Im Teufelskreis der Lust (Wissen & Leben) (eBook)
288 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-16933-1 (ISBN)
Ingo Schymanski, Dr. med., studierte Medizin in Marburg und Freiburg. Anschließend Facharztweiterbildung in internistischen und chirurgischen Krankenhausabteilungen in Berlin. Als Facharzt fu?r Allgemeinmedizin mit den Tätigkeitsschwerpunkten Suchtmedizin, Psychosomatik und Psychotherapie in Ulm und seit 2017 in Zürich niedergelassen.
Ingo Schymanski, Dr. med., studierte Medizin in Marburg und Freiburg. Anschließend Facharztweiterbildung in internistischen und chirurgischen Krankenhausabteilungen in Berlin. Als Facharzt für Allgemeinmedizin mit den Tätigkeitsschwerpunkten Suchtmedizin, Psychosomatik und Psychotherapie in Ulm und seit 2017 in Zürich niedergelassen. Hans Hopf, Dr. rer.biol.hum., ist einer der renommiertesten Kinder- und Jugendlichen-Analytiker Deutschlands; Dozent, Supervisor und Ehrenmitglied der Psychoanalytischen Institute Stuttgart, Freiburg und Würzburg. 2013 erhielt er den Diotima- Ehrenpreis der Deutschen Psychotherapeutenschaft. Er hat zahlreiche Bücher publiziert.
1 Das Belohnungssystem in unserem Kopf
1.1 Das „Lustzentrum“: Die Quelle von Glück und Zufriedenheit
Was Mensch und Tier antreibt, ist das sogenannte „Lust-“ oder auch „Belohnungszentrum“ – eine ungefähr erbsengroße Ansammlung von Nervenzellen mitten im Gehirn. Weniger als seine Dimension verdeutlicht seine Lage die Wichtigkeit dieser Struktur: Das restliche Gehirn wirkt wie um das „Lustzentrum“ herum gebaut. Was kein Zufall ist: Das Belohnungszentrum ist von zentraler Bedeutung für unser Gehirn, für unseren Körper, ja, für unser ganzes Leben. Es garantiert im natürlichen Umfeld sogar den Erhalt der ganzen Art, wahrscheinlich sogar des ganzen Ökosystems. Wir werden sehen, auf welche Weise das Belohnungszentrum diese Aufgaben bewältigt.
Stechen wir mit einer Elektrode in diese Nervenzellansammlung und geben Versuchstieren oder Menschen die Möglichkeit, sich über einen schwachen Stromstoß selbst zu reizen, tun die Betroffenen den ganzen Tag nichts anderes mehr, als eben ihr Belohnungszentrum zu stimulieren. Sie vernachlässigen die Nahrungsaufnahme genauso wie die Körperpflege oder ihre sozialen Kontakte. Nicht einmal an Sex haben sie noch Interesse. Sie trachten nur noch danach, auf allereinfachste Weise ihre Belohnungsstrukturen zu stimulieren – per Tastendruck. Der „Genuss“ des über den Tastendruck vermittelten Stromstoßes ist so groß, dass beispielsweise die Ratten in den ersten Versuchen von Olds und Milner (1954) den entsprechenden Hebel mehr als tausend Mal pro Stunde auslösten – bis zur völligen Erschöpfung, ja sogar bis zum Tod.
Da der Mensch in aller Regel nicht über Elektroden zur Eigenstimulation des entsprechenden Hirnbereichs verfügt, greift manch einer zu chemischen Hilfsmitteln wie Alkohol und Nikotin, natürlich aber auch zu „harten Drogen“ wie Heroin und Kokain. Diese Substanzen führen zu einer exzessiven Stimulation des Belohnungszentrums. Die Folgen dieser chemischen Reizung präsentieren sich beim Betroffenen häufig leider genauso eindrücklich wie in den beschriebenen Versuchen bei Tieren: Interessensverlust, Verwahrlosung und selbst bleibende gesundheitliche Schäden werden in Kauf genommen. Nichts erscheint mehr wichtig außer der Droge.
Rauschmittel bewirken deshalb angenehme Gefühle, weil sie genau die gleichen Hirnstrukturen erregen wie die von Natur aus vorhandenen belohnenden Botenstoffe im Gehirn. Auch „normale“ Tätigkeiten wie Essen, Trinken, Sex, Erfolg oder sogar Bewegung (Sport) und Spiel können das Belohnungszentrum stimulieren. Aus diesem Grund bergen alle hier genannten Substanzen und Tätigkeiten prinzipiell eine Suchtgefahr in sich, selbst wenn sie „nur“ natürliche Botenstoffe benutzen wie das als „das Lusthormon schlechthin“ bekannte Dopamin. Selbstverständlich gibt es auch andere Botenstoffe, die das Belohnungszentrum stimulieren (z. B. Glutamat, Endorphine, Endocannabinoide, Oxytocin). Zum prinzipiellen Verständnis der Belohnungsmechanismen aber reicht die Konzentration auf sehr wenige Botenstoffe vollständig aus. Um den Überblick zu behalten, beschränkt sich die Darstellung in diesem Buch im Wesentlichen auf zwei Transmitter: Das bekannte, „belohnend“ wirkende Dopamin sowie den „beruhigend“ wirkenden Botenstoff GABA, auf den wir gleich zu sprechen kommen.
Ebenfalls erwähnt sei hier der für das Lusterleben bedeutsame Botenstoff Glutamat. Glutamat spielt als belohnender Botenstoff eine dem Dopamin mindestens gleichwertige Rolle. Zudem können die Nervenzellen des Belohnungszentrums aus Glutamat durch eine einfache chemische Reaktion den Botenstoff GABA herstellen. Auf die Bedeutung dieser Besonderheit soll aber erst am Ende des Buches eingegangen werden (Kap. 5.8). Für das prinzipielle Verständnis des „Teufelskreises“ reicht die Konzentration auf Dopamin und GABA vollständig aus.
Halten wir also fest: Egal ob es sich um künstliche oder natürliche Auslöser handelt – was bei Mensch und Tier das Belohnungszentrum stimuliert, wird als angenehm empfunden. Deswegen verführen Tätigkeiten und Stimulanzien, die das „Lustzentrum“ erregen, stets dazu, die Lust vermittelnde Tätigkeit zu wiederholen.
1.2 Sichtlich glücklich: Das „Lustzentrum“ in Aktion
Mit den bildgebenden Methoden der modernen Hirnforschung lässt sich das „Lustzentrum“ sichtbar machen. Denken oder tun wir etwas Angenehmes, wird das Belohnungszentrum stimuliert und beginnt in der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) als orangefarbener Bezirk zu „leuchten“ (Abb. 1). In Wirklichkeit leuchtet es natürlich nicht; das fMRT macht lediglich den bei Stimulation vermehrten Stoffwechsel sichtbar.
Abb. 1 Das Belohnungszentrum „bei der Arbeit“, wie es sich in der funktionellen Magnetresonanztomografie darstellt (fMRT) (aus: Spitzer 2008).
Auch wenn wir die Stimulation des Belohnungszentrums mit moderner Technik sichtbar machen können, erschließt sich daraus noch keineswegs seine komplette Funktion. Es existieren nämlich auch Stoffe, die das Belohnungszentrum nicht stimulieren und dennoch eine starke Abhängigkeit bewirken können.
Denn das Belohnungszentrum (wissenschaftlich korrekt auch als Nucleus accumbens bezeichnet) ist keineswegs der Endpunkt von Lust erregenden Tätigkeiten. Vielmehr ist es eine Zwischenstation. Das Belohnungszentrum sendet bei Erregung nämlich selbst Botenstoffe aus. Der wichtigste all dieser Transmitter ist der stärkste dämpfend wirkende Botenstoff im Gehirn. Er besteht – ähnlich wie Dopamin – aus einer einfachen chemischen Verbindung, aus der sich sein Name ableitet: Gamma-Amino-Butyric-Acid, kurz GABA.
Wir kennen die Wirkung von GABA im Gehirn sehr genau. Denn die Medizin verfügt über Substanzen, die an den gleichen Rezeptor binden wie GABA. Das bekannteste derartige Medikament heißt Valium®. In den 70er-Jahren war es als „Tranquilizer“ und Lifestyle-Droge weit verbreitet. Kein Wunder, denn Valium® und alle Medikamente, die die Wirkung von GABA imitieren, simulieren im Gehirn die „Endstrecke des Glücks“: Eine Tablette Valium® gaukelt dem Hirn vor, einen ganzen Tag voller Lust vermittelnder Tätigkeiten verbracht zu haben. Ohne auch nur einen Finger zu krümmen, fühlen wir uns geborgen, entspannt und wohlig müde. So ist es kein Wunder, dass von diesen Mitteln eine erhebliche Suchtgefahr ausgeht: GABA-artig wirkende Substanzen sind die am häufigsten missbrauchten Psychopharmaka überhaupt.
Valium® und andere Vertreter seiner Gruppe (Benzodiazepine) werden aufgrund ihrer Eigenschaften medizinisch eingesetzt. Benzodiazepine wirken:
- Angst lösend,
- Schlaf anstoßend und
- Muskel entspannend.
Da wir wissen, welche Wirkungen Valium® und verwandte Substanzen im Gehirn besitzen, können wir daraus ziemlich genau schließen, was die Freisetzung von GABA nach Stimulation unseres Belohnungszentrums letztlich bewirkt: Angstfreiheit, wohlige Müdigkeit und eine wunderbare Muskelentspannung. Wir werden auf diese drei Effekte von GABA noch verschiedentlich zurückkommen.
Exkurs
Der modernen Pharma-Forschung ist es gelungen, Medikamente zu entwickeln, die zwar nicht direkt an den GABA-Rezeptor binden, aber dennoch die gleichen Wirkungen entfalten. Forschungsziel war gewesen, Wirkstoffe zu finden, von denen keine Suchtgefahr mehr ausgeht. Die klinische Erfahrung allerdings zeigt, dass die gefundenen Substanzen (z. B. Gabapentin, Handelsname Lyrica®, oder sogenannte Z-Medikamente wie z. B. Zopiclon) genauso stark abhängig machen wie Benzodiazepine.
An dieser Stelle haben wir bereits einen Gutteil dessen verstanden, was Mensch und Tier antreibt: Einerseits ist es das Streben nach Lustempfinden, also der Stimulation des „Lustzentrums“ durch Dopamin und weitere belohnende Botenstoffe, was uns Lust, Selbstbewusstsein und Sinnerfüllung vermittelt. Andererseits wollen wir Befriedigung empfinden, die sich aus der Aktivität des Belohnungszentrums durch die Freisetzung des beruhigenden Transmitters GABA ergibt, der uns angstfrei macht, angenehm müde und entspannt. Aus diesen beiden Befunden ergibt sich ein Regelkreis, wie ihn Abbildung 2 veranschaulicht.
Das Belohnungssystem ist entwicklungsgeschichtlich sehr alt. Es ist schon in primitiven Lebensformen wie dem Fadenwurm (Caenorhabditis elegans) nachweisbar (Chase et al. 2004). Kriecht der Fadenwurm durch eine bakterienreiche Gegend, wird sein aus nur wenigen Nervenzellen bestehendes Belohnungszentrum auf den Nahrungsreiz hin durch Dopamin stimuliert und stößt GABA aus. GABA hemmt beim Fadenwurm die Nervenzellen, die für die Vorwärtsbewegung des Wurms verantwortlich sind. Durch diesen Mechanismus verweilt der Fadenwurm in Gebieten, in denen er seine Lieblingsspeise findet: Bakterien. Es muss uns also nicht verwundern, wenn sich heute unsere Schritte immer noch verlangsamen, wenn wir hungrig an einem Restaurant vorübergehen: Im Prinzip gehorchen wir dem gleichen natürlichen Mechanismus wie der Fadenwurm. Die Wahrnehmung von etwas, was Lust stimuliert, führt zur Freisetzung von GABA. Und GABA hemmt alle Aktivitäten, die uns von der Quelle der Lust entfernen wollen.
Abb. 2 Das Belohnungssystem unseres Gehirn, dargestellt als Regelkreis. NAC = Nucleus accumbens („Lustzentrum“), A = Aktivierung (psychovegetative und psychomotorische Erregung), B = Belohnungsneurone (Speicherzellen für Dopamin, Glutamat...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2018 |
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Reihe/Serie | Wissen & Leben | Wissen & Leben |
Vorwort | Hans Hopf |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | ADHS • Alkoholsucht • Angststörung • Antidepressiva • Aufmerksamkeitsdefizitstörung • Belohnungssystem • Bipolar • Depression • Depressive • Entschleunigung • Essstörung • Glück • Glücksforschung • Habituation • Habituationsmodell • Lebenspläne • Lebenszufriedenheit • Lustzentrum • Menschenbild • Persönlichkeitsentwicklung • Phänomen • Psychische Erkrankungen • Psychologe • Psychologie • Psychotherapie • Schlafstörung • Selbstverwirklichung • Spiritualität • Störung • Stress • Sucht • Verhaltensforschung • Zivilisationskrankheiten • Zufriedenheit |
ISBN-10 | 3-608-16933-4 / 3608169334 |
ISBN-13 | 978-3-608-16933-1 / 9783608169331 |
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