Die Raserei der Gemeinen (eBook)
325 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44084-2 (ISBN)
Helmut Hinck, Dr. phil., war wiss. Mitarbeiter an der Universität Bielefeld.
Helmut Hinck, Dr. phil., war wiss. Mitarbeiter an der Universität Bielefeld.
Inhalt
Einleitung 7
Stand der Forschung 11
Verfügbare Quellen 17
Methodische Grundlagen 23
Chronologischer Abriss 30
1. Themen und Motive: Das inhaltliche Spektrum des Protests 37
1.1 Freiheit, Selbstbestimmung und das soziale Gefüge 38
1.2 Unrecht, Korruption und die Autorität der Gerichte 50
1.3 Feudale Verpflichtungen und die Steuern des Königs 59
1.4 Regierung, Politik und die Amtsführung der Oberen 68
1.5 Privilegien und der Ausbau rechtlicher Bevorzugung 76
1.6 Der hohe Klerus und die geistliche Hoheit der Kirche 84
1.7 Preise, Löhne und die Regulierung des Wirtschaftens 91
1.8 Der Protest und die horizontalen Konflikte seiner Zeit 96
2. Erscheinungsformen: Art und Dynamik der Protestäußerung 105
2.1 Die einleitende Kollektivierung der Protestakteure 105
2.2 Mobilisierung durch Signale, Agitation und Zwang 115
2.3 Die Demonstration als eigentliche Protestäußerung 123
2.4 Widerstand gegen obrigkeitliche Exekutivmaßnahmen 131
2.5 Aufständische Angriffe und die Ausübung von Gewalt 139
2.6 Die spezifische Dynamik popularer Protestbewegungen 154
3. Duldsamkeit und Repression: Die Antwort der Herrschenden 163
3.1 Die Instanzen der obrigkeitlichen Protestrepression 163
3.2 Von Zugeständnissen bis zur gewaltsamen Gegenwehr 171
3.3 Die Befriedung des Protests durch Gebote und Gewalt 178
3.4 Die gerichtliche Verfolgung popularer Protestakteure 188
3.5 Maßnahmen zur Prävention gegen zukünftigen Aufruhr 201
3.6 Die Reizschwellen der Herrschenden im Wandel der Zeit 211
4. Protestkommunikation: Zeitgenössische Diskurse des Protests 221
4.1 Die Praxis und Modalitäten der Protestkommunikation 221
4.2 Aufständische Programme und die Debatten der Eliten 234
4.3 Das Ringen um zentrale Kategorien des Politischen 245
4.4 Chronikalische Repräsentationen des Popularprotests 262
Schlussbetrachtung 281
Quellen und Literatur 291
Archivalien 291
Gedruckte Quellen 292
Forschungsliteratur 297
Danksagung 325
Einleitung 'Nicht ohne Mühe haben wir das Vorhergehende ge- schrieben, eine tragische Geschichte zur Warnung der Nachwelt vor der Herrschaft der Bauern, der Raserei der Gemeinen und dem Irrsinn der Hörigen.' Thomas Walsingham Anfang Juni 1438 erhielt William Curteys, Vorsteher der mächtigen Benediktinerabtei Bury St. Edmunds, einen Brief von seinem König Heinrich VI. Das Schreiben war mit dem privaten Siegel des Herrschers beglaubigt und berichtete von einer großen Zahl irregeleiteter Personen, die sich wenige Tage zuvor in der Grafschaft Kent zusammengerottet hätten. Ziel des Aufruhrs sei es gewesen, soviel Schaden wie möglich anzurichten und die gesamte politische Ordnung des Landes auf den Kopf zu stellen: 'Die fehlgeleiteten Männer diverser Grafschaften dieses unseres Landes, und insbesondere der Grafschaft von Kent, ebenso wie Lollarden und andere Räuber und Plünderer unseres Volkes, versammelten sich in großer Zahl und in aufrührerischer Weise in der genannten Grafschaft von Kent, um den größtmöglichen Schaden anzurichten und alle politische Herrschaft dieses unseres Landes umzukehren.' Zahlreiche Beteiligte seien mittlerweile verhaftet worden - darunter auch ein Ritter namens Nicholas Conway, den man zum Anführer habe machen wollen. Die Krone habe dabei auch erfahren, dass es nicht weit von der Abtei in der Grafschaft Cambridgeshire zu ganz ähnlichen Umtrieben kommen könne. Der Abt solle darum besonders wachsam sein und alles in seiner Macht Stehende tun, um derartige Zusammenrottungen zu verhindern und den üblen Plänen der Aufrührer zu widerstehen. Die in diesem Brief beschriebenen Ereignisse sind nur eines von hunderten Beispielen dafür, dass sich Unzufriedenheit in der spätmittelalterlichen Bevölkerung jederzeit auch in offenem Protest entladen konnte. Im vorliegenden Fall bleibt leider vieles im Dunkeln. So wird nicht wirklich ersichtlich, um was es den Beteiligten hier eigentlich ging. Den Aufrührern werden weitreichende Umsturzpläne zugeschrieben, was vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der junge König erst vor kurzem seine Regentschaft angetreten hatte, durchaus aufhorchen lässt. Derart radikale Absichten wurden in dieser Zeit allerdings fast jedem Aufständischen nachgesagt und waren darum wohl auch kaum mehr als nur die üblichen Floskeln. Der Verweis auf die 'Lollarden', eine diffuse vorreformatorische Bewegung in der Folge des Theologen John Wyclif, könnte indessen auf eine kirchenkritische Stoßrichtung des Protests hindeuten. Doch auch diese Zuschreibung wurde inflationär verwendet und ist deshalb nur sehr eingeschränkt dazu geeignet, die in dem Brief beschriebenen Geschehnisse näher zu beleuchten. Besonders viel scheinen die Aufrührer im Frühsommer 1438 ohnehin noch nicht angestellt zu haben. Soweit sich dies sagen lässt, bestanden die Unruhen in erster Linie aus aufständischen Versammlungen im südlichen Kent, an denen durchaus auch Personen aus anderen Grafschaften teilgenommen haben könnten. Den Zusammenkünften muss freilich einiges an Agitation und Planung vorausgegangen sein, ja man soll sich dem königlichen Brief zufolge auch schon einen Anführer ernannt haben. Ob der dafür ausersehene Ritter an der Verschwörung beteiligt war oder zur Teilnahme gezwungen wurde, wie es in Aufständen ja nicht unüblich war, kann nicht mehr beantwortet werden. Sicher ist demgegenüber, dass die Obrigkeit frühzeitig Wind von der Sache bekam und mit aller Härte gegen die Beteiligten vorging. Wie wir aus anderen Quellen wissen, wurden wohl kurz nach Abfassung des Briefes fünf Personen in aller Öffentlichkeit als Verräter hingerichtet, während andere mutmaßliche Aufrührer noch im November im Kerker auf ihre Verhandlung warteten. Über die befürchteten Unruhen in Cambridgeshire, vor denen der König in seinem Schreiben gewarnt hatte, wird nichts Neues mehr berichtet. Diese bruchstückhafte Überlieferung der Geschehnisse ist tatsächlich nicht ungewöhnlich für spätmittelalterliche Unruhen. Zwar gibt es auch in England einige spektakuläre Erhebungen, die wie der Bauernaufstand von 1381 oder die kentische Rebellion von 1450 vergleichsweise gut dokumentiert und erforscht sind, über das Gros gerade der kleineren Protestausbrüche ist in der Regel aber nur wenig bekannt. Das Bild des Protests im späten Mittelalter ist deshalb auch fast ausschließlich von den Großrevolten geprägt. Der vorherrschende Fokus allein auf die großen Erhebungen ist aus mehreren Gründen problematisch. So wird die Häufigkeit der Protestäußerung durch die Bevölkerung stark unterschätzt. Auch abseits der großen Revolten kam es immer wieder zu kollektiven Aktionen, wie nicht zuletzt das kaum bekannte Beispiel von 1438 zeigt. Dass die Aktionen zumeist örtlich begrenzt blieben und nicht selten schon im Keim erstickt werden konnten, sagt dabei nur wenig über die allgemeine Bereitschaft aus, den Unmut über bestehende Missstände auch offen zu äußern. Darüber hinaus entsteht ein falscher Eindruck vom Charakter und von der Dynamik des Protests. Das Vorgehen war in der Regel weit mehr in die alltägliche Konfliktkultur eingebunden als die spektakulären Aktionen in den Großrevolten nahelegen. Es geht daher auch an der spätmittelalterlichen Realität vorbei, wenn die Hemmschwelle für offenen Widerspruch besonders hoch angesetzt wird und man Unruhen in erster Linie als einen Dammbruch begreift, bei dem sich der lange zurückgehaltene Unmut der Bevölkerung mit einem Mal massivst entlädt. Die vorliegende Studie will diesem verzerrten Bild entgegentreten und die Vielfalt und Komplexität des Protests im spätmittelalterlichen England herausarbeiten. Sie fragt nicht nur nach den großen Bewegungen auf der nationalen Bühne, sondern nimmt auch den alltäglichen Protest abseits der überlokalen Revolten mit in den Blick. Dabei ist es gerade auch von Interesse, wie dies beides zusammenhing und sich gegenseitig beeinflusste. Im Vordergrund der Untersuchung steht das Aufbegehren der einfachen Bevölkerung, das im Folgenden als 'popularer Protest' bezeichnet werden soll. Die Erhebungen des Adels stehen nicht mit im Fokus, auch wenn eine eindeutige Abgrenzung vom Popularprotest nicht immer gelingen will. Die Arbeit konzentriert sich desweiteren auf den Protest, der außerhalb des von der Obrigkeit eingerichteten Rechtssystems zum Ausdruck kam. Der Rechtsweg scheint für die Zeitgenossen ohnehin nur eines von mehreren Mitteln zur Interessensdurchsetzung gewesen zu sein und konnte daher durchaus auch von einem extralegalen Vorgehen flankiert werden. Als zeitlicher Rahmen für die Untersuchung ist grob die Periode von der Krönung Richards II. im Sommer 1377 bis zum Ausbruch der Rosenkriege knapp achtzig Jahre danach angesetzt. Dieser Abschnitt wird nicht nur von den beiden größten Erhebungen des englischen Spätmittelalters eingerahmt, sondern umfasst auch einige fundamentale sozio-ökonomische Veränderungen in der Geschichte des Königreichs. Der populare Protest der gewählten Periode soll in der vorliegenden Arbeit nun aus vier verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. In einem ersten Abschnitt der Untersuchung werden die spezifischen Themen des Popularprotests in den Blick genommen. Der Protest hatte im untersuchten Zeitraum eine ausgesprochen große inhaltliche Bandbreite, die in absteigender Bedeutung vom sozialen Gefüge bis zu den Preisen und Löhnen reichte. Im eingangs beschriebenen Fall deuten die Quellen einen antiklerikalen und vielleicht auch politischen Hintergrund an. Die Themen überlagerten sich sehr häufig und in vielen Fällen lässt sich der Protest auch nicht eindeutig von den Konflikten und Machtkämpfen seiner Zeit abgrenzen. Ein zweites Kapitel der Arbeit beschäftigt sich mit den Formen des Protests im Untersuchungszeitraum. Unabhängig von den zugrundeliegenden Inhalten kann dabei eine Reihe von generellen Handlungsmustern herausgearbeitet werden, die immer wieder bei Protestausbrüchen zu beobachten sind. Bei dem Aufruhr von 1438 scheint sich das aufständische Handeln auf Versammlungen und die Wahl eines Kapitäns beschränkt zu haben. Die rekonstruierbaren Handlungsformen stellten den idealtypischen Verlauf einer Aufstandsbewegung dar und waren in eine spezifische Dynamik der Protesteskalation eingebunden. Nach dem Protest selbst nimmt die vorliegende Arbeit dessen Repression durch die Obrigkeit in den Blick. Im dritten Kapitel wird daher nach den beteiligten Instanzen gefragt und die Abwehr, Befriedung und Verfolgung popularer Protestaktionen nachgezeichnet. Der Aufruhr in Kent wurde von der Regierung entschlossen und zügig niedergeschlagen und schon nach wenigen Tagen ließ man fünf der Beteiligten öffentlich als Verräter hinrichten. Solche abschreckenden Strafen dienten dabei vor allem der Prävention gegen weitere Unruhen, sie werfen zugleich aber auch die Frage auf, wie niedrig die Schwelle der obrigkeitlichen Reizbarkeit war. Als vierten Aspekt des Popularprotests beleuchtet die Untersuchung schließlich seine zeitgenössischen Diskurse. Thematisiert wird dabei nicht nur die Kommunikation im Rahmen des Protests und seiner Repression, sondern auch die nachfolgende Diskussion um die Pläne und Motive der beteiligten Akteure. Den Aufrührern von 1438 etwa wird unterstellt, dass sie das ganze Land ins Chaos hätten stürzen wollen. Zum Ende will die vorliegende Arbeit dann aufzeigen, wie um die richtige Deutung des Geschehenen gerungen wurde und in welcher Weise sich dies auch auf die Darstellung in der zeitgenössischen Chronistik niederschlug. Stand der Forschung Eine Studie zum popularen Protest im englischen Spätmittelalter kann ohne Zweifel auf eine breite Forschungsgrundlage zurückgreifen. Diese umfasst sowohl die allgemeine Geschichte der Epoche als auch die Untersuchung der vormodernen Protestgeschichte. Darüber hinaus ist in den letzten Jahren eine neue Art von Politikgeschichte aufgekommen, die ganz gezielt auch die Rolle der einfachen Bevölkerung mit in den Blick nimmt. Die vorliegende Arbeit nutzt die Ergebnisse aus diesen Bereichen und führt viele der Befunde in einer systematischen Analyse des spätmittelalterlichen Popularprotests zusammen. Das englische Spätmittelalter kann insgesamt als eine relativ gut erforschte Epoche gelten. Es gibt zahlreiche Studien zur allgemeinen Geschichte dieser Zeit, die für eine Untersuchung des Popularprotests von Bedeutung sind. Umfassende Überblickswerke liegen dabei schon vom Beginn des letzten Jahrhunderts vor. Wie Trevelyans Age of Wycliffe suchen sie die Entwicklungen und Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven in den Blick zu nehmen und sind als Einstieg in die spätmittelalterliche Geschichte noch immer unverzichtbar. Zu den Königen des untersuchten Zeitraums findet sich zudem eine Reihe von Biographien, in denen auch die Geschichte des Landes ausführlich mit dargestellt wird. Da hier aber die Person des Herrschers im Mittelpunkt steht, liegt der Fokus dieser Darstellungen sehr stark auf der großen Politik. Eine ganz ähnliche Herangehensweise hat die klassische Politik- und Kriegsgeschichte, denn auch dort steht meist das Handeln der Herrschenden im Vordergrund der Betrachtung. Auf die Entwicklung der politischen und rechtlichen Institutionen schauen demgegenüber verfassungsgeschichtliche Studien. Stubbs' berühmte Constitutional History ist hier noch immer als Standardwerk zu nennen, auch wenn einige seiner Prämissen mittlerweile als überholt gelten können. Die Rechts- und Kriminalitätsgeschichte des englischen Spätmittelalters ist vor allem von den Arbeiten Professor Bellamys geprägt. Sie beschreibt nicht nur die Gesetze und Normen der Zeit, sondern nimmt auch die Praxis des Rechts mit in den Blick. Über die eher obrigkeitlich ausgerichtete Forschung hinaus gibt es schließlich noch eine starke Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte zu der untersuchten Periode. Wie die vorliegende Arbeit widmet sich diese gerade auch den Belangen der einfachen Bevölkerung und liefert damit den nötigen Hintergrund für eine Untersuchung des Popularprotests der Zeit. Gesondert zu nennen sind dabei die zahlreichen Studien zur Stadt- und Agrargeschichte, die sich auf die ja durchaus unterschiedlichen Lebenswelten der spätmittelalterlichen Menschen konzentrieren. In all den hier bislang angeführten Forschungsrichtungen werden in der Regel auch die bedeutenderen Unruhen und Revolten der untersuchten Epoche mit behandelt, allen voran natürlich die beiden großen Erhebungen von 1381 und 1450. Zwar sind dabei vielfach bloß die ohnehin schon bekannten Fakten zu lesen, immer wieder wird im Rahmen der Studien aber auch wertvolle Rekonstruktionsarbeit geleistet, ohne die eine so umfassende Zusammenschau, wie sie in der vorliegenden Untersuchung angestrebt ist, gar nicht erst möglich wäre. Auf die Ergebnisse der allgemeinen Mediävistik kann also in keinem Fall verzichtet werden. Mehr noch als die allgemeine Geschichtsschreibung ist für die hier vorgelegte Arbeit aber die historische Protestforschung von Bedeutung. Besonders die Bauernrevolte von 1381 ist schon häufig untersucht worden. Der Aufstand rückte bereits zum Ende des 20. Jahrhundert ins Zentrum des historiographischen Interesses, denn die Erschließung neuer Quellenbestände im Public Record Office ermöglichte erstmals auch detaillierte Studien zum Ablauf der Revolte. Mit Einschränkungen können diese Texte noch heute als Standardwerke gelten. Großen Einfluss auf die Erforschung der Revolte übte seit Beginn der 1950er Jahre der neomarxistische Historiker Rodney Hilton aus, der seine wichtigste Arbeit zu dem Thema im Jahr 1973 veröffentlichte. Das darin zum Ausdruck kommende allgemeine Interesse der Zeit an historischen Bauernrevolten spiegelt sich auch in den ländervergleichenden Studien von Mollat & Wolff, Fourquin sowie Landsberger wieder. Als sich die Erhebung 1981 dann zum 600. Mal jährte, wurde anlässlich dieses Jubiläums eine Reihe von Konferenzen abgehalten und besonders die Erforschung der lokalen Ebene wiederbelebt. Eine umfassende Untersuchung der relevanten Rechtsquellen legte 1984 Andrew Prescott vor, während von Nicholas Brooks und Christopher Dyer Studien zu den Organisationsformen und dem sozialen Hintergrund der Rebellen erschienen. Ende der 1980er Jahre geriet der Aufstand zudem in den Fokus des sogenannten New Historicism. Autoren wie Paul Strohm und Steven Justice suchten vor allem die entstellende Berichterstattung durch die Zeitgenossen zu dekonstruieren und nahmen die erhaltenen Quellen aus einer dezidiert literaturwissenschaftlichen Perspektive in den Blick. Als beste Gesamtdarstellung der Revolte kann noch immer Herbert Eidens gründliche Rekonstruktion aus dem Jahr 1995 gelten; die vor Kurzem erschienene Monographie von Juliet Barker ist zwar durchaus brauchbar, richtet sich aber eher an ein breites Publikum. Im Vergleich zu dieser breiten Forschungslage zur sogenannten Bauernrevolte ist der zweite große Aufstand des Untersuchungszeitraums, die Rebellion von 1450, fast schon stiefmütterlich behandelt worden. Zwar gab es auch hierzu schon Ende des 19. Jahrhunderts eine grundlegende Studie, danach erschien dann aber für fast neunzig Jahre so gut wie nichts mehr über die kentische Erhebung. Erst mit dem ausführlichen Kapitel in Griffiths' Reign of Henry VI geriet die Revolte um Jack Cade wieder verstärkt in das Blickfeld der Forschung und im Jahr 1991 legte Isabel Harvey schließlich die erste umfassende Rekonstruktion des Aufstandsgeschehens vor. In den letzten zwei Jahrzehnten sind vor allem spezifische Aspekte des Themas wie das Selbstverständnis der Rebellen oder ihre Darstellung in den Quellen beleuchtet worden. Abseits der beiden großen Revolten ist die Protestforschung des englischen Spätmittelalters zum einen von Fallstudien zu einzelnen Unruhen und Protestbewegungen geprägt. So hat etwa Peter McNiven zahlreiche Aufsätze über die Aufstände gegen Heinrich IV. veröffentlicht, während sich Margaret Aston wiederholt mit dem lollardischen Protest auseinandergesetzt hat. Zum anderen wurden aber auch immer wieder übergreifende Untersuchungen vorgelegt, die die Entwicklung des Protests aufzuzeigen versuchen. Hervorzuheben ist dabei insbesondere der Beitrag von Edmund und Natalie Fryde in der Agrarian History of England and Wales. Insgesamt bleiben die übergreifenden Studien aber stark auf die Großrevolten fixiert, so dass der Blick auf weitere Unruhen in der Zeit meist nur dazu genutzt wird, eine Brücke zwischen den Hauptereignissen von 1381 und 1450 zu schlagen. Eine umfassende Analyse des spätmittelalterlichen Popularprotests, die neben den überregionalen Aufständen auch die alltäglichen und lokalen Ausbrüche mit würdigt, ist deshalb noch immer weitgehend unerledigt. Von besonderem Interesse ist für die vorliegende Arbeit schließlich eine neue Art der Politikgeschichte, die in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Im Fokus steht dabei nicht mehr nur das Handeln der Mächtigen, sondern auch der Einfluss der sonstigen Bevölkerung. Das Politische wird hier eher als ein umkämpfter Diskursraum angesehen, in dem unterschiedliche Akteure um Teilhabe und die Durchsetzung ihrer Interessen ringen. Damit gerät auch die diskursive Interaktion der Herrschenden und der Beherrschten verstärkt in den Blick. Im angelsächsischen Raum hat sich in diesem Kontext der Begriff der 'Popularpolitik' (popular politics) etabliert. War die Protestforschung bislang vor allem auf die sozialen Konflikte zwischen den Herren und ihren Untertanen fixiert, so werden die einfachen Leute laut Whittle und Rigby inzwischen als eigenständige politische Akteure gesehen, die in der Regel zwar über keine formale politische Macht verfügten, ihre Interessen und Ideen aber dennoch auf vielfältige Weise auszudrücken vermochten. Populare Politik meint daher auch den Zugriff der breiten Bevölkerung auf den etablierten Raum des Politischen. Für den untersuchten Zeitraum im englischen Spätmittelalter kann John L. Watts zu den wichtigsten Vertretern der neuen Politikgeschichte gezählt werden. Ausgehend von Arbeiten zum Kronrat Heinrichs VI. hat er immer wieder auch den 'Druck der Öffentlichkeit auf die spätmittelalterliche Politik' in den Blick genommen, wie es im Titel eines Aufsatzes von 2004 heißt. Die Stärke seines Ansatzes liegt insbesondere darin begründet, dass er die Politik der Eliten mit der popularen Politik zusammenzubringen versucht. Der Protest der Bevölkerung wird dadurch nicht isoliert behandelt, sondern in seinem Zwischenspiel mit den Diskursen und Maßnahmen der Herrschenden betrachtet. Die vorliegende Arbeit greift diesen Blickwinkel auf und sucht den popularen Protest des späten Mittelalters sowohl inhaltlich als auch thematisch in den politischen Diskursen seiner Zeit zu verorten. Verfügbare Quellen Aus dem englischen Spätmittelalter sind ganz unterschiedliche Quellen erhalten, die Auskunft über den Popularprotest der Epoche geben. Trotz der großen Zahl der überlieferten Zeugnisse bleibt die Quellenlage im Einzelfall aber meist sehr lückenhaft, denn nur selten liegen über ein Protestereignis mehrere voneinander unabhängige Berichte vor. Der überwiegende Teil der betrachteten Unruhen wird sogar nur in einer einzigen Quelle erwähnt. Im folgenden Abschnitt sollen nun die wichtigsten Quellenarten vorgestellt werden, die für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind. Zu diesen zählen besonders die Aufzeichnungen der königlichen Zentralregierung, daneben aber auch lokale Akten aus dem städtischen und gutsherrlichen Bereich und schließlich die unverzichtbaren Berichte der zeitgenössischen Chronistik. Von herausgehobener Bedeutung für eine Untersuchung der popularen Protestgeschichte sind Akten der königlichen Zentralregierung. Aus der betreffenden Zeit sind sie in großer Dichte erhalten und lassen sich ohne nennenswerte Einschränkungen im englischen Nationalarchiv in London einsehen. Vieles ist dabei auch schon in der einen oder anderen Form veröffentlicht worden, sei es als Transkript, Übersetzung oder kurzes Regest. Die Qualität der Veröffentlichung lässt aber manchmal zu wünschen übrig, so dass gerade für genauere Recherchen ein Blick in die Orignalquellen unumgänglich ist. Der populare Protest hat breiten Niederschlag in den Akten der Zentralinstanzen gefunden. Die betreffenden Berichte sind aber alles andere als neutral, denn die Regierung war keinesfalls ein unbeteiligter Beobachter des Geschehens. Zudem sind die Quellen das Produkt einer schon bemerkenswert bürokratischen Verwaltung, so dass die tatsächlich aufschlussreichen Informationen nicht selten in Floskeln und Wiederholungen unterzugehen drohen. Zu bedenken bleibt schließlich auch der starke Fokus der Akten auf die Hauptstadt und die umliegenden Grafschaften, was zwangsläufig zu einem verzerrten Bild von der örtlichen Verteilung des Protests führt. Die Regierung in Westminster hat sehr unterschiedliche Quellen hinterlassen, die auf verschiedene Weise Aufschluss über den Popularprotest geben. Aus dem Zentrum der Macht stammen dabei die Aufzeichnungen des Kronrats, des engsten politischen Gremiums um die Person des Herrschers. Leider beinhalten sie weit mehr judikatives als exekutives Material und gewähren nur selten Einblick in die Prozesse der politischen Entscheidungsfindung. Die parlamentarischen Quellen sind in dieser Hinsicht um einiges aufschlussreicher. Sie liegen in zwei großen Serien vor und umfassen sowohl die Protokolle der einzelnen Sitzungsperioden als auch die Texte der im Parlament erlassenen Statuten. Zu Wort kommen hier neben der Krone auch die lokalen Eliten des Landes, die als kleinere Grundbesitzer und städtische Obere im Unterhaus des Parlaments vertreten waren. Das eigentliche Regierungshandeln wird dann in den hoheitlichen 'Briefen' sichtbar, die von der Kanzlei des Königs ausgestellt und registriert wurden. Die sogenannten 'offenen Briefe' (letters patent) enthielten unter anderem Vollmachten und königliche Kommissionen, während in den 'geschlossenen Briefen' (letters close) eher die konkreten Anweisungen der Krone zu finden waren. Beide Quellenarten liegen als Ausgangsregister auf aneinandergenähten Rollen vor und sind in umfangreichen Serien erhalten. Als kaum zu überblickender Bereich erscheinen indes die Quellen der königlichen Finanzverwaltung. Hier sind etwa die Berichte der lokalen Escheatoren von Interesse, die den Heimfall von Lehen an die Krone verwalteten. Darin tauchen immer wieder auch verurteilte Protestträger auf, deren Besitz wieder eingezogen wurde. Darüber hinaus geben die Finanzquellen aber nur noch vereinzelt wertvolle Informationen über den spätmittelalterlichen Popularprotest preis. Als die wohl wichtigsten Quellen der königlichen Zentralregierung können aber die Akten der verschiedenen Gerichtshöfe gelten, die in großer Zahl und Vielfalt aus dem untersuchten Zeitraum erhalten sind. 'Akten' (files) heißen genaugenommen nur die vorläufigen Papiere eines Gerichts, auf denen man die Namen der Geschworenen und deren beeidete Anklagen erfasste. Das Verfahren selbst ist hingegen auf den sogenannten 'Rollen' (rolls) dokumentiert, so dass diese dann auch Angaben über das Urteil und das Strafmaß enthalten. Oberster Gerichtshof des Königs war die King's Bench. In ihre Zuständigkeit fielen grundsätzlich alle Verbrechen, die den König und seinen Frieden betrafen. Sie nahm dabei nicht nur selbst die Anklagen von Geschworenen auf, sondern war zugleich auch das zentrale Revisionsgericht des Reiches, vor dem die transferierten Prozesse niederer Gerichtsinstanzen verhandelt wurden. Obwohl die King's Bench in der Regel in Westminster tagte, unternahm sie immer wieder auch Ausflüge in andere Städte, wenn etwa das Parlament dort abgehalten wurde oder man gefährlichen Umtrieben vor Ort entgegentreten wollte. Es gab stets vier Sitzungsperioden im Jahr, bei denen jeweils eine abgeschlossene Rolle produziert wurde. Die Rollen der King's Bench sind durchgängig erhalten und damit eine unverzichtbare Quelle für den Popularprotest im untersuchten Zeitraum. Von Interesse sind aber durchaus auch die Aufzeichnungen der unteren Instanzen, denn nicht jedes relevante Verfahren wurde an die King's Bench überstellt. Lokalem Aufruhr gingen zunächst einmal die Friedensrichter nach und für die Aburteilung von Inhaftierten gab es spezielle Reisegerichte, die bei der sogenannten Gaol Delivery die Kerker des Königs 'entleerten'. Im Falle gravierender Unruhen entsandte die Krone ihre Sonderkommissionen, die mit teils sehr weitreichenden Befugnissen ausgestattet waren und damit vor Ort 'anhören und entscheiden' (oyer et terminer) sollten. Die Akten und Rollen solcher Tribunale zählen mit zu den wichtigsten Quellen der beiden Großrevolten von 1381 und 1450. Die Unterlagen der königlichen Zentralregierung haben ohne Zweifel eine herausragende Bedeutung für die Erforschung des spätmittelalterlichen Popularprotests. Sie stellen darum auch den größten Teil der für die vorliegende Arbeit untersuchten Quellen dar. Relevantes Material liegt aber auch auf der lokalen Ebene vor. Hier sind zunächst einmal die städtischen Akten zu nennen. In den Städten des englischen Spätmittelalters wurde eine große Zahl unterschiedlichster Rechtsquellen produziert, von denen vor allem die Gerichtsrollen und Ratsprotokolle Informationen über populare Protestausbrüche enthalten können. Die städtischen Archivalien sind in manchen Fällen auch schon ediert und in umfangreichen Zusammenstellungen herausgegeben worden. Bisweilen findet sich in den Stadtquellen aber überraschend wenig zu den örtlichen Verwerfungen und Unruhen. Dies dürfte unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass man stets ein möglichst harmonisches Bild des städtischen Miteinanders abzugeben versuchte, um der Krone oder dem Stadtherren keinen Anlass zum Eingreifen zu geben.
Erscheint lt. Verlag | 15.4.2023 |
---|---|
Reihe/Serie | Historische Politikforschung | Historische Politikforschung |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Mittelalter |
Schlagworte | Bauern • Bauernrevolte • England • London • Protest • Rebellion • Rebellion des Jack Cade • Repression • Revolte • Revolten • Spätes Mittelalter • Spätmittelalter • Unruhen |
ISBN-10 | 3-593-44084-9 / 3593440849 |
ISBN-13 | 978-3-593-44084-2 / 9783593440842 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,4 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: PDF (Portable Document Format)
Mit einem festen Seitenlayout eignet sich die PDF besonders für Fachbücher mit Spalten, Tabellen und Abbildungen. Eine PDF kann auf fast allen Geräten angezeigt werden, ist aber für kleine Displays (Smartphone, eReader) nur eingeschränkt geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür einen PDF-Viewer - z.B. den Adobe Reader oder Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür einen PDF-Viewer - z.B. die kostenlose Adobe Digital Editions-App.
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich