Es muss nicht immer ADHS sein (eBook)
336 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12117-9 (ISBN)
Petra Friederichs ist Diplom-Sozialwirtin, systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin, systemischer Coach und Pädagogin für Sensorische Integration.
Petra Friederichs ist Diplom-Sozialwirtin, systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin, systemischer Coach und Pädagogin für Sensorische Integration. Edgar Friederichs, Prof. Dr. med. Dipl.-Phys., ist Arzt für Kinder- und Jugendmedizin, medizinischer Psychotherapeut und Honorarprofessor für "Neurobiologie des Lernens und Arbeitens" an der Universität Bamberg.
Vorbemerkungen
Diese Welt braucht mehr Erwachsene, die die Entwicklung von Kindern verstehen. Damit ist nicht nur gemeint, wann Kinder sprechen und laufen lernen und sie ihr Zimmer allein aufräumen müssten. Wann sie sich angepasst verhalten und soziale Beziehungen aufbauen können und wann es mit dem Schreiben, Lesen und Rechnen sicher funktionieren sollte. Es ist vor allem damit gemeint, welche Voraussetzungen für jedes Kind gleichermaßen notwendig sind und welche Entwicklungsschritte es durchlaufen muss, um schließlich diese und andere Fertigkeiten zu beherrschen. Bei all diesen Entwicklungsschritten geht es um Vernetzungsprozesse im Gehirn, die bei dem einen Kind schneller, bei dem anderen langsamer und beim dritten Kind nicht ohne gezielte therapeutische Unterstützung stattfinden. In diesem Buch geht es um die Bedeutung dieser Vernetzungsschritte im Gehirn für eine umfassende Entwicklung des Kindes und was es für ein Kind und seine Eltern bedeutet, wenn all dies, oder auch nur einzelne Bereiche davon, nicht so funktionieren, wie sie eigentlich sollten. Es gibt im Weiteren ausführliche Informationen zu diagnostischen Möglichkeiten sowie therapeutischen Maßnahmen, die nicht auf ADHS ausgerichtet sind. Und es geht um Fördermöglichkeiten in der Familie, der Kita und der Schule.
War es früher mehr ein Abhaken von verzögerten Entwicklungsschritten, die zwar auffielen, aber man sich als Eltern beruhigte oder auch beruhigt wurde mit: »Warten Sie mal ab, das verwächst sich schon noch«, so wissen wir heute aus der modernen Gehirnforschung, dass sich Vieles nicht einfach »verwächst«. Die Symptome verändern sich, aber die Probleme bleiben. Einzelne Entwicklungsschritte bauen aufeinander auf und eine Lücke oder Schwäche im Aufbau beeinflusst häufig die hiermit verbundenen nächsten Entwicklungsschritte, eben mehr oder weniger. Und von so manchen wichtigen Verbindungen während der Reifung des kindlichen Gehirns, die es durch Erfahrung und Erziehung zu festigen gilt, war bis vor einigen Jahren noch gar nichts Genaues bekannt. Und somit kannten wir auch manche Abhängigkeiten bestimmter Entwicklungsschritte untereinander nicht. Nicht etwa, dass man vor 30 Jahren gar nichts wusste, aber man wusste nur wenig Genaues und vor allem nicht, wie man hierauf konkret reagieren konnte. Heute wissen wir auch noch nicht alles, aber doch schon sehr viel mehr. So kann ein aktuelles Störungsbild bei einem Kind, z. B. bei schulischen Lernprozessen und Verhaltensauffälligkeiten seinen Ursprung in fehlgelaufenen Entwicklungsschritten im Gehirn haben, die bereits Jahre zurückliegen. Und häufig ist es wichtig, genau diese, vielleicht bereits vor Jahren fehlgelaufenen Entwicklungsschritte zu erkennen, um Eltern gezielt zu beraten oder eine wirksame therapeutische Unterstützung anbieten zu können.
In den vergangen drei Jahrzehnten hat die Gehirnforschung enorm viele Erkenntnisse und damit neues Wissen hervorgebracht. Hinzu kommen riesige Fortschritte in der Medizintechnik, die Einblicke ins Gehirn und spezifische Messungen erlauben und damit viele Zusammenhänge aufdecken, die lange unbekannt waren. Leider kommt dieses Wissen nur sehr langsam dort an, wo mit Kindern im Alltag gearbeitet wird, wie in den Kindertagesstätten, Schulen und Horten, den Erziehungs- und Familienberatungsstellen, sowie der Entwicklungs- und Gesundheitsvorsorge und der medizinischen und psychologischen Grundversorgung.
Mit unserem Buch möchten wir dazu beitragen, dass genau dieses Wissen aus dem wissenschaftlichen Bereich mehr Eingang in die Bereiche der praktischen Arbeit mit Kindern und Eltern erhält. Die Arbeitsweise des Gehirns ist faszinierend und geradezu genial, aber auch entsprechend kompliziert, da seine Funktionen enorm komplex sind. Oft sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt und entsprechend veröffentlicht, aber wenig allgemein zugänglich bzw. allgemein verständlich. Und es fehlt an Pionieren, die wiederum Methoden entwickeln, um wissenschaftliche Erkenntnisse in der praktischen Arbeit besser nutzen zu können. Das ist nicht immer ganz einfach und bislang auch nicht in allen Bereichen möglich, aber eben doch bereits in einigen.
In diesem Buch werden wir uns auf Teilbereiche der kindlichen Gehirnentwicklung beschränken, nämlich auf die Entwicklung der Informationsverarbeitungsprozesse des Sehens und Hörens – und zwar von Anfang an. Wir meinen hier nicht die Teilfunktionen des Sehens und Hörens, die über die Augen und Ohren ablaufen. Es geht in erster Linie um die Funktionen des Sehens und des Hörens, die im Gehirn stattfinden. Denn diese Prozesse sind grundlegend wichtig für den Aufbau des Sozialverhaltens, sowie weiterer kognitiver Lernprozesse des Menschen, wie z. B. Lesen, Schreiben, Rechnen zu lernen, im Gedächtnis zu speichern und bei Bedarf abrufen zu können. Mögliche Auswirkungen von Fehlentwicklungen auf andere wichtige Bereiche, wie der Motivation oder der Beeinflussung von Emotionen werden wir bis ins Erwachsenenalter hinein beschreiben.
Und was hat das nun alles mit ADHS zu tun, werden Sie sich vielleicht jetzt fragen. Eigentlich gar nichts und doch sehr viel.
ADHS ist die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, die es mit und ohne den Anteil der Hyperaktivität (also der körperlichen Unruhe) gibt. Häufige Symptome einer ADHS sind Unaufmerksamkeit und Konzentrationsstörungen, Impulsivität, körperliche Unruhe, aber auch Lern- und Leistungsprobleme, emotionale Regulationsprobleme, Vermeidung kognitiver Anforderungen, Strukturierungsprobleme bei der Umsetzung von Anforderungen, Schwierigkeit beim Zuhören, erhöhte Vergesslichkeit, Unfähigkeit Aufgaben abzuschließen, Verlieren von Gegenständen, mangelnde Gefahreneinschätzung, motorische Ungeschicklichkeit und anderes mehr. Aber genau diese gleichen Symptome können auch bei einer Seh- und/oder Hörverarbeitungsstörung im Gehirn beobachtet werden. In der Praxis hat sich deutlich gezeigt, dass allein auf der Grundlage der Beobachtung des Kindes und des Ausfüllens eines entsprechenden Fragebogens und eines Intelligenztests hier nicht zuverlässig unterschieden werden kann, ob ein Kind, das diese Symptome zeigt, eine ADHS oder eine Seh- und/oder Hörverarbeitungsstörung im Gehirn hat.
Der Unterschied ist: Bei einer ADHS ist die Aufrechtrechterhaltung einer zielgerichteten Aufmerksamkeit gestört. Dieses Störungsbild wird derzeit wissenschaftlich als eine Folge gestörter »Exekutiver Funktionen« im Frontalhirn (im präfrontalen Kortex) gesehen. Hieraus ergeben sich zahlreiche weitere Probleme, wie auch eine gestörte Konzentrationsfähigkeit, eine hohe Ablenkungsbereitschaft und anderes mehr. Bei Informationsverarbeitungsstörungen, wie einer Seh- und/oder Hörverarbeitungsstörung kommt es in anderen Bereichen des Gehirns zu funktionellen Einschränkungen. In der Folge sind die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt und es besteht eine hohe Ablenkungsbereitschaft, die aber jeweils Kontext-abhängig ist. Die Beeinträchtigung tritt immer dann auf, wenn der entsprechend gestörte Informationsverarbeitungsbereich für z. B. eine Handlungsausführung zum Tragen kommt. Zum Beispiel fallen das Lesen oder die Rechtschreibung schwer oder werden vom Kind verweigert, wenn eine Sehverarbeitungsstörung vorliegt. Wir beschreiben unter anderem in diesem Buch welche weiteren Unterscheidungsmöglichkeiten es in einer differenzierten Diagnostik gibt. Eine gute Differenzierung ist nach unserer Erfahrung notwendig, um anhaltend erfolgreich in der Therapie zu sein. Denn eine ADHS wird nach anderen Kriterien behandelt als eine Seh- und/oder Hörverarbeitungsstörung. Und vor allem laufen die Lernaufbauprozesse beim Lesen, Schreiben und Rechnen anders ab. Und somit sollten diese entsprechend begleitet werden, damit sich ein betroffenes Kind gut entwickeln kann. Denn für Seh- oder Hörverarbeitungsstörungen gilt, wie auch bei der ADHS, dass diese keinen Einfluss auf die Intelligenz eines Kindes nehmen. Aber betroffene Kinder können ihre Potenziale, bedingt durch eine dieser Störungen, häufig nicht umsetzen. Hierzu bedarf es gezielter Therapien, auf die ebenfalls in diesem Buch eingegangen wird.
Die Entwicklung des kindlichen Gehirns in Bezug auf den Aufbau und die Funktionsweise der Seh- und Hörverarbeitung und möglicher Störungen in diesen Bereichen, beschreiben wir ebenfalls in diesem Buch. Dabei gehen wir besonders auch auf die Bedeutung dieser ...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2021 |
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Zusatzinfo | mit Schaubildern |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | AD(H)S • ADHS • ADS • Aggression • Aufmerksamkeitsdefizit • Aufmerksamkeitsstörungen • Außenseiter • Dyskalkulie • Elternratgeber • Erziehung • Erziehungsratgeber • Gehirnentwicklung • Hausaufgaben • Hirnforschung • Hörprobleme • Hyperaktivität • Kinderarzt • Kindergarten • Kindheit • Klassenclown • Konzentrationsstörungen • Legasthenie • Schlechte Noten • Schulprobleme • Sehprobleme • Sitzen bleiben • Verhaltensstörungen • Wahrnehmungsstörungen |
ISBN-10 | 3-608-12117-X / 360812117X |
ISBN-13 | 978-3-608-12117-9 / 9783608121179 |
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