Sie nannten es Arbeit (eBook)
398 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76549-0 (ISBN)
Heute bestimmt unsere Arbeit, wer wir sind, und das rastlose Konsumieren gilt als natürliche Eigenschaft des Homo Sapiens. Doch das war nicht immer so. James Suzman legt eine andere Geschichte der Menschheit vor, die zeigt, wie die Arbeit von uns Besitz ergreifen und unser Leben dominieren konnte. Doch wenn unsere Art zu arbeiten ein Produkt unserer Geschichte ist, dann lässt sie sich auch verändern. Arbeit ist der Kern unserer modernen Gesellschaften. Doch warum überlassen wir ihr einen so großen Teil unseres Lebens? Und warum arbeiten wir immer mehr, obwohl wir so viel produzieren wie noch nie? Entspricht das unserer Natur? Warum fühlen sich dann immer mehr Menschen überlastet und ausgebrannt?
Unsere Steinzeit-Vorfahren arbeiteten weit weniger als wir. Sie arbeiteten, um zu leben und lebten nicht, um zu arbeiten. Und dennoch waren sie relativ gesund und wurden älter als die meisten Menschen, die ihnen nachfolgten. Erst die Sesshaftwerdung des Menschen und die zunehmende Arbeitsteilung in immer größer werdenden Städten schufen die Grundlage für unser heutiges Verhältnis zur Arbeit, zu unserer Umwelt und zu uns selbst. Doch was damals für das Überleben notwendig war, ist es in unserer heutigen Überflussgesellschaft längst nicht mehr. James Suzman liefert ein beeindruckendes Panorama von der Steinzeit bis zur Gegenwart, und lässt uns eine Welt neu denken, in der die Wachstumsideologie nicht mehr unser Leben und unseren Planeten aussaugt.
- Wie entstand unser heutiges Verständnis von Arbeit?
- Von den Anfängen des Lebens bis zur automatisierten Gegenwart
- Warum wir mehr arbeiten, als wir bräuchten
- Historische Aufklärung für die Nach-Corona-Zeit
- Arbeit und Wirtschaft neu denken
- Für Leser:innen von Rutger Bregman und Yuval Noah Harari
James Suzman ist Sozialanthropologe und Autor des Buches "Affluence without Abundance" (Wohlstand ohne Überfluss), in dem er die Gesellschaften der Jäger und Sammler als erste Wohlstandsgesellschaften porträtierte. Er ist Direktor des anthropologischen Thinktanks Anthropos und Fellow am Robinson College der Cambridge University.
1
Leben ist arbeiten
Es herrschte an diesem Nachmittag im Frühjahr 1994 eine so sengende Hitze, dass sogar die Kinder mit ihren Lederhaut-Fußsohlen quietschten, wenn sie von einem Schattenplatz zu einem anderen über ein paar Meter glühenden Sandes spurteten. Es ging kein Lüftchen, und der Land Cruiser des Missionars wirbelte, als er die sandbedeckte Holperstrecke zum Skoonheid Resettlement Camp in der namibischen Kalahari-Wüste heraufdonnerte, dicke Staubwolken auf, die noch lange, nachdem das Fahrzeug zum Stehen gekommen war, in der Luft hingen.
Für die knapp 200 Ju/’Hoansi-Buschmänner, die sich vor der brennenden Sonne verkrochen hatten, waren Tage, an denen ein Missionar zu Besuch kam, eine willkommene Abwechslung von dem langweiligen Warten auf staatliche Lebensmittellieferungen. Es war auch deutlich unterhaltsamer, als kreuz und quer durch die Wüste zu schlappen, von einer der weitläufigen Rinderfarmen zur nächsten, in der Hoffnung, der eine oder andere weiße Farmer werde sich bewegen lassen, sie für eine Arbeit zu engagieren. Nachdem sie ein halbes Jahrhundert lang unter der Peitsche der weißen Viehzüchter gelebt hatten, die ihnen ihr Land genommen hatten, waren selbst die skeptischen in der Gruppe der Meinung, es sei ein Gebot der Vernunft, sich anzuhören, was die geweihten irdischen Gesandten des Gottes der Rinderfarmer ihnen zu sagen hatten.
Als die Sonne sich zum westlichen Horizont hin senkte, kletterte der Missionar aus seinem Land Cruiser, baute an der Heckklappe eine improvisierte Kanzel auf und rief die Gemeinde zusammen. Es war noch immer glühend heiß, und die Leute suchten sich mit schläfrigen Bewegungen einen Sitzplatz im Schattenmosaik des Baumes. Das Unkomfortable daran war, dass der Schatten des Baumes umso länger wurde, je tiefer die Sonne sank, sodass die Gemeinde immer wieder nachrücken musste, um im Schatten zu bleiben, was jedes Mal ein allgemeines Aufstehen und wieder Hinsetzen mit viel Ellenbogeneinsatz und Rangelei mit sich brachte. Es führte auch dazu, dass das Gros der Gemeinde sich zunehmend weiter von der improvisierten Kanzel entfernte, sodass der Missionar seine Predigt in laut bellendem Ton halten musste.
Die Szenerie verlieh dem Ereignis eine gewisse biblische Schwere. Nicht genug damit, dass die Sonne den Missionar in eine in die Augen stechende Corona tauchte, spielte sie, ebenso wie der Mond, der bald darauf im Osten aufging, und der Baum, unter dem die Menschen saßen, eine Hauptrolle in der Geschichte, die der Missionar erzählte: von der Schöpfung und vom Sündenfall.
Er begann damit, dass er seine Schäfchen an den Grund erinnerte, aus dem Menschen jeden Sonntag zur Andacht zusammenkamen: weil Gott sechs Tage lang unermüdlich daran gearbeitet hatte, Himmel, Erde, Meere, Sonne, Mond, Vögel, Tiere, Fische usw. zu erschaffen, und erst am siebten Tag, als die Arbeit getan war, geruht hatte. Weil die Menschen nach dem Bild Gottes erschaffen worden seien, werde auch von ihnen erwartet, so ermahnte er seine Zuhörer, jeweils sechs Tage zu arbeiten und sich am siebenten auszuruhen – und ihrem Gott für die unzähligen Wohltaten zu danken, die er ihnen erwies.
Die Worte, mit denen der Missionar seine Predigt eröffnete, wurden mit dem Nicken einiger Köpfe und mit einem «Amen» aus dem Mund der engagierteren Gemeindemitglieder quittiert. Die meisten taten sich jedoch schwer, sich konkret vorzustellen, für welche Wohltaten sie dankbar sein sollten. Sie wussten, was es hieß, Schwerarbeit zu leisten, wussten auch, wie wichtig es ist, sich genug Zeit zum Ausruhen zu nehmen. Doch wie es sich anfühlen würde, an den materiellen Belohnungen für ihre Mühen teilzuhaben, konnten sie sich nicht vorstellen. Im Verlauf eines halben Jahrhunderts war es ihrer Hände Arbeit gewesen, die aus einem semiariden Landstrich in kraftraubender Plackerei Weidegründe für profitable Viehfarmen gemacht hatte. Die ganze Zeit über hatten die Farmer, die sich nie scheuten, ihren Ju/’Hoansi-Arbeitern mit der Peitsche jeden Müßiggang auszutreiben, sich jeden Sonntag frei genommen.
Der Missionar schilderte den Versammelten, wie der Herrgott Adam und Eva eingeschärft hatte, den Garten Eden zu pflegen, und wie danach die Schlange die beiden verführt hatte, eine Todsünde zu begehen, woraufhin der Allmächtige «die Erde verflucht» und die Söhne und Töchter Adams und Evas zu lebenslanger Feldarbeit verurteilt hatte.
Diese Geschichte aus der Bibel leuchtete den Ju/’Hoansi eher ein als viele andere, die sie von Missionaren gehört hatten – nicht nur weil sie alle wussten, wie sich die Versuchung anfühlte, mit einer Person zu schlafen, mit der sich das nicht gehörte. Sie sahen darin eine Parabel ihrer eigenen jüngeren Geschichte. Alle älteren Ju/’Hoansi in Skoonheid konnten sich an die Zeit erinnern, als dieses Land ihnen allein gehört hatte und sie einzig und allein davon gelebt hatten, wilde Tiere zu jagen und wild wachsende Früchte, Knollen und Gemüse zu sammeln. Sie wussten noch sehr gut, dass die Halbwüste, die ihre Heimat war, wie der Garten Eden ein stetiges (wenn auch launisches) Füllhorn war und ihnen fast immer genug zu essen lieferte, wenn sie dafür, oft kurz entschlossen, ein paar Stunden aufwandten. Manche von ihnen vermuteten jetzt, dass vielleicht sie selbst irgendeine Todsünde begangen hatten, wonach dann ab den 1920er Jahren weiße Farmer und uniformierte Kolonialpolizei – erst wenige, dann eine anschwellende Flut – in die Kalahari gekommen waren, mit Pferden, Schusswaffen, Wasserpumpen, Stacheldraht, Rindern und seltsamen Gesetzen, und das ganze Land für sich in Besitz genommen hatten.
Die weißen Farmer hatten schnell gemerkt, dass Viehzucht in einer so landwirtschaftsfeindlichen Region wie der Kalahari nur unter Einsatz vieler Arbeitskräfte funktionieren konnte. Sie stellten Kommandos auf, die Jagd auf die «wilden» Buschmänner machten, um sie zur Sklavenarbeit zu zwingen, nahmen Kinder der Buschmänner als Geiseln, um den Gehorsam der Eltern zu erzwingen, und veranstalteten regelmäßige Auspeitschungen, um ihnen die «Tugenden harter Arbeit» beizubringen. Ihrer traditionellen Lebensgrundlagen beraubt, lernten die Ju/’Hoansi, dass sie, wie Adam und Eva, für die weißen Farmer schuften mussten, um zu überleben.
30 Jahre lang fanden sie sich mit diesem Dasein ab. Als aber Namibia 1990 seine Unabhängigkeit von Südafrika erlangte, hielt der technische Fortschritt Einzug, mit der Folge, dass die Rinderfarmen produktiver wurden und in zunehmend geringerem Maß auf menschliche Arbeitskräfte angewiesen waren. Als die Regierung von den Farmern verlangte, sie müssten ihre Arbeiter fest anstellen, ihnen marktübliche Löhne zahlen und sie anständig unterbringen, jagten viele Rinderfarmer ihre Leute einfach davon. Aus ihrer Sicht war es sehr viel wirtschaftlicher und sehr viel weniger Ärger verheißend, Geld in die Anschaffung der richtigen Maschinen zu investieren und den Betrieb mit möglichst wenig Personal weiterzuführen. Vielen Ju/’Hoansi blieb daraufhin kaum etwas anderes übrig, als ihr Lager an irgendeinem Straßenrand aufzuschlagen, an der Peripherie eines der weiter nördlich gelegenen Herero-Dörfer ein Stück Boden zu beackern oder sich in einem der zwei kleinen Reservate («Resettlement Areas») einzuquartieren, wo es wenig mehr zu tun gab, als herumzusitzen und auf die nächste Proviantlieferung zu warten.
An diesem Punkt verlor die Geschichte vom Sündenfall für die Ju/’Hoansi viel von ihrem Sinn. Denn wenn sie, wie Adam und Eva, vom lieben Gott zu lebenslanger schwerer Feldarbeit verurteilt worden waren, weshalb waren sie dann jetzt von ihren Farmern, die ihnen sagten, sie hätten keine Arbeit mehr für sie, vom Feld gejagt worden?
Sigmund Freud war der Überzeugung, alle Mythen unserer Welt – auch die biblische Erzählung von Adam und Eva – bärgen in sich den Geheimschlüssel zum Verständnis unserer «psychosexuellen Entwicklung». Dagegen vertrat sein Kollege und Rivale Carl Gustav Jung die These, Mythen seien nichts weniger als die destillierte Essenz des «kollektiven Unbewussten» der Menschheit. Und für Claude Lévi-Strauss, den geistigen Leuchtturm eines großen Teils der Sozialanthropologie des 20. Jahrhunderts, bildeten die gesammelten Mythologien unserer Welt zusammengenommen ein großes und unübersichtliches Rätselbild, das, wenn es sich richtig entschlüsseln ließe, die «Tiefenstrukturen» der menschlichen Psyche ...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2021 |
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Übersetzer | Karl Heinz Siber |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Allgemeines / Lexika |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Arbeit • Corona • Evolution • Geschichte • Gesellschaft • Homo sapiens • Krise • Leben • Menschen • Menschheit • Muße • Natur • Produktivität • Sinn • Umwelt |
ISBN-10 | 3-406-76549-1 / 3406765491 |
ISBN-13 | 978-3-406-76549-0 / 9783406765490 |
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