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Von der Orthodoxie zur Pluralität - Kontroversen über Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse (eBook)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
84 Seiten
Vandenhoeck & Ruprecht Unipress (Verlag)
978-3-647-90138-1 (ISBN)

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Von der Orthodoxie zur Pluralität - Kontroversen über Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse -  Werner Bohleber
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Psychoanalyse war nie eine monolithische Wissenschaft. Freud hatte seine Erkenntnisse zwar immer wieder ausgeweitet, revidiert und präzisiert, er hat aber an einer einheitlichen Theorie festgehalten. Die frühen Kontroversen mündeten oft in einen Streit um die Reinheit der Lehre, wodurch die Psychoanalyse in einer Orthodoxie zu erstarren drohte. Aus diesen Verhältnissen heraus hat sich die Psychoanalyse in den letzten fünfzig Jahren zu einer Wissenschaft entwickelt, die den Pluralismus ihrer Theorien akzeptiert. Der Autor zeichnet die Kontroversen um zentrale Konzepte und Schlüsselbegriffe nach, betont aber, dass die Psychoanalyse Asueinandersetzungen und die Suche nach Kohärenz braucht, damit nicht unvereinbare Positionen nebeneinander stehen bleiben.

Dr. phil. Werner Bohleber ist Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt a. M. sowie Lehranalytiker der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV).

Dr. phil. Werner Bohleber ist Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt a. M. sowie Lehranalytiker der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV).

Teil II:Die Bedeutung von Kontroversen bei der Entwicklung zentraler psychoanalytischer Konzepte

Im zweiten Teil möchte ich weitere Konzepte der Psychoanalyse darstellen und dabei aufzeigen, wie sich in ihrer geschichtlichen Entwicklung durch Schwerpunktverschiebungen und durch die zunehmende Erfassung der intrinsischen Komplexität psychischer Prozesse kontroverse Positionen manifestiert haben und wie diese entweder aufgelöst werden konnten oder sich verfestigt haben. Ich habe vier Begriffe dafür ausgewählt: das Unbewusste, die Übertragung, die Gegenübertragung sowie das Trauma.

1Das Konzept des Unbewussten

Die Konzeption des Unbewussten bei Sigmund Freud

Angesichts des Pluralismus psychoanalytischer Theoriesysteme verwundert es nicht, dass wir heute bei einem so zentralen Konzept wie dem Unbewussten ganz unterschiedliche Auffassungen vorfinden. Das Unbewusste ist ein abstraktes Konzept, wir können es empirisch nie direkt erfassen, sondern immer nur erschließen. Die Annahme, dass das Seelenleben im Wesentlichen unbewusst abläuft, bildet die fundamentale Grundannahme der Psychoanalyse. Freud schreibt 1900 in der »Traumdeutung«: »Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (1900a, S. 617 f.). Den Kern des Unbewussten bilden für Freud die Triebrepräsentanzen. Sie wiederum formen sich zu Phantasien und imaginären Szenerien, die bildhafte Darstellungen des Wunsches sind.

Mit der Einführung der Strukturtheorie im Jahr 1923 verlor für Freud die Trennung der psychischen Systeme entlang der Achsen von bewusst und unbewusst ihren fundamentalen Charakter. Da ein beträchtlicher Teil des Ichs unbewusst funktioniert, fallen unbewusste Vorgänge nicht mehr mit dem Verdrängten zusammen. Freud sah sich genötigt, neben dem Vorbewussten, das nur deskriptiv unbewusst ist und dem verdrängten Unbewussten ein drittes nichtverdrängtes Unbewusstes anzunehmen. Der Charakter dieses Unbewussten war ihm aber zu vieldeutig. Auch scheint ihm Kopfzerbrechen bereitet zu haben, dass bestimmte Funktionen des Ichs unbewusst bleiben, war doch für ihn die Eigenschaft »bewusst oder nicht« »die einzige Leuchte im Dunkel der Tiefenpsychologie« (1923b, S. 245). Da ihm diese Leuchte hier fehlte, verlor er das Interesse am nichtverdrängten Unbewussten und ließ es beiseite. Das war eine folgenschwere Entscheidung. Denn dadurch blieben Freud und nach ihm Generationen von Psychoanalytikern dabei, sich nur mit dem verdrängtem Unbewussten zu befassen, das für sie therapeutisch allein relevant war. Erst nachdem in den 1990er Jahren durch die Kognitions- und Neurowissenschaften das implizit-prozedurale Unbewusste in die wissenschaftliche Diskussion kam, veränderte sich die Sachlage.

Verglichen mit Freuds Konzeption des Unbewussten hat sich unser heutiges Verständnis unbewusster Prozesse beträchtlich erweitert. Ich möchte es in vier funktional zu unterscheidende Arten des Unbewussten zusammenfassen, betone aber, dass es sich dabei nicht um voneinander abgegrenzte seelische Bereiche handelt, sondern um unbewusste Prozesse, die unterschiedliche Funktionen haben. Bei meiner Darstellung werde ich auch einige relevante Ergebnisse aus den Kognitions- und Neurowissenschaften mit einbeziehen.

Das psychodynamische Unbewusste

Drei zentrale Konzepte haben die Debatten um das psychodynamische Unbewusste bestimmt: die unbewussten Phantasien, der Primär- und Sekundärprozess sowie die Verdrängung. Wie divergent in der Psychoanalyse die Konzeptionen eines so zentralen Begriffs wie der unbewussten Phantasie sind, habe ich schon beschrieben. Ich konzentriere mich hier auf die Konzepte des Primär- und Sekundärprozesses und auf die Verdrängung.

a)Primärprozess und Sekundärprozess

Das primärprozesshafte Denken, vor allem gekennzeichnet durch die Mechanismen von Verschiebung und Verdichtung, ist für Freud das ursprüngliche Denken in der frühen Kindheit und im Unbewussten vorherrschend. Das sekundärprozesshafte Denken bildet sich erst später im Leben aus. Nach heutiger Forschung übernehmen ab dem siebten Lebensjahr das Realitätsprinzip und die sekundärprozesshaften Organisationsprinzipien – die Verneinung sowie das Gesetz des Widerspruchs – vollends die Kategorisierung bewussten und vorbewussten seelischen Geschehens.

Freud nahm an, dass die Bereiche von Primärprozess und Sekundärprozess eindeutig voneinander getrennt werden. Der Primärprozess war für ihn im Unbewussten, im Traum und in den wunscherfüllenden Phantasien wirksam. In dieser Auffassung folgen ihm heute noch viele Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen. Daneben hat sich aber eine konträre Sichtweise dieser seelischen Prozesse entwickelt. Sie sieht den Primärprozess nicht nur im Traum, sondern auch im Wachbewusstsein am Werke (Bion, Modell u.a.). Für Arnold Modell (2010, 2014) ist das primärprozesshafte Denken auf die Realität ausgerichtet, zieht aus Wahrnehmungen und Erfahrungen automatisch unbewusste bedeutungsgebende Schlüsse. Es arbeitet damit, Vorstellungen metaphorisch zu verdichten und metonymisch zu verschieben. Evolutionspsychologisch ist für ihn der Primärprozess älter als der Sekundärprozess. Er ist adaptiv ausgerichtet und hat eine Überlebensfunktion. Sein Ziel ist, Gefahr und Schmerz zu vermeiden, und nicht so sehr, Lust zu suchen.

Unabhängig von diesen kontroversen Sichtweisen zählt die Psychoanalyse Primär- und Sekundärprozess als Organisatoren menschlichen Denkens nach wie vor zu ihren Grundannahmen. Auf dem Feld der Kognitionspsychologie und der kognitiven Neurowissenschaften finden sich nun in neuerer Zeit erstaunlich anschlussfähige Forschungsergebnisse, die im Sinne einer externalen Kohärenz diese Grundannahme unterstützen. So hat sich beispielsweise in der Kognitionswissenschaft eine Duale-Prozess-Theorie des Denkens etabliert. Am bekanntesten wurde Daniel Kahnemans Zwei-Systeme-Theorie des menschlichen Denkens (2011). Bei Kahneman bildet das assoziative Gedächtnis den Kern des sogenannten Systems 1. Das Denken im System 1 verläuft unwillkürlich und unbewusst. Es stellt eine implizite Interpretation dessen bereit, was uns widerfährt und was um uns herum geschieht. System 1 ist die Quelle unserer raschen und oftmals präzisen intuitiven Urteile. System 2 dagegen arbeitet langsamer, erfordert Aufmerksamkeit und konstruiert in geordneten Schritten Gedanken. Es hat eine Kontrollfunktion und kann die ungezügelten Impulse und Assoziationen von System 1 verwerfen. Was Kahneman als System 1 und System 2 beschreibt, entspricht weithin der heutigen Reformulierung der Konzepte des Primärprozesses und des Sekundärprozesses in der Psychoanalyse.

b)Verdrängung

Das Konzept der Verdrängung ist für Freud der »Grundpfeiler, auf dem das Gebäude der Psychoanalyse ruht« (1914d, S. 54). Verdrängte Triebrepräsentanzen haben den Drang, an die Oberfläche des Bewusstseins zu gelangen. Damit setzen sie den gesamten psychischen Apparat unter Druck. Um erfolgreich zu sein, müssen sie sich mit bewusstseinsfähigen Vorstellungen verbinden. Sind diese für das Ich nicht akzeptierbar, verfallen sie wieder der Verdrängung. Klinische Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten haben nun gezeigt, dass nicht nur Triebwünsche die Verdrängung in Gang setzen können, sondern auch allerlei unangenehme Affekte. Die Verdrängung dient dabei nicht der Vermeidung von Unlust, sondern der Erhaltung des Narzissmus oder dem Bedürfnis nach Sicherheit (Sandler, 1961). Abgesehen von diesen Ergänzungen wird das freudsche Verdrängungskonzept heute viel grundsätzlicher infrage gestellt (Boag, 2012; Eagle, 2000, 2011; Mancia, 2006; Maze u. Henry, 1996; Modell, 2003, 2013; Talvitie u. Ihanus, 2002). Ich kann hier nur einige Kritikpunkte erwähnen.

Eine Paradoxie des freudschen Verdrängungskonzepts hat besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Paradox besteht darin, dass das Ich schon vor dem unbewusst verlaufenden Akt der Verdrängung eine Ahnung von der Bedrohlichkeit des Inhalts haben muss, um ihn verdrängen zu können. Dasselbe gilt für das unbewusste Denken selbst bzw. für den Zensor. Sie müssen ein Wissen davon haben, was für das Ich anstößig bzw. unbedenklich ist, bevor sie Ersatzbildungen formen, die ins Bewusstsein vordringen können. Oder anders ausgedrückt, es stellt sich die Frage, wie das Ich etwas wissen und es gleichzeitig nicht wissen kann. In der Forschung gibt es verschiedene Versuche, diese Paradoxie aufzulösen, ohne einem Zensor ein autonomes Bewusstsein zuerkennen zu müssen (Boag, 2012; Eagle, 2011; Maze u. Henry, 1996).

Für Freud vollziehen sich alle Verdrängungen in der frühen Kindheit. In dieser Zeit ist das Ich des Kindes nicht in der Lage, die Vorstellungs-Repräsentanzen des Triebes ins Bewusstsein zu übernehmen. Der quantitative Erregungsfaktor ist zu stark (Freud, 1926d). Sie verbleiben im Unbewussten und bilden den infantilen Kern des Verdrängten. Freud nennt diesen Vorgang die Urverdrängung. Alle spätere Verdrängung, die »eigentliche Verdrängung«, ist stets ein Nachdrängen. Freud vermutet, dass mit der Etablierung des Über-Ichs die Urverdrängung endgültig der eigentlichen Verdrängung Platz macht.

Freud hielt stets am Begriff der Urverdrängung fest. Er war für ihn wichtig, weil nach seinem Verständnis im Unbewussten etwas da sein musste, was eine Anziehung auf zu verdrängendes Material ausüben konnte. Das Konzept der Urverdrängung ist aber heute in der Psychoanalyse umstritten. Unabhängig davon ist jedoch ihr...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2019
Reihe/Serie Psychodynamik kompakt
Psychodynamik kompakt
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Freud • Freud, Sigmund • Historie • Orthodoxie • Pluralismus • Psychoanalyse • Psychodynamik • Psychodynamische Psychotherapie • Sigmund
ISBN-10 3-647-90138-5 / 3647901385
ISBN-13 978-3-647-90138-1 / 9783647901381
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