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Das Kind, das er war (eBook)

Die Geschichte des Johann Avellis

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
176 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-11223-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Kind, das er war -  Georg Heller
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Johann Avellis' Familie wird vom Hitlerregime verfolgt. Der jüdischstämmige Vater ist ins rettende Ausland geflohen, die Mutter, eine mutige Nazigegnerin, zieht mit ihren Kindern nach Bayern. Doch bald wird jedes Untertauchen unmöglich. Die Gefangenschaft im Zwangsarbeitslager bleibt Johann nicht erspart. Und auch nach 1945 lebt das Kind, das zwischen zwei Welten zu kämpfen hatte, in ihm fort.

Georg Heller (1929-2006), in Berlin geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und arbeitete als Journalist für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», das «Handelsblatt» und die «Stuttgarter Zeitung». 1972 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. 1997 erschien «Lügen wie gedruckt. Über den ganz alltäglichen Journalismus», 2002 «Endlich Schluß damit? ?Juden? und ?Deutsche? - Erfahrungen».

Georg Heller (1929–2006), in Berlin geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und arbeitete als Journalist für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», das «Handelsblatt» und die «Stuttgarter Zeitung». 1972 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. 1997 erschien «Lügen wie gedruckt. Über den ganz alltäglichen Journalismus», 2002 «Endlich Schluß damit? ‹Juden› und ‹Deutsche› – Erfahrungen».

I


Nil mali intret


Selten war es, daß Johann Avellis alte Fotos ansah. Niemals stellte er welche auf seinen Schreibtisch oder hängte sie irgendwohin. Jedenfalls nicht von «den Lieben», von Orten womöglich schon. Orten der Sehnsucht, wie bei jenem Blick durch das gitterne Portal in einen Garten: Die Sonne überlichtet die geschmiedeten Muster, sie durchscheint die Blütenblätter der Magnolien dahinter und glänzt auf ihrem Laub. Von Orten schon, nicht von Frau und Kindern in silbernem Rahmen hinter Glas. Sie leben doch, jetzt holt Rose sie gerade von der Schule ab, heute abend liegen sie in ihren Betten, wenn du nach Hause kommst.

Auch dort hängen keine Fotos an der Wand, Ablichtungen der Eltern nicht, die noch leben, doch auch die Bilder der Gestorbenen nicht. All die Porträtaufnahmen, die auf eine Säule im Atelier des Fotografen sich stützenden Figuren, die Gesichter im bräunlich-vergilbten Oval, sie sind bei Johann Avellis in eine Schuhschachtel verbannt. In einem Moment ihres Lebens sind sie eingefroren, versteinert. Wie dieser fremde Mann in Uniform, der sein Vater sein sollte. Da kannte er ihn noch gar nicht. Auch eingefrorenes Glück ist ihm zuwider: da – Priesterweg!

Je näher Johann Avellis das Foto betrachtet, das er aus der Schublade geholt hat, desto ferner rückt ihm die Vergangenheit. Der Bahndamm an der Haltestelle Priesterweg schrumpft zu einem blassen Sechs-mal-sechs-Quadrat, auf dem ein unerkennbares Kind an Schienen entlangläuft. Er knüllt das Foto zusammen und wirft es weg. Es soll nicht töten, was er lebendig in sich hat. In der Sonnenglut knistern Disteln und Kornrade, nach Heu und Hafer riecht die Hitze, sie summt in den Ohren. Da muß er ganz klein gewesen sein, als er dort gelaufen ist, doch die Bilder und Gerüche haben ihn nicht verlassen. Die sind immer drin in ihm. Zeitlos. Erdbeben an einer Bruchzone, im Lebenslauf bricht etwas auf. Johann spürt, es bedeutet etwas, es hat ihn verändert, aber er weiß nicht, was das war, er weiß nur, daß er es bis heute ist.

Johann Avellis lebt hier und jetzt. Er lebt nicht in der Vergangenheit. Was hier und jetzt ist, weiß er allerdings so wenig, wie er sagen könnte, was vergangen ist. Hier und jetzt ist «Priesterweg», obwohl es Jahrzehnte her ist. Hier und jetzt war er und ist er, wenn er sich mit Sohn Matt im Regen auf der Hafenmole von Esbjerg stehen sieht, wo sie, als der Matt noch klein war, stundenlang den anlandenden und ablegenden Schiffen zusahen. Hier und jetzt war er, als er sich auf der Rheinbrücke in Bonn, auf dem Weg zur Uni, in dem unten dahinströmenden Wasser verlieren konnte. Wenn er in Gedanken dort steht, ist er lebendig.

Was ist dagegen ein Foto an der Wand! Damals am Priesterweg, da ging seine Mutter mit ihm in das Freibad dort, das für ihn diesen Namen trägt und, in seiner Erinnerung, ganz auf Holzpfählen über dem Wasser steht. Überall konnte man auf sonnengewärmten Brettern liegen. Seine Mutter nahm ihn mit ins Frauenbad. Sie sagte, da dürfe er noch rein, keine von denen, die sich dort ohne Badeanzug sonnten, habe etwas dagegen. Und Johann Avellis erinnert sich auch nicht an nackte Körper. Doch bis heute fühlt er sich geborgen, wenn er diesen geschützten Raum denkt, der nur der Sonne geöffnet ist.

Wenn er jetzt, hier und jetzt, «Priesterweg» denkt, ist er dann hier oder in «Priesterweg»? Ist er jetzt hier, an «Priesterweg» denkend, oder ist er in der Vergangenheit «Priesterweg» gegenwärtig?

Da liegen die Fotos vor Johann Avellis auf dem Tisch. Er denkt an das Kind, das er mal war. Vertraut ist es ihm und fremd zugleich der Person, die er heute zu sein meint, vergangen und gegenwärtig zugleich. Deshalb nennt er sich in seiner Erinnerung lieber David, so, wie er heute hieße, wenn es nach seiner Mutter gegangen wäre; doch sein Vater wollte keine hebräischen Namen. Seit Johann das von seiner Mama wußte, hätte er lieber so geheißen. Seinen eigenen Sohn würde er David genannt haben, wenn nicht später auch er befürchtet hätte, das könnte dem Jungen schaden in der Welt, in die der dann hineingeboren wurde.

Einen dicken Fischgrätmantel hat das Kind an, das auf dem Foto eine Schultüte im Arm hält, beim Lächeln gibt es eine Zahnlücke preis. Noch keine sechs Jahre alt war David, als er in die Schule kam. Auf dem nächsten Foto spielen Kinder Ball. Wir hatten ein Siedlungshaus in einem Vorort von Berlin, sagt Johann Avellis, wenn er davon erzählt. Die Kinder rennen auf einem großen Platz herum, am Rand sind niedrige Häuser zu erkennen, hinter Hecken und erwachsenen Birken. Kam der Bolle, der die Milch ausklingelte, noch mit einem Pferdewagen? Johann Avellis weiß es nicht mehr genau. Er erinnert sich an vorgespannte Pferde, hält das aber kaum für möglich. Sicher ist er, daß der Eismann mit einem Elektrowagen kam, das sägende Geräusch, mit dem die Kette außen über Zahnräder lief, hat er noch im Ohr.

Über der Eingangstür eines durch einen Vorbau betonten Hauses kann man in goldenen Lettern auf schwarzem Grund eine Inschrift lesen: HIC HABITET FELICITAS NIL MALI INTRET. Das sei Latein und heiße: Hier möge das Glück wohnen, niemals Unglück über die Schwelle treten. So war David gesagt worden, als er klein war, und so gaben die Avellis-Kinder es ihren Spielfreunden weiter. Aber wie alt war David, als er das seinen Freunden nicht mehr übersetzen konnte, ohne dabei bitter zu sein? Er wird wohl schon aufs Gymnasium gegangen sein und selber Latein gehabt haben, als er des Mißverhältnisses gewahr wurde zwischen dem, was sich sein Vater da gewünscht hatte, und dem, was nun war. Und daß einer das verkündet, in Latein verkündet, sich so hervortut, das lehnte er ab.

Hatte er die Bitterkeit über diese Inschrift von seiner Mutter übernommen? Hatte die nicht zeitweise mit dem Gedanken gespielt, die lateinischen Lettern von der Hauswand entfernen zu lassen? Die Diskrepanz war so ungeheuerlich, daß Johann Avellis sein Leben lang abergläubisch vorsichtig blieb, wenn er drauf und dran war, etwas vorauszudenken, was er sich wünschte. Als «Der Ring des Polykrates» in seinen Erfahrungskreis trat, sah er diese schwarze Tafel vor sich. Wie kann man einen solchen Spruch an sein neuerbautes Haus schreiben? Was ist das für ein Mensch gewesen, der das tat?

War sein Vater wirklich so glücklich gewesen, als er dort einzog? fragt sich Johann Avellis. Babette und Lisa müssen schon da gewesen sein, und seine Frau mußte schwanger gewesen sein, mit David. Wie sicher in seinem Glück muß sich einer fühlen, wenn er so was an sein Haus schreibt! Oder war das nur seine Fassade für «die andern»? Das hat David früh schon gedacht, erinnert sich Johann Avellis. Er konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Vater Glück für sich und sie alle im Kopf gehabt haben sollte.

Er hat es dem, der so was über seine Haustür geschrieben hatte, bald nicht geglaubt. Es war ein Vater, den er nicht kannte, sein Vater. Ein Vater, den seine Mutter haßte, weil er sie und die Kinder verlassen hat. Von klein auf hat David mißtrauisch bei sich jede Regung verfolgt, die der eines solchen Vaters gleichen könnte.

Babette hat den Vater noch gekannt, der war mit ihr schon in die Oper gegangen, in Ausstellungen und Galerien. Sie schreit die Mutter an, wenn die was über «den Alten» sagt, der sie «alle verlassen» hat. Mit Mama hat Babette furchtbare Kämpfe. Mit ihrer Schulklasse könnte sie rudern, auf dem Wannsee, bei den Nazis darf sie das nicht, weil sie bei denen nirgends mitmachen darf. Babette will aber gar nicht rudern, schon deshalb nicht, weil ihre Mutter will, daß sie es wollen soll.

David begegnet dem Vater im Rollschrank, der in der Diele steht. Da soll er eigentlich nicht ran, aber als die Mutter weg ist, tut er es doch. Bücher sind drin und Stöße von Kartonseiten, auf die immer die gleichen girlandenumrankten Bilder aufgedruckt sind, Aktien. Aktien der Russischen Eisenbahn, erklärt ihm die Mutter später, sie seien nichts wert, die Wände könnten sie damit tapezieren. Die Bücher hätte er nicht angucken sollen, meint sie, weil es Kriegsbücher seien. David hat Fotos und Zeichnungen von Kanonen darin entdeckt, «Dicke Berta» liest er unter einem riesigen Geschütz, das auf einem Eisenbahnwagen steht. Zwischen den Seiten liegen Fotos von Soldaten. Das sei sein Vater, zeigt sie ihm auf einem davon. Hauptmann sei er gewesen, an der Front, das EK I habe er gehabt.

Manchmal kommt Onkel Molden zu Besuch. David sitzt ganz oben auf der Trauerweide im Garten. Onkel Molden lockt ihn herunter, er hat ihm was mitgebracht, eine Kipplore für seine Eisenbahn. David merkt, daß sich Onkel Molden um ihn kümmert. Es war das erste Mal, blieb auch das einzige, denn Onkel Molden kam nicht wieder. Er wollte Davids Mutter heiraten, aber die wollte nie mehr mit einem Mann zusammenleben. Wahrscheinlich wegen dem «einen», woran alle Männer «nur» denken, dachte David. So verstand er die Mutter, die mit Frau Jünger, die mit Onkel Molden «mal was gehabt hatte», stundenlang über die schrecklichen Gewohnheiten dieses «eingefleischten Junggesellen» sprach. Der war witzig, das konnte David heraushören, merkte es auch. Aber Russe war er, «ohne jedes Zeitgefühl», sagte Mama. Wenn er um fünf Uhr eingeladen war, kam er vielleicht um acht, ein Mann war das, der sich, Schrecken aller Schrecken: filzpantoffelig!, in einem mit schäbigen Möbeln vollgepfropften Untermieterzimmer stundenlang über seine Orchideen beugte. Er züchtete sie aus Samen, begeistert sieht David die winzigen Keime in der feuchten Watte unter Glas, weil Onkel Molden ihm alles erklärt. Schwierig ist das, und viel Geduld muß man haben, bis eine Orchidee endlich diese wunderschönen Blüten bekommt.

Der gepriesene Duft der Orchideen ist...

Erscheint lt. Verlag 20.7.2018
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Bayern • Flucht • Juden • Nationalsozialismus • Schlesien • Zwangsarbeiter
ISBN-10 3-688-11223-7 / 3688112237
ISBN-13 978-3-688-11223-4 / 9783688112234
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