Zeichentheorie (eBook)
374 Seiten
UTB GmbH (Verlag)
978-3-8463-4878-9 (ISBN)
Prof. (em.) Dr. Rudi Keller, Jahrgang 1942, lehrte Germanistische Sprachwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Vorbemerkungen 9
1 Vorwort 11
2 Zeichen im Alltag 19
I Zwei Zeichenauffassungen 29
3 Platons instrumentalistische Zeichenauffassung 31
4 Aristoteles’ repräsentationistische Zeichenauffassung 49
5 Freges repräsentationistische Zeichenauffassung 59
6 Wittgensteins instrumentalistische Zeichenauffassung 79
II Semantik und Kognition 97
7 Begriffsrealismus versus Begriffsrelativismus 99
8 Begriffstypen versus Regeltypen 119
9 Ausdruck und Bedeutung 139
III Zeichenbildung 153
10 Grundverfahren der Interpretation 155
11 Schlussprozesse 179
12 Arbitrarität versus Motiviertheit 199
IV Zeichenmetamorphosen 215
13 Ikonifizierung und Symbolifizierung 217
14 Metaphorisierung, Metonymisierung und Lexikalisierung 235
15 Wörtlicher und metaphorischer Sinn 251
16 Rationalität und Implikaturen 273
V Die diachrone Dimension 295
17 Kosten und Nutzen des metaphorischen Verfahrens 297
18 Der metaphorische Gebrauch von Modalverben 311
19 Das epistemische weil 325
20 Resümee 343
Literaturverzeichnis 349
Namenregister 365
Sachregister 366
2 Zeichen im Alltag
Zeichen bestimmen unser Leben. Dies gilt nicht nur für die sprachlichen Zeichen. Wir sind umgeben von Zeichen, wir umgeben uns mit Zeichen, und meist ist uns dies gar nicht bewusst. Bewusst wird uns die Tatsache, dass unser Leben nahezu vollständig zeichenimprägniert ist, oft erst dann, wenn die Zeichen, mit denen wir uns umgeben und die wir verwenden, Anlass zu unerwarteten Interpretationen sind. Mein Auto ist zeichenhaft, mein Fahrrad auch. Hätte ich kein Auto, wäre auch dies zeichenhaft. Austern essen ist ebenso zeichenhaft wie der Verzehr von Hamburgern. Wenn ich eine Krawatte trage, so ist dies zeichenhaft, ebenso wenn ich auf sie verzichte. Das gleiche gilt für die Cordhosen, die Jeans und meine Anzüge. Jemand könnte auf die Idee kommen zu sagen: „Ich habe es satt, dass alles stets interpretiert wird; ich mache nicht mehr mit!“ Auch für diese Haltung gibt es die geeignete Kleidung. Individualisten erkennt man, wie die Spießer, an ihren Zeichen. Es gibt kein Entrinnen aus der Interpretierbarkeit. Dies erinnert an den berühmt gewordenen Satz von Watzlawick, Beavin und Jackson: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Aber diese These soll hier nicht vertreten werden. Ihr liegt der, wie wir noch sehen werden, unangemessene Schluss zugrunde, dass alles, was interpretierbar ist, kommuniziert sein muss. Dem ist jedoch nicht so.
Bedeutsam ist in unserem Leben nicht nur wie etwas interpretiert wird, sondern auch das Was. Kulturen und Subkulturen unterscheiden sich im Ausmaß und in den Bereichen, die Gegenstand zeichenhafter Interpretation sind. Das Maß der Zeichenhaftigkeit der verschiedenen Lebensbereiche einer Gruppe ist nachgerade das Maß der Zivilisiertheit, die dieser Gruppe zugebilligt wird. In je höherem Maß das Leben einer Gruppe „durchsemiotisiert“ ist, desto mehr Kultur (im umgangssprachlichen Sinne) schreiben wir ihr zu. Kultur besteht unter anderem darin, Dingen des täglichen Lebens Zeichenhaftigkeit beizumessen. „Culture depends on symbolic structure“, schreibt Raimo Anttila. „Culture is learned sign behavior.“ Es ist die Regelhaftigkeit, die Verhalten zeichenhaft zu machen im Stande ist – eine Tatsache, die uns noch ausgiebig beschäftigen wird. Wenn wir von „primitiven Kulturen“ reden, meinen wir Kulturen, deren Lebensformen mehr zeichenfreie Räume enthalten als die unsrigen oder deren Zeichenhaftigkeit wir nicht als zeichenhaft erkennen. Wenn wir in einer Kultur einen zeichenfreien Bereich entdecken, der in unserer Kultur zeichenhaft ist, so tendieren wir dazu, jene Kultur als in diesem Bereich „unzivilisiert“ zu bewerten. Betrachten wir ein einfaches Beispiel: Bei uns sind Körpergeräusche wie Schmatzen, Rülpsen oder noch Unanständigeres streng reglementiert. Wir bringen unseren Kindern mit einigem Aufwand bei, wo und wann man was tun darf und wann nicht; beispielsweise, dass man bei Tisch nicht schmatzt. Es gibt jedoch genau ein körperliches Geräusch, das zu allem Überfluss noch mit einer unappetitlichen Körperausscheidung verbunden ist, das hierzulande so gut wie nicht reglementiert ist: das Schneuzen. Die Nase darf man sich überall putzen und zu jeder Zeit: in der Straßenbahn, im Unterricht, sogar bei Tisch. Nicht so beispielsweise in Korea und anderswo in Ostasien. Dort ist es nachgerade der Gipfel an Barbarei, sich etwa bei Tisch Schleim aus den Nasenlöchern in ein Tuch zu pusten. Was hierzulande weitgehend unreglementiert ist, ist anderswo Gegenstand der Interpretation. Es gilt als unanständig, unzivilisiert und eklig. Regelungslücken erzeugen semiotische Löcher. Sie fallen meist nur denen auf, bei denen sie geschlossen sind.
Es scheint ein Kennzeichen sogenannter Hochkulturen zu sein, Wünsche und Bedürfnisse nicht (nur) real, sondern (auch und) vor allem symbolisch zu verarbeiten. Wer hierzulande Abenteuerlust verspürt, geht nicht in die Wildnis, sondern raucht Marlboro oder Camel und fährt mit dem allradgetriebenen Geländewagen ins Büro. Große Männer, und solche, die sich für wichtig halten, haben große Büros, große Schreibtische, große Sessel, und rauchen dicke Zigarren. Es handelt sich hierbei um die Symbolisierung sozialen Revieranspruchs. Natürlich ist das karikierend überzeichnet. Aber wahr daran ist: Wenn wir unsere Lebensform verstehen wollen, müssen wir sie in ihrer Zeichenhaftigkeit interpretieren. Wählen wir als Beispiel die Wohnung. Sie ist ein Teil unserer Lebensform, der weitgehend semiotisiert ist; insbesondere das Wohnzimmer. Alphons Silbermann spricht von einem „Symbolmilieu“. Wir leben in einer Kultur, in der es üblich ist, Gäste bei sich zu Hause zu empfangen und zu bewirten. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Struktur unserer Wohnungen. Es folgt beispielsweise daraus, dass der „öffentliche“ Teil der Wohnung zur Selbstdarstellung genutzt wird. Öffentlich zugängliche Bereiche der Wohnung sind in erster Linie Flur und Wohnzimmer, in zweiter Linie Küche und Bad. Der Besucher soll von dem ihm zugänglichen Teil der Wohnung auf den Rest der Wohnung und letztlich auf die Persönlichkeit des Bewohners selbst schließen. Untersuchungen zeigen, dass diesen Bereichen die größte Sorgfalt und der größte finanzielle Aufwand bei der Einrichtung und Gestaltung gewidmet wird. Auch dies dient der Symbolisierung sozialen Revieranspruchs.
Betrachten wir für einen Augenblick das Wohnzimmer des deutschen Mittelstandes im Lichte seiner Zeichenhaftigkeit als Beispiel unserer Alltagssemiotik.
1. Ein Vergleich der Grundrisse handelsüblicher Fertighäuser macht folgendes deutlich: Während das Kinderzimmer im Durchschnitt 8 % der Gesamtfläche ausmacht, entfallen auf das Wohnzimmer durchschnittlich 30 % der Wohnfläche. Insgesamt gilt: Je größer die Gesamtfläche ist, desto geringer ist der prozentuale Anteil des Kinderzimmers; der Zuwachs geht stets zugunsten der Wohnzimmergröße. Das Wohnzimmer ist gleichsam die republikanische Weiterentwicklung des aristokratischen Salons des 18. und 19. Jahrhunderts. Es „erinnert“, wie Mitscherlich feststellt, „an ein Fürstenzimmer ohne das Schloß im Hintergrund“.
2. Früher, etwa bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gab es die sogenannte „gute Stube“. Das war ein Raum, der ausschließlich Repräsentationszwecken diente. Er wurde nur genutzt, um Besuch zu bewirten und zu besonderen familiären Anlässen. Der Tatsache, dass die gute Stube auch nur zu diesen Anlässen beheizt wurde, verdankte sie die ironische Bezeichnung „die kalte Pracht“. Das alltägliche Leben fand in der Küche statt. Unser heutiges Wohnzimmer hat beide Funktionen zu erfüllen. Es ist Repräsentationsraum und Hauptlebensraum. Damit aber sind Konflikte programmiert. Als Repräsentationsraum muss er stets „vorzeigbar“ sein, d.h. sauber und aufgeräumt, als Hauptlebensraum kann er das nicht sein. Das hat mindestens drei Konsequenzen, die jedem (mindestens vom Hörensagen) vertraut sind: a) Es gibt einen permanenten Konflikt mit den Kindern, die da spielen wollen, wo die Erwachsenen sich aufhalten, dies aber nur in bescheidenem Umfang dürfen, da das Wohnzimmer zu jeder Zeit Repräsentationszwecken dienlich sein muss. b) Die sogenannte Essecke des Wohnzimmers wird, um „unnötiges Durcheinander“ zu vermeiden, nur benutzt, wenn Gäste zu Besuch kommen. Ansonsten wird für die alltägliche Nahrungsaufnahme der Familienmitglieder in die zu kleine Küche ein kleiner Esstisch gezwängt. c) Fröhlichere Feste werden in den Partykeller, so vorhanden, ausgelagert, um die Repräsentativität des Wohnzimmers nicht zu gefährden.
3. Wohnzimmereinrichtungen zeigen, wie Untersuchungen belegen, ein überraschend hohes Maß an Konformität, und zwar in zunehmendem Maße mit abnehmendem Sozialprestige ihrer Bewohner. Wohnzimmer der unteren Mittelschicht weisen ein höheres Maß an Konformität auf als Wohnzimmer der gehobenen Mittelschicht, und diese wiederum sind weniger individuell als Wohnzimmer der sozialen Oberschicht. Auch dies ist, wie wir gleich sehen werden, eine Folge ihres Zeichencharakters.
Das Wohnzimmer einer Familie der unteren Mittelschicht ist üblicherweise möbliert mit schweren Polstersitzmöbeln, bestehend aus einem dreisitzigen Sofa und zwei mächtigen Sesseln in überladenem Mischstil oder im sogenannten altdeutschen Stil. Ein Blick in die entsprechenden Werbebroschüren der Möbelhäuser zeigt, dass in den Beschreibungen der Abbildungen Adjektive wie schwer, repräsentativ, rustikal, massiv eine besondere Rolle spielen. Das Polsterensemble nennt man wie das obligatorische Petersiliensträußchen auf dem Tomatenachtel am Tellerrand eines Jägerschnitzels bezeichnenderweise „Garnitur“. Zu der Polstergarnitur kommt ein halbhoher Couchtisch, ein Wohnzimmerbüffet mit Glasvitrine für das Schaugeschirr oder, alternativ dazu, eine...
Erscheint lt. Verlag | 15.1.2018 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Arbitrarität • Aristoteles • Bedeutung • Begriff • Frege • Lehrbuch • Linguistik • Linuistik • Motiviertheit • Platon • Repräsentationalismus • Semiotik • Sprachwissenschaft • UTB • Wittgenstein • Zeichen |
ISBN-10 | 3-8463-4878-3 / 3846348783 |
ISBN-13 | 978-3-8463-4878-9 / 9783846348789 |
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