite erneut vor allem schwarze Soldaten, die auch die größten Verluste erlitten. Hohe Kindersterblichkeit und Seuchen, die die schwarze Bevölkerung besonders trafen, dezimierten die Afroargentinier weiter. Ende des 19. Jahrhunderts wurde ihre Zahl nur noch mit zwei Prozent angegeben, bei der Volkszählung von 2010 waren es nur noch 0,3 Prozent. Die Afroargentinier waren quasi »verschwunden«. Präsident Carlos Menem, der Argentinien von 1989 bis 1999 regierte, antwortete 1997 auf die Frage, ob es im Land eine schwarze Bevölkerungsgruppe gebe: »Nein, das ist ein Problem Brasiliens.«
Das war ganz im Sinne vieler Argentinier wie auch des Vaters der Verfassung von 1853, Juan Batista Alberdi. Sein Ideal war eine »weiße Gesellschaft«, sein Motto Gobernar es poblar (Regieren heißt besiedeln). In der Verfassung hieß es im Artikel 25: »Die Bundesregierung hat die europäische Einwanderung zu fördern. Sie darf das Betreten argentinischen Gebiets durch Fremde, die das Land bebauen, die Gewerbe verbessern, Kunst und Wissenschaft einführen wollen, in keiner Weise hemmen, einschränken oder mit Abgaben belasten.«
Präsident Domingo Faustino Sarmiento (1811–1888), der das Land von 1868 bis 1874 regierte, schrieb das Gründungswerk Argentiniens »Civilización i barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga, i aspecto físico,, costumbres i hábitos de la República Arjentina« (Zivilisation und Barbarei. Das Leben des Juan Facundo Quiroga. Physische Aspekte, Bräuche und Gewohnheiten in der Republik Argentinien). Darin hielt er fest, wie er sich die künftige Nation vorstellte: ni Gauchos, ni negros, ni pobres (weder Gauchos noch Schwarze noch Arme).
Die Urbevölkerung zählte Sarmiento gar nicht erst auf. Ihre Siedlungsgebiete waren für ihn »gänzlich unbewohnt«. Dort »lauern die Wilden, die auf die mondhellen Nächte warten, um wie ein Rudel Hyänen über das Vieh auf den Weiden und über die wehrlosen Siedlungen herzufallen«. Auch die Gauchos, Viehzüchter, zumeist Nachfahren spanischer Einwanderer, und Indios, die ein unabhängiges Dasein führten und vom Verkauf von Leder und Trockenfleisch lebten, waren ihm nicht willkommen. Ihre Existenz habe ihn an Asien und die Gauchos selbst mit ihren langen Bärten an Berber erinnert. Ihre Messer seien »wie der Rüssel des Elefanten: sein Arm, seine Hand, sein Finger, sein Alles«.
Für Sarmiento konnte es keinen Fortschritt geben ohne dauerhafte Inbesitznahme des Bodens, »ohne die Stadt, die ihrerseits die gewerblichen Fähigkeiten des Menschen entwickelt und ihm erlaubt, seine Erwerbungen auszuweiten«. Deshalb sei das ungebundene Dasein der Gauchos nicht zu tolerieren. Vorbildlich nannte er hingegen die deutschen Siedlungen mit ihren hübschen Häusern, wo »die Bewohner immerzu in Bewegung und Tätigkeit« seien.
Bis zur Unabhängigkeit gehörte das Land in Argentinien der spanischen Krone. Danach verteilten es die siegreichen Generäle unter sich und ihren Unterstützern auf. Die Teile der alten spanischen Elite, die geblieben waren, verbanden sich mit den neuen Landbesitzern, und es entstanden machtvolle Familien. Sie bildeten die nationale Oligarchie, die das Land wirtschaftlich und politisch beherrschte.
Ein Beispiel für diese Oligarchen war die Familie Anchorena. Der Anwalt Tomás de Anchorena war einer der Väter der argentinischen Unabhängigkeitserklärung. Er heiratete in die Familie de Zúñiga ein, deren Mitglieder die größten Grundbesitzer der damaligen Zeit waren und es später auch blieben. 1928 verzeichnete ihr Kataster bereits eine Fläche von insgesamt 382 670 Hektar. Die Familie Casado Sastre...
Erscheint lt. Verlag | 16.8.2021 |
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Zusatzinfo | 51 s/w-Abbildungen und 1 Karte/Tabelle |
Sprache | deutsch |
Maße | 130 x 130 mm |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Adolf Eichmann • Argentinien • Drittes Reich • EVITA • Gewaltgeschichte Argentiniens • Josef Mengele • Juan Domingo Perón • NS-Verbrecher • Rassismus • Rattenlinie |
ISBN-10 | 3-86284-506-0 / 3862845060 |
ISBN-13 | 978-3-86284-506-4 / 9783862845064 |
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