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Eine italienische Reise (eBook)

Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018
288 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26140-2 (ISBN)

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Eine italienische Reise - Philipp Blom
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Um 1700 machte sich ein Geigenbauer aus dem Allgäu auf den Weg nach Italien. Seinen Namen kennen wir nicht, aber eines seiner Instrumente: gebaut in süddeutscher Tradition, aber vermutlich in Venedig fertiggestellt. Es legt Zeugnis ab von einem Netzwerk, in dem bereits vor mehr als drei Jahrhunderten Menschen, Waren und Wissen durch Europa zirkulierten.
Philipp Blom hat diese Geige entdeckt und kommt von ihrem Klang nicht mehr los. Nun hat er ihre Geschichte erforscht. Sie handelt von Migration, von der Lebenswelt der Handwerker, aber auch von Venedig, der damaligen Hauptstadt der Musik. Die Suche nach dem namenlosen Geigenbauer liefert den Schlüssel zu einer ganzen Epoche - die unserer Gegenwart gar nicht so fremd ist.

Philipp Blom, 1970 in Hamburg geboren, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Er lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien und schreibt regelmäßig für europäische und amerikanische Zeitschriften und Zeitungen. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Stipendium am Getty Research Institute in Los Angeles, der Premis Internacionals Terenci Moix und der deutsche Sachbuchpreis. Zuletzt erschienen bei Hanser: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914 (2009), Die zerrissenen Jahre. 1918-1938 (2014), Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart (2017), Was auf dem Spiel steht (2017) und Eine italienische Reise. Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute (2018). Im Paul Zsolnay Verlag erschien der Roman Bei Sturm am Meer (2016). Weitere Informationen unter www.philipp-blom.eu.

I
Eine Begegnung


»Ach die?«, sagte MR beiläufig, »die ist ganz interessant. Sie wurde um 1700 in Italien gebaut, aber von einem Deutschen.«

Mit diesem Satz begann es, begann meine Reise, auch wenn ich das noch nicht wissen konnte. Jahrelang kam ich jetzt schon hierher, zu diesem unscheinbaren Haus, in dem so viele Fäden meines Lebens zusammenliefen, obwohl ich höchstens als Amateur zugelassen war in diesen heiligen Hallen, denn hier gingen die größten Musiker ein und aus.

Ich selbst hatte einmal Musiker werden wollen und hatte alles darangesetzt als junger Mann, musste aber schließlich einsehen, dass meine Begabung trotz aller Willenskraft und Anstrengung nicht ausreichte. Ich war Historiker geworden und Schriftsteller. Für meine ehemals große Liebe, die Geige, blieb mir immer zu wenig Zeit, wenn ich auch immer noch spielte, allein oder mit Freunden. In diesem Haus aber verkehrten die größten Virtuosen. Nein, ich war ein Amateur, ein Gast.

MRs Werkstatt befindet sich nicht in der Innenstadt, mit einem polierten Messingschild und adretten Empfangsdamen, wie es sich manche seiner Kollegen leisten. Sie liegt in einem anonymen Vorstadthaus verborgen, direkt neben einer Fabrik, in einem Viertel mit Billigläden, Handwerksbetrieben, bosnischen Cafés, türkischen Bäckereien, Thai-Massage-Salons und Discount-Supermärkten. Keine sehr feine Gegend. Und doch kommen die erstaunlichsten Musiker hierher, und doch gibt es in diesem Haus jemanden, der die größten Meisterwerke der Instrumentenbaukunst zu reparieren versteht, Stimmen aus vier Jahrhunderten, alle großen Namen, eine unsichtbare Gemeinde aus Lebenden und Toten. Das einzige Namensschild, das auf seine Existenz hinweist, ist das an der Klingel, neben der unscheinbaren, aber dick gepanzerten Haustür.

Ich hatte diesen Klingelknopf im Laufe der vergangenen Jahre oft gedrückt, nicht nur, um meine eigene Geige reparieren zu lassen (MR war nicht beeindruckt von meinem bescheidenen Instrument und bemerkte nur: »Wenn einer meiner Lehrlinge das so lackiert hätte, würde ich ihm sofort sagen, er soll den Lack wieder abnehmen und von vorne anfangen«), sondern auch immer wieder aus Neugier, weil ich mich für Instrumente interessierte, weil ich Werkstätten mochte. MR gab mir dann einen guten, bitteren Espresso aus einer chromglänzenden italienischen Maschine. Ab und zu nahm er auch eine seiner wunderbaren Geigen aus dem großen Safe, dem Allerheiligsten, nicht selten ein Instrument von einem legendären Geigenbauer. »Das Anspielzimmer ist gerade frei«, sagte er dann mit einem einladenden Zwinkern, »du kannst dir Zeit nehmen und sie ausprobieren.«

So hatte ich über die Jahre viele große Cremoneser und andere Meisterwerke in Händen gehalten. Nicht alle von ihnen klangen großartig, einige der Stradivaris und andere Instrumente dieser Kragenweite hatten einen erstaunlich durchschnittlichen Klang, vielleicht, weil ich nicht gut genug spielen konnte, vielleicht, weil Beschädigungen und viele und schlechte Restaurierungen sie ruiniert hatten, vielleicht aber auch, weil auch diese Instrumente nicht ausnahmslos großartig waren und man sie gelegentlich nicht nur von Jahrhunderten von Schmutz befreien musste, sondern auch von einer noch dickeren und hartnäckigeren Schicht aus Mythos, Markt und Messiaskult.

Was mich immer wieder faszinierte, war, dass es oft wirklich berühmte Instrumente waren, die sich besonders schwer spielen ließen, die erst einmal gebändigt werden mussten und deren Persönlichkeit man über Wochen und Monate verstehen und ergründen musste, um zu merken, wie viel mehr an Klängen und Resonanzen und Farben möglich wäre, wenn man das Instrument nur verstehen lernen könnte, denn es war einem in jeder Hinsicht voraus. Ein besserer Geiger würde die Tiefen und verschiedenen Facetten eines großen Instruments rascher entdecken, aber auch die größte Musikerin kann nicht finden, was nicht da ist.

Immer wieder nahm ich auch eines der Instrumente, die nicht im Safe lagerten, aus einem der massiven Eichenschränke, um sie mir anzusehen, den Stil zu vergleichen und etwas über ihre Geschichte zu erfahren. Geigen haben Gesichter wie Menschen; alle ähnlich und doch unterschiedlich, ausgewogen oder asymmetrisch, lang oder gedrungen, elegant oder unbeholfen, von unterschiedlicher Farbe, mit sprechenden Details, mit einer eigenen Mimik. Sie haben eine Geschichte, einen Ursprung, ein klingendes Leben.

Eine der Geigen in diesem Schrank schien mir besonders interessant, mit einem besonders sicher geschnittenen Umriss, einer reizvollen Wölbung und einer ungewöhnlich kleinen Schnecke – dem gewundenen obersten Teil des Instruments, da, wo die Saiten von den Wirbeln gehalten werden.

Es war viel los an diesem Tag, an dem ich diese Geige entdeckte, wie eigentlich immer, wenn ich hier war. MR war fast unablässig damit beschäftigt, mehrere Dinge simultan zu erledigen: ein Kundengespräch, ein Instrument begutachten, davor wenn möglich eine kleinere Reparatur oder Feineinstellung, Fragen der Mitarbeiter, ein Telefongespräch mit einem Kollegen auf der Jagd nach einem raren Instrument, eine Studentin bei der Instrumentenwahl beraten. MR reichte mir die Geige.

»Woher weißt du, dass der Handwerker aus Deutschland kam?«, fragte ich, neugierig geworden, bevor er wieder verschwand.

»Einfach so«, antwortete er. »Das sieht man. Solche Ecken, solche Einkehlungen am äußeren Rand, die Positionierung der f-Löcher: Das kann nur jemand gewesen sein, der in Süddeutschland gelernt hat, im Allgäu, um genau zu sein, sehr wahrscheinlich in Füssen. Da kamen besonders im 17. Jahrhundert sehr viele Geigenbauer her, aber eigentlich ist das noch weitgehend unerforscht. All das deutet darauf hin, dass er im Allgäu zumindest in die Lehre gegangen ist. Aber die Wölbung und die Form, die sind schon ganz italienisch. Der Lack auch übrigens. Das konnte man damals nur in Italien. Nördlich der Alpen hat man noch nicht so gebaut, nicht so gut, nicht mit einer solchen Amati nachempfundenen Wölbung, nicht mit einer so schönen Grundierung.«

Während MR sprach, las ich mithilfe einer Lampe den Zettel auf der Innenseite des Instruments, der sie als eine Arbeit des großen Mailänder Meisters Carlo Giuseppe Testore ausweist.

»Also keine Testore?«, fragte ich.

»Nein, natürlich nicht, dann wäre sie zehnmal so teuer, der Zettel ist selbstverständlich falsch. Sie sieht eigentlich recht mailändisch aus, aber Testore ist es auf keinen Fall. Es gibt da zum Beispiel ein kleines Problem mit dem Datum: 1605 ist fast 60 Jahre vor seiner Geburt. Da hat jemand nicht aufgepasst.«

»Und du weißt nichts weiter über denjenigen, der sie gemacht hat, oder wo sie gemacht wurde?«

»Leider nicht! Ich habe sie irgendwann einmal gekauft, sie war damals in sehr schlechtem Zustand, und ich dachte, sie sei etwas ganz Besonderes, ein bislang nicht identifiziertes italienisches Meisterinstrument – aber ich habe nichts weiter über sie herausbekommen, auch mithilfe einiger sehr guter Kollegen nicht. Sie stammt offensichtlich aus dem frühen 18. Jahrhundert und ist ebenso offensichtlich in Italien gebaut worden, aber mit einem starken Allgäuer Einfluss, was nicht ungewöhnlich ist für die damalige Zeit. Nimm sie mit nach Hause und spiele sie ein bisschen, sie braucht das, sie ist gerade erst restauriert worden. Ich muss weiter, aber ich werde dir noch einen Kasten organisieren. Keine Zeit für Kaffee, heute leider nicht, mein nächster Kunde ist schon verspätet.«

MR ist keiner von diesen Händlern in Nadelstreifen, die auftreten wie Anwälte oder Bankiers. Ich habe ihn überhaupt noch nie in einem Anzug gesehen. Er ist ein Besessener – sehr zu seiner eigenen Unzufriedenheit –, ein Perfektionist, ein Herr oder Untertan verschiedener Sammlungen, in den Augen vieler Musikerinnen ein Magier, dem sie unbedingt vertrauen. Er hatte nie ein großes Geschäft gewollt, aber dann war es so passiert, durch einige seltsame Wendungen des Schicksals, bis er plötzlich selbst und mit eigener Firma zu einer der maßgeblichen Adressen in der winzigen Welt des Instrumentenhandels geworden war. Als Jugendlicher spielte er bretonischen Folk in einer Band, so war er zur Musik gekommen. Dann hatte er sich in eine Geigenbauerin verliebt, eine Weichenstellung.

Nach meinem Besuch bei MR war ich auf dem Weg nach Hause, die unbekannte Geige in einem Kasten, den er mir geliehen hatte, unter dem Arm. Gleich nachdem ich angekommen war, probierte ich sie aus. Sie klang jämmerlich; dünn und kellerfeucht, schrill und hohl, als hätte der Klang sich tief in ihrem Inneren verschanzt. Ein so schönes Instrument – und es hatte seine Stimme verloren, wenn es denn jemals eine gehabt hatte. Ich spielte es weiter, aus Neugier und auch um MR einen Gefallen zu tun, ein eingespieltes, gut eingestelltes Instrument verkauft sich besser, spricht besser an unter den Händen von Interessierten.

Dann aber, nach einigen Tagen intensiven Spiels, machte sie langsam auf; neue Resonanzen erschienen, der Ton wurde wärmer und tragender, auf der untersten Saite entstanden dunkel gemaserte Klänge, warm und hauchend wie die Stimme einer Jazz-Sängerin, die kein einfaches Leben gehabt hat, eine Stimme, die Freude und Leiden gleichermaßen tief in sich aufgesogen hatte. Die Höhe war klar und warm wie poliertes Silber, dazwischen lag eine ganze Landschaft von Klangfarben, die sich langsam erschlossen, erst zufällig, dann immer...

Erscheint lt. Verlag 5.11.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 17. Jahrhundert • 18. Jahrhundert • Allgäu • Auswanderung • Europa • Geige • Geigenbau • Handwerk • Instrumentenbau • Migration • Musik • Venedig • Violine
ISBN-10 3-446-26140-0 / 3446261400
ISBN-13 978-3-446-26140-2 / 9783446261402
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