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Das Totenhaus (eBook)

Sibirisches Exil unter den Zaren

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
624 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490796-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Totenhaus -  Daniel Beer
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Die Hölle der sibirischen Straflager unter den Romanows: »Meisterhaft, fesselnd ... über Verbrechen und Strafe, Liebe und grausame Gewalt.« Simon Sebag Montefiore In endlosen Kolonnen zogen sie auf monatelangen Märschen gen Sibirien: die Verbannten des Zarenreichs. Männer, Frauen und Kinder, ganze Familien waren es, die unter extremen Bedingungen in sibirischen Arbeitslagern schuften mussten. Die Eishölle musste besiedelt, die Rohstoffe sollten ausgebeutet werden - eine riesige Aufgabe, die nur mit verurteilten Sträflingen zu bewältigen war. Der Historiker Daniel Beer erzählt fesselnd und anrührend vom Alltag, von Verzweiflung und Hoffnung der Menschen, die oft nichts anderes verbrochen hatten als Kritik an der Herrschaft der Zaren zu üben - wie Dostojewski oder Lenin. Und er zeigt, wie in diesem Mikrokosmos von liberalen Intellektuellen eine Keimzelle der Revolution von 1917 entstand: Viele der Verbannten wurden zu Trägern dieses Umsturzes, der das Zarenreich zu Fall brachte. Für dieses Buch erhielt Daniel Beer den renommierten Cundill History Prize 2017.

Daniel Beer, geboren 1973, lehrt Modern European History an der University of London. Für »Die Kolonie der Toten« hat er jahrelang in sibirischen und russischen Archiven geforscht und zahlreiche unbekannte Dokumente entdeckt. Das Buch gewann 2017 den Cundill History Prize und stand auf der Shortlist für den Wolfson History Prize sowie den Pushkin House Russian Book Prize. Es war »Book of the Year« der »Times«, des »Spectator«, des »Times Literary Supplement« und bei »BBC History«.

Daniel Beer, geboren 1973, lehrt Modern European History an der University of London. Für »Die Kolonie der Toten« hat er jahrelang in sibirischen und russischen Archiven geforscht und zahlreiche unbekannte Dokumente entdeckt. Das Buch gewann 2017 den Cundill History Prize und stand auf der Shortlist für den Wolfson History Prize sowie den Pushkin House Russian Book Prize. Es war »Book of the Year« der »Times«, des »Spectator«, des »Times Literary Supplement« und bei »BBC History«.

Wer dieses Buch liest, lernt viel über den russischen Staat und seine Untertanen und versteht das Land vielleicht um einiges besser.

ein fundiertes und zugleich dramatisches Bild der Verbannung

Einleitung: Die Glocke von Uglitsch


Im Jahr 1891 rang eine Gruppe russischer Kaufleute Zar Alexander III. durch eine Bittschrift die Erlaubnis ab, eine 300 Kilogramm schwere Kupferglocke aus der sibirischen Stadt Tobolsk 2200 Kilometer westwärts zu ihrem Heimatort Uglitsch transportieren zu lassen. Sie reiste im Spätfrühling 1892 die Wolga hinauf, und der Dampfer legte an einem Pier an, den man vor der Uglitscher Kathedrale errichtet hatte. Dort wurde die Glocke genau drei Jahrhunderte nach ihrer Verbannung nach Sibirien zeremoniell willkommen geheißen.[2]

Das Schicksal der Glocke war im Frühjahr 1591 besiegelt worden, als der neunjährige Sohn und Thronfolger Iwans des Schrecklichen, Zarewitsch Dmitri, mit durchschnittener Kehle in Uglitsch aufgefunden wurde. Dmitris Mutter und ihre Angehörigen glaubten, der Zarewitsch sei auf Befehl eines möglichen Thronrivalen, des Zar-Regenten Boris Godunow, ermordet worden. Sie ließen die Glocke von Uglitsch läuten, um die Stadtbevölkerung zur Revolte aufzurufen. Die Einwohner rotteten sich zusammen, und im Verlauf des Aufruhrs wurden die mutmaßlichen Mörder und ein Beamter aus Moskau umgebracht. Die Unruhe erregte den Zorn des Kreml. Godunow beorderte Soldaten nach Uglitsch, die den Aufstand niederschlugen. Im folgenden Frühjahr ließ er rund 200 Stadtbewohner hinrichten und viele andere ins Gefängnis werfen; etwa 100 wurden ausgepeitscht, und man schlitzte ihre Nasenflügel auf; die eloquenteren verloren auch ihre Zungen. Gegeißelt und verstümmelt, wurden die Rebellen nach Sibirien verbannt.

Abgesehen davon, dass Godunow Rache an den Aufständischen übte, bestrafte er auch das Symbol ihrer politischen Einheit. Er befahl, die Glocke herunterzulassen, ihr zwölf Peitschenhiebe zu versetzen, ihre »Zunge«, das heißt ihren Klöppel, zu entfernen und sie dann ebenfalls nach Sibirien zu verbannen. Die Uglitscher mussten die aufrührerische Glocke über den Ural zerren, bevor sie schließlich in Tobolsk zur Ruhe kam, wo der Militärgouverneur der Stadt sie als »erste unbelebte Exilantin aus Uglitsch« registrierte. Die stumme und verbannte Glocke wurde zum Zeugnis für die Macht der Herrscher Russlands, ihre widerspenstigen Untertanen sowohl über den Ural zu treiben, als sie auch zum Schweigen zu bringen.[3]

Doch in den folgenden Jahrhunderten wurde die Glocke zum Sammelpunkt für Gegner der Autokratie, die Godunows Bestrafung der Uglitscher für den grausamen Akt eines Usurpators hielten. Ein nach Tobolsk verbannter Adliger namens Ippolit Sawalischin bezeichnete die Glocke von Uglitsch 1892 als »unbezwungene Anklägerin, die beredt von (…) der Bestrafung eines ganz und gar unschuldigen Ortes kündet!«.[4] Um die Mitte des 19. Jahrhunderts symbolisierte die Glocke also nicht mehr nur die unangefochtene Autorität des Souveräns, sondern auch die rachsüchtige Macht, auf die sich seine Autorität stützte.

Tobolsk spielte in den Jahrhunderten nach der Verbannung der Uglitscher Glocke eine entscheidende Rolle beim Ausbau des sibirischen Exilsystems. Dieses Vermächtnis lässt sich noch heute an dem Gewirr verrottender Holzhäuser und neoklassizistischer Gebäude ablesen, welche die Altstadt ausmachen. Der Tobolsker Hauptplatz liegt auf einem Plateau, das sich 50 Meter über dem schlammigen Wasser des großen Flusses Irtysch und dem sich im Süden ausbreitenden unteren Ort erhebt. Es bietet Ausblick auf die umliegende Landschaft und die Kähne, die sich langsam stromaufwärts mühen. Zwei mächtige Gebäude dominieren den Platz. Das eine ist der steinerne Kreml, ein befestigter Komplex, der die Macht und den Glanz des Imperialstaats verdeutlichte. Seine massiven weißen Mauern, über denen die blauen und goldenen Kuppeln der Sofienkathedrale aufragen, wurden von Exilanten errichtet: von schwedischen Soldaten, die Peter der Große 1709 in einer der Entscheidungsschlachten des Großen Nordischen Kriegs (17001721) gefangen genommen hatte. Das zweite Gebäude, dessen beeindruckende neoklassizistische Fassade sich am gesamten Westrand des Platzes entlangzieht, ist das Tobolsker Zentrale Zuchthaus. In den frühen 1850er Jahren errichtet, war es das zweite seiner Art in der Stadt, und sein Aufnahmevermögen kam, was dringend erforderlich war, zu dem des bestehenden, maroden Gefängnisses hinzu. Konvois mit Hunderten von Exilanten sollten durch den Ort und über den Platz zu den Toren der Anstalt marschieren, wo sie eingesperrt wurden, bis das Tobolsker Verbannungsamt, der administrative Mittelpunkt des gesamten Systems, ihre Reiseziele festlegte. Die Verbannten wurden neuen Konvois zugeteilt und machten sich über die Straßen und Wasserwege Sibiriens zu fernen Dörfern und Strafkolonien auf. Tobolsk bildete den Zugang zu einem kontinentalen Gefängnis.[5]

Das Verbannungssystem war maßgeblich für die Kolonisation Sibiriens. Ortschaften wuchsen um die Gefängnisfestungen und Strafkolonien aus dem Boden, damit die Beamten und das Militärpersonal untergebracht werden konnten. Kaum ein sibirisches Dorf blieb von den Verbannten unberührt, die sich entweder offiziell in fast jedem Bezirk in jeder sibirischen Region niederließen oder inoffiziell als Wanderarbeiter, Diebe und Bettler durch die Gegend zogen. Die sibirischen Straßen waren übersät mit gedrungenen ockerfarbenen Aufenthaltsstationen, in denen die Marschkonvois der Deportierten auf ihren langen und zermürbenden Reisen übernachteten. Die Transit- und Stadtgefängnisse, die Bergwerke, Industrieunternehmen und Verbanntensiedlungen ähnelten Fühlern der Staatsmacht, die sich von St.Petersburg nach Osten vorstreckten. Als 1879 ein verheerendes Feuer drei Viertel des Zentrums von Irkutsk – damals eine blühende Stadt mit 30000 Einwohnern – zerstörte, war das Zentralgefängnis eines der wenigen Steingebäude, die verschont blieben. Seine Bedeutung als Transitpunkt für Exilanten wurde umso deutlicher, da es nun plötzlich über den schwelenden Ruinen der Stadt aufragte.[6]

Das Tobolsker Zentrale Zuchthaus diente bis 1989, als die Behörden es endgültig schlossen, als Haftanstalt. Wie viele Gefängnisse der zaristischen Ära war es nach 1917 renoviert und zu einem Teil dessen geworden, was Alexander Solschenizyn als »Archipel« der Vollzugsanstalten bezeichnete, die den stalinistischen Gulag bildeten. In Russland wie im Ausland verdrängt der Gulag die Erinnerung daran, dass Sibirien den Zaren als Stätte der Bestrafung diente. Lange bevor der Sowjetstaat seine Lager errichtete, war Sibirien bereits ein riesiges offenes Gefängnis mit einer über 300 Jahre langen Geschichte.[7]

Sibirien – der russische Name lautet Сибирь (ausgesprochen »Sibir«) – lässt das europäische Russland winzig erscheinen. Mit 15500000 Quadratkilometern ist es anderthalbmal größer als der Kontinent Europa. Sibirien hat nie eine unabhängige politische Existenz besessen; es verfügt über keine klaren Grenzen und keine einheitliche ethnische Identität. Seine moderne Geschichte ist untrennbar mit der Russlands verbunden. Das leicht zu überwindende Uralgebirge diente dem europäischen Russland weniger als physische Barriere denn als beliebige politische Grenzlinie, hinter der eine gigantische asiatische Kolonie und ein ausgedehntes Häftlingsreich lagen. Sibirien war gleichzeitig Russlands Herz der Finsternis und eine Welt der Gelegenheiten und des Wohlstands. Die kalte und unversöhnliche Gegenwart des Kontinents sollte einer glänzenderen Zukunft weichen, und den Verbannten Sibiriens war eine Schlüsselrolle bei diesem gepriesenen Übergang beschieden.[8]

Denn der zaristische Staat erstrebte mehr, als die soziale und politische Unordnung lediglich in seinem Kontinentalgefängnis einzusperren. Dadurch, dass er die alte Welt von unerwünschten Personen säuberte, wollte er zugleich die neue bevölkern. Das Verbannungssystem sah vor, eine wachsende Armee von Deportierten in den Dienst eines umfassenderen Projekts zur Kolonisation Sibiriens zu pressen. Der Theorie zufolge würden sich die Verbrecher Russlands abrackern, um die Naturreichtümer Sibiriens zu ernten und seine entlegenen Territorien zu besiedeln, wobei sie die Tugenden der Eigenständigkeit, der Abstinenz und des Fleißes entdeckten. In der Praxis dagegen entsandte das Verbannungssystem keine Armee unternehmungslustiger Siedler, sondern ein Heer mittelloser und verzweifelter Vagabunden ins sibirische Hinterland. Sie überlebten nicht durch ihren eigenen Fleiß, sondern dadurch, dass sie die wahren Kolonisten, nämlich die sibirischen Bauern, bestahlen und anbettelten. Die Spannungen, die dieser Doppelstatus der »Gefängniskolonie« mit sich brachte, ließen sich in den über drei Jahrhunderten, welche die Verbannung der Uglitscher Aufrührer und die Implosion des zaristischen Reiches im Jahr 1917 voneinander trennten, nicht beilegen. Ganz im Gegensatz zu den Ambitionen der russischen Herrscher wurde die Strafkolonisation nie zu einer Antriebskraft der sibirischen Entwicklung. Vielmehr erwies sie sich, während die Zahl der Verbannten wuchs, als immer größeres Hindernis auf diesem Weg.

Im Lauf des 19. Jahrhunderts erhöhten sich das Ausmaß und die Intensität des russischen Verbannungssystems derart, dass es die Varianten des...

Erscheint lt. Verlag 24.10.2018
Übersetzer Bernd Rullkötter
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Dostojewski • Lenin • Revolution • Romanows • Russland • Sibirien • Straflager • Verbannung • Zarenreich
ISBN-10 3-10-490796-X / 310490796X
ISBN-13 978-3-10-490796-3 / 9783104907963
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