Alles unter dem Himmel (eBook)
266 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76196-0 (ISBN)
Zhao Tingyang gilt als einer der bedeutendsten chinesischen Philosophen der Gegenwart. Mit diesem Hauptwerk liegen nun seine Überlegungen zu einer neuen politischen Weltordnung erstmals in deutscher Übersetzung vor. Sie basieren auf dem alten chinesischen Prinzip des tianxia - der Inklusion aller unter einem Himmel. In Auseinandersetzung mit okzidentalen Theorien des Staates und des Friedens von Hobbes über Kant bis Habermas sowie unter Rückgriff auf die Geschichtswissenschaft, die Ökonomie und die Spieltheorie eröffnet uns Zhao einen höchst originellen Blick auf die Konzeption der Universalität. Ein wegweisendes Buch, auch um Chinas aktuelles weltpolitisches Denken zu verstehen.
<p>Zhao Tingyang ist Professor für Philosophie an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften in Peking.</p>
13Einführung Die Neudefinition des Politischen durch das Tianxia
Fragestellungen, Voraussetzungen und Methoden
1. Die Welt als politisches Subjekt
China ist eine Erzählung, Tianxia dagegen eine Theorie.
Wohin man auch blickt, ergreift die Globalisierung alle Bereiche sämtlicher Weltregionen und gestattet keine Räume für eine unbeschwerte Existenz außerhalb. Vernachlässigen wir diesen neuen politischen Kontext, sind wir schwerlich in der Lage, Aussagen über die Gegenwart zu treffen. Die Globalisierung bringt nicht nur Veränderungen in politischer Hinsicht mit sich, sondern Veränderungen im Existenz-Modus der Welt. Bei der Vorausschau auf die zukünftige Welt benötigen wir eine ihr entsprechende Daseinsordnung (order of being), eine Ordnung, welche die Inklusion der Welt realisiert. Das ist es, was ich als das System des »Alles unter dem Himmel« (Tianxia) bezeichne. Ohne Frage ist Tianxia ein Begriff der chinesischen Antike, aber kein Begriff, der sich speziell auf China bezieht, die darin aufgeworfenen Fragen reichen weit über China hinaus, es sind universelle Fragen der gesamten Welt. Tianxia verweist auf eine »Welt der Weltheit« (a world of worldness). Begreift man Tianxia als einen dynamischen Prozess, dann bedeutet er die »Verweltlichung der Welt« (the worldlization of the world). Das Zhou-zeitliche System des Tianxia gehört der Vergangenheit an, der bis heute lebendige Begriff des Tianxia dagegen ist eine Idee für die Zukunft der Welt. Auch wenn wir die Zukunft nicht kennen, dürfen wir nicht schweigen, was bedeutet, dass wir uns über eine universell positive Weltordnung Gedanken machen müssen.
Das Konzept internationaler Politik, definiert durch die Modelle des Nationalstaaten-Systems, des Imperialismus und des Hegemonialstrebens, gerät allmählich in Widerspruch zu den Tatsachen der Globalisierung. Falls es nicht zu einer Umkehrung der Globalisierung kommt, werden die Nationalstaaten als höchste Machtinstanz und die damit verbundenen Spiele der internationalen Politik früher oder später der Vergangenheit angehören. Die sich abzeichnende Zukunft wird einer die Moderne hinter sich las14senden globalen Macht der Netzwerke und einer globalen Politik gehören.
Das Konzept des Tianxia zielt auf eine Weltordnung, worin die Welt als Ganzes zum Subjekt der Politik wird, auf eine Ordnung der Koexistenz (order of coexistence), welche die ganze Welt als eine politische Entität betrachtet. Die Welt unter dem Aspekt des Tianxia zu begreifen, bedeutet, die Welt als Ganzes zum gedanklichen Ausgangspunkt der Analyse zu machen, um eine der Realität der Globalisierung adäquate politische Ordnung entwerfen zu können. Die vergangene und gegenwärtig fortbestehende Dominierung der Welt durch Imperialmächte beruht auf dem Konzept des Staates und des nationalen Interesses. Diese Mächte hoffen auf den Fortbestand einer vom Imperialismus dominierten Welt und betrachten alles, was sich nicht an deren Aufteilung beteiligt, als zu dominierenden »Rest der Welt« (the rest of the world ). Die imperialistische Weltanschauung betrachtet die Welt als Objekt der Unterwerfung, Beherrschung und Ausbeutung und keinesfalls als politisches Subjekt. »Die Welt zu reflektieren« und »ausgehend von der Welt zu reflektieren«, sind zwei völlig konträre Grammatiken des Denkens, erstere begreift die Welt als Objekt, letztere als Subjekt. Für die politische Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, »als Welt zu existieren« (to be or not to be a world ), ist das entscheidend. Ausgangspunkt der Methodologie des Tianxia ist es, die Welt als politisches Subjekt zu betrachten. Diese Methodologie findet sich sowohl im Guanzi (管子) als auch bei Laozi (老子, 571-471 v. Chr.): »Behandle die Welt (Tianxia), wie es sich für die Welt (Tianxia) geziemt« (Guanzi),1 bzw. »Nach dem Charakter der Welt (Tianxia) beurteile die Welt (Tianxia)« (Laozi).2 Das bedeutet, Weltpolitik muss unter einem größeren Gesichtswinkel als dem des Staates verstanden werden, die Welt als Ganzes muss als Maßstab der Definition politischer Ordnung und politischer Legitimität dienen.
Die Welt als Maßstab für das Verstehen der Welt als einer Gesamtheit politischer Existenz ist das Prinzip des »Tianxia kennt kein Außen«,3 was bedeutet, dass das Tianxia die größte denkbare, jede Art politischer Existenz einschließende politische Welt bezeichnet. Das Prinzip des »Tianxia ohne Außen« stützt sich auf folgende metaphysische Begründung: Da der Himmel die Gesamtheit alles Existierenden umfasst, muss auch »Alles unter dem Himmel« die Gesamtheit des Existierenden umfassen, nur so entspricht es 15dem Himmel. Das ist mit dem Satz: »Der Himmel beschirmt alles gleichermaßen ohne eigennützige Bevorzugung, die Erde trägt alles gleichermaßen ohne eigennützige Bevorzugung«4 gemeint. Das Prinzip des »Tianxia kennt kein Außen« setzt apriorisch (transcendentally) die Welt als politisch Ganzes voraus, das System des Tianxia kennt daher nur ein Innen und kein Außen und lässt damit die Begriffe des »außenstehenden Fremden« und »Feindes« verschwinden: Keine Person kann als untolerierbarer Außenstehender, kein Staat, keine Nationalität und keine Kultur als antagonistischer Feind angesehen werden. Alle Staaten und Gebiete, die sich noch nicht dem System des Tianxia angeschlossen haben, sind eingeladen, der Ordnung der Koexistenz des Tianxia beizutreten. Theoretisch betrachtet, umschließt das Konzept des Tianxia apriorisch die Welt als Ganzes, in der Praxis existiert es noch nicht. Das Tianxia-System der Zhou-Dynastie vor 3000 Jahren war zwar nur ein regional begrenztes Experiment, doch demonstrierte es als Praxismodell, wie das Konzept des Tianxia Äußeres in Inneres umwandelt. Darin besteht das wichtigste Erbe des antiken Tianxia.
Wenn nun das Konzept des Tianxia verspricht, alles Äußere in Inneres umzuwandeln, dann schließt es logischerweise die Konzepte des unversöhnbaren Todfeindes, des absoluten ideologischen bzw. spirituellen Gegners und damit auch das des Heidentums aus. Damit steht es im Gegensatz zu monotheistischen Denkmustern. Auch wenn das Christentum in Europa heute zu einer Art spirituellem Symbol regrediert ist und keine Lebensform mehr darstellt, beeinflusst das Konzept des Heidentums als verfestigtes Denkmuster noch immer die politischen und kulturellen Narrative. Das Fehlen von Abweichlern oder Feinden bedeutet für die westliche Politik offenbar den Kompassverlust, bis hin zum Verlust von Leidenschaft und Motivation. Carl Schmitt ist ein Vertreter dieses auf der klaren Unterscheidung von Freund und Feind und eines Lebens in ewig fortdauerndem Kampf beruhenden Konzepts des Politischen.5 Gleichgültig, ob es sich um den Kampf des Christentums gegen das Heidentum oder den innerchristlichen Kampf gegen Häresien, ob es sich um das Hobbes’sche »Gesetz des Dschungels« oder die marxistische Theorie des Klassenkampfes handelt, ob es sich um die auf dem System der Nationalstaaten beruhende Theorie internationaler Politik oder um Huntingtons »clash of civilisations« handelt, alle diese Auffassungen von Kampf stehen mit dem politischen 16Freund/Feind-Konzept in engem Zusammenhang. Im Gegensatz dazu beruht das Tianxia-Konzept auf der Annahme, dass es die Möglichkeit geben muss, auf irgend eine Art und Weise jeglichen Anderen in die Ordnung der Koexistenz zu integrieren und auf der Basis gegenseitigen Respekts zu koexistieren. Jede außenstehende Existenz wirft daher die Frage ihrer Integration auf, sie ist kein Objekt der Unterwerfung.
In der Gegenüberstellung der politischen Positionen des antagonistischen Kampfes und der Umwandlung des Äußeren in Inneres wird der philosophische Dissens zwischen zwei Konzepten des Politischen sichtbar. Ich versuche zu zeigen, dass das Konzept des antagonistischen Kampfes keineswegs Ausdruck wahrer Politik ist, sondern Konflikt und Krieg bedeutet. Konflikt und Kampf gehören zu den grundlegenden Fakten der Menschheit. Aber wenn Politik sich darin erschöpft, zu erforschen, wie man...
Erscheint lt. Verlag | 20.1.2020 |
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Übersetzer | Michael Kahn-Ackermann |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Östliche Philosophie |
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ISBN-10 | 3-518-76196-X / 351876196X |
ISBN-13 | 978-3-518-76196-0 / 9783518761960 |
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