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Der Vampir (eBook)

Ein europäischer Mythos
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
368 Seiten
Böhlau Verlag
978-3-412-50417-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Vampir -  Thomas M. Bohn
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In nahezu allen Epochen und Kulturen hat es Geschichten von Wiedergängern gegeben, die nach dem Tode ihr Unwesen treiben, oder von unheimlichen Blutsaugern, die nachts aus ihren Gräbern steigen und sich ihre Opfer unter den Lebenden suchen. Wie alle Mythen verändern sich auch Vampirgeschichten stetig und passen sich dem Zeitgeist an. So gilt seit dem Erscheinen des Dracula-Romans beispielsweise Transsilvanien, das 'Land jenseits des Waldes', irrtümlich als die Heimat der Vampire. Thomas Bohn hat sich mit den Fragen, wann und weshalb das östliche Europa zum Refugium der Blutsauger stilisiert wurde, auf die Suche nach den Ursprüngen des Vampirismus gemacht. Der Osteuropahistoriker folgt den Metamorphosen des Vampirs, indem er die Angst der kleinen Leute vor den Seuchenherden aufgeblähter Leichen von der Blutsaugermetapher der Gelehrten unterscheidet. Seine Reise in die Vergangenheit zeigt, dass das Bild des Blutsaugens im lateinischen Abendland lange vor der Entdeckung der Vampire im Donau-Balkan-Raum geprägt wurde. In diesem Sinne rehabilitiert dieses kenntnisreiche Buch den Vampir als einen europäischen Mythos.

Thomas M. Bohn ist Professor für Geschichte Osteuropas an der Universität Gießen.

Thomas M. Bohn ist Professor für Geschichte Osteuropas an der Universität Gießen.

1 · DER VAMPIR ALS IMPERIALE KATEGORIE


„Man verstehet dadurch todte menschliche Körper,
welche aus Gräbern hervor spatzieren,
den Lebendigen das Blut aussaugen,
und sie dadurch umbringen sollen.“

ZEDLERS UNIVERSALLEXIKON, 1745

„… das ist der Name von angeblichen Dämonen,
die nachts lebendigen Körpern
das Blut entziehen und es Leichen übertragen,
denen es offenbar aus Mund, Nase und Ohren fließt.“

ENCYCLOPÉDIE OU DICTIONNAIRE RAISONNÉ, 1765

Bei der Definition des Vampirismus kreuzen sich bis heute Missverständnisse der Aufklärung mit Fehldeutungen der Romantik. Im Endeffekt werden dadurch stets aufs Neue negative Stereotype über das östliche Europa produziert. Woher kommt das?

In den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts revoltierten zuerst die Serben und dann die Griechen gegen die Herrschaft der Osmanen auf der Balkanhalbinsel. Von den nationalromantisch gesinnten Intellektuellen im übrigen Europa wurde diese Entwicklung mit Interesse und Sympathie verfolgt. Debatten über die mächtepolitische Konstellation gingen dabei einher mit der Stereotypisierung des exotischen Lokalkolorits. Im Begriff „Orientalische Frage“ fand dieser Diskurs einen symbolträchtigen Ausdruck. Weil aber seit der vergeblichen Belagerung Wiens im Jahre 1689 von einer „Türkengefahr“ nicht mehr ernstlich die Rede sein konnte, avancierte die südosteuropäische Peripherie in der abendländischen Sichtweise zum Hort der Rückständigkeit.1

Dieser Ansicht entsprechend veröffentlichte der französische Schriftsteller Prosper Mérimée im Jahre 1827 anonym die aus dem fiktiven Werk des ausgedachten Barden Hyacinthe Maglanovich schöpfende Sammlung „Die [<<17||18>>] Gusle oder Sammlung illyrischer Poesie, gefunden in Dalmatien, Bosnien, Kroatien und der Herzegowina“ (La guzla, ou choix de poésies illyriques, recueilles dans la Dalmatie, la Bosnie, la Croatie et l’Herzegowine). Bei der Gusle handelt es sich um eine Schalenhalslaute, die traditionell beim Vortrag von Heldenliedern zum Einsatz kam, in Mérimées Interpretation aber nicht nur bei der Beschwörung des jahrhundertelangen Befreiungskampfes gegen die Türken Verwendung fand, sondern auch bei der Zelebrierung vorsintflutlicher Abwehrriten gegen Vampire.

Obgleich sich der französische Schriftsteller unter Berufung auf die antiken Illyrer auf die nordwestlichen Landstriche der Adria konzentrierte und sowohl die Bulgaren und Serben als auch die Albaner und Griechen aus seiner Betrachtung ausklammerte, übernahm der deutsche Dichter Wilhelm Gerhard im Jahre 1828 einen Großteil des frei erfundenen Materials in seine dem balkanischen Hochland gewidmete Sammlung „Wila. Serbische Volkslieder und Heldenmärchen“. Gerhard wählte lediglich statt der Gusle die Vila als Aufhänger, einen weiblichen Naturgeist der slawischen Volksmythologie.

Inhaltlich von Mérimées Betrug genauso hinters Licht geführt wie Gerhard, versuchte sich an der Jahreswende 1832/33 auch der russische Nationaldichter Alexander Puschkin an diesem Stoff (er bekam allerdings noch unmittelbar vor der 1835 erfolgten Publikation seines Werkes Wind von der Mystifikation). Irritierend wirkt die geographische Zuordnung in Puschkins Titel „Lieder der westlichen Slawen“ (Pesni zapadnych slavjan), geht es inhaltlich doch weniger um das Schicksal der Polen, die Ende des 18. Jahrhunderts die Aufteilung ihres Staatsgebiets durch die kontinentalen Großreiche über sich ergehen lassen mussten, als vielmehr um das Los der orthodoxen Christenheit unter dem „Joch“ der osmanischen Herrschaft.

Alles in allem spiegelt die bewusst lancierte oder unbewusst tradierte balkanische Fiktion die Tatsache wider, dass die Auseinandersetzung mit dem Vampirismus im westlichen wie im östlichen Europa von fehlgeleiteten Projektionen bestimmt wurde. Der Vampir fungierte im Sinne eines beliebig einsetzbaren kulturellen Codes als eine imperiale Kategorie. Es handelte sich bei ihm im wörtlichen und übertragenen Sinne um ein Grenzphänomen, das an den Rändern der Vielvölkerreiche oder in den Grauzonen der westlichen [<<18||19>>] Hemisphäre verortet wurde. Namentlich in der Ballade vom unverhofften Gast, der die fiktive Familie des Kroaten Konstantin Jakubović (oder „Constantin Yakoubovich“ bei Mérimée, „Konstantin Jakubowitsch“ bei Gerhard, „Marko Jakubovič“ bei Puschkin) im dalmatinischen Hochland heimsucht, manifestiert sich der gestörte Blick der europäischen Kulturhauptstädte Paris, Leipzig und St. Petersburg auf die balkanische Peripherie:

Quasi aus dem Nichts taucht ein serbischer Krieger auf, der im Kampf mit den Türken eine lebensgefährliche Verletzung erlitten hat. Unmittelbar nach seiner Ankunft stirbt er auf Konstantin Jakubovićs Hof. Wegen seiner militärischen Verdienste erhält er ungeachtet seines orthodoxen Bekenntnisses auf dem katholischen Friedhof ein Ehrengrab. Damit nimmt das Schicksal eine unheilvolle Wendung. Denn wenig später erkrankt Konstantin Jakubovićs Sohn und beginnt dahinzusiechen. Schließlich entdeckt ein weiser Eremit am Hals des Jungen einen roten Fleck, den er auf den Biss eines Vampirs zurückführt. In Verdacht gerät sofort der fremde Krieger. Nach Öffnung seines Grabes findet sich – wie nach der kurzen Bestattungszeit auch nicht anders zu erwarten – eine frisch anmutende Leiche mit blutigen Lippen. Derart seiner Untaten überführt, droht dem vermeintlichen Vampir die Pfählung. Allerdings weiß sich der Tote seiner Vernichtung durch die Flucht zu entziehen. Immerhin können sich nun der Kranke und sämtliche Familienangehörige mit der Erde des Vampirgrabes einreiben und auf diese Weise die Abwehrkräfte ihrer Körper stärken. Darüber hinaus weiß der Eremit mittels Weihrauchs und Gebets die dreimalige Rückkehr des Untoten in Gestalt eines Riesen, eines Kriegers und eines Zwerges erfolgreich abzuwehren. Auf diese Weise kommt der Spuk zu einem Ende.

Wie also imaginierten Vertreter des aufgeklärten Europa die südslawische Volksüberlieferung? Abgesehen davon, dass es sich bei diesem authentisch anmutenden Lied um einen „Fake“ handelt, vertraten seine Interpreten Ansichten, die für die Rezeption des Vampirismus symptomatisch sind. So antwortete etwa Puschkin in einer Fußnote auf die Frage „Was sind Vampire?“ seinem poetologischen Credo von Kürze und Exaktheit entsprechend weniger ausschweifend als seine westeuropäischen Konterparts, indem er zwei konstruierte, südslawisch anmutende Bezeichnungen und einen altrussischen oder [<<19||20>>] ukrainischen Begriff als Übersetzung heranzog – „vurdalaki, vudkodlaki, upyri“ – und die Debatte der Aufklärung bilanzierte: „Tote, die aus ihren Gräbern kommen und das Blut lebender Menschen aussaugen“.2 So lautete auf den Punkt gebracht die europäische Sicht der Dinge.

War mit dem Vampirbegriff im Zuge des „mental mapping“ im Zeitalter der Aufklärung noch ein orientalisches Stereotyp konnotiert, so verschob sich die Bedeutung in der Epoche der Romantik und des Nationalismus zu einem slawophoben Klischee. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass Prosper Mérimée das Patent auf den Vampirzahn beanspruchen kann. Er sorgte mit seiner Inszenierung für die kognitive Verankerung der reißerischen Pose des Vampirs, lange bevor Christopher Lee als zwielichtiger Graf Dracula die Kinos erobern und eine Visualisierung des Vampirbisses auf der Leinwand zelebrieren konnte. Schließlich ist bemerkenswert, dass der Franzose Mérimée und der Deutsche Gerhard, nicht aber der Russe Puschkin die Ursache der Wiedergängerei benennen: die Bestattung eines „Griechen“, will heißen eines Anhängers der orthodoxen Kirche, in geweihtem „lateinischem“ Boden. Was in Bezug auf das Zarenreich vor dem Hintergrund des napoleonischen Russlandfeldzuges von 1812 und des gescheiterten Dekabristenaufstandes, der russischen Offiziersrevolte von 1825, auffällt, ist die Tatsache, dass Puschkin in Ausblendung jeglicher Entwicklungsdefizite seines Heimatlandes das Diktum Katharinas II. verinnerlicht hatte: „Russland ist eine europäische Macht!“ Europa war Puschkin zufolge somit sowohl durch militärische Stärke als auch durch politische Aufklärung definiert, nicht aber durch konfessionelle Eigenart. Dessen ungeachtet spie die katholisch geweihte Erde in Mérimées und Gerhards Lesart einen Orthodoxen nach der Bestattung wieder aus. Damit wurde das Phänomen des Vampirismus in den Zusammenhang eines kulturellen Gegensatzes gestellt. Es handelte sich dabei wohlgemerkt um ein Kunstprodukt, das der Phantasie vermeintlich fortschrittlich gesinnter Köpfe entsprungen war, welches einen „clash of civilizations“ indizierte. [<<20||21>>]

Vom Dorfmonster zum Vampirgrafen


Mit dem Donau-Balkan-Raum hat die von Mérimée und Konsorten vertretene Vampirdefinition zwar wenig oder nichts zu tun, doch fand in der Dichtung seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine neuerliche...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2016
Zusatzinfo 10 s/w-Abb., 2 Landkarte(n)
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Blutsauger • Donau-Balkan-Raum • Graf Dracula • polnisch-litauische Union • Siebenbürgen • Transsilvanien • Vampirismus • Wiedergänger und Nachzehrer
ISBN-10 3-412-50417-3 / 3412504173
ISBN-13 978-3-412-50417-5 / 9783412504175
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