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Im Dienst der Staatssicherheit (eBook)

Eine soziologische Studie über die hauptamtlichen Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes
eBook Download: PDF
2017 | 1. Auflage
323 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43392-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Dienst der Staatssicherheit -  Uwe Krähnke,  Anja Zschirpe,  Matthias Finster,  Philipp Reimann
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Mielkes Männer und Frauen Obwohl das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als zentrales Herrschaftsinstrument der DDR seit der »Wende« 1989 im Blickfeld der Öffentlichkeit steht, weiß man auch heute noch sehr wenig über die hauptamtlichen Mitarbeiter dieses Geheimdienstes. Als »Schild und Schwert der Partei« bildeten die 78.000 Berufssoldaten und -offiziere in den MfSKreisdienststellen, Bezirksverwaltungen und der Berliner Zentrale das Rückgrat des SED-Regimes. Wie kamen »ganz normale Menschen« dazu, in diesen Apparat einzutreten, dort langfristig mitzuarbeiten, sich in die Strukturen einzufügen und diese damit zu stabilisieren? Was waren ihre Motivationsgrundlagen und Wertvorstellungen? Wie gestaltete sich ihr Lebensalltag im Dienst der Staatssicherheit? Was wurde aus ihnen nach der Auflösung des MfS und dem Zusammenbruch der DDR? Wie bewerten sie selbst ihre MfS-Vergangenheit? Dieses Buch gibt, gestützt auf über 70 Interviews, in denen ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der »Stasi« ihre Lebensgeschichten erzählen, die Antworten.

Uwe Krähnke, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Anja Zschirpe, Matthias Finster und Philipp Reimann arbeiten dort am DFG-Projekt »Hauptamtliche Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit« mit.

Uwe Krähnke, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Anja Zschirpe, Matthias Finster und Philipp Reimann arbeiten dort am DFG-Projekt »Hauptamtliche Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit« mit.

Inhalt 6
Vorwort 12
Einleitung 16
Erstes Kapitel: Forschungsperspektive und methodisches Vorgehen 26
1. Der Dienst im MfS als sinnstrukturierte soziale Ordnung 27
2. Untersuchungsfokusse und zentrale Leitfrage 32
3. Datenerhebung und -auswertung 35
Zweites Kapitel: Prototypische Lebensverläufe 40
1. Herr Buche: »Bei uns können Sie alles werden, auch General – aber so weit hab ich es nicht gebracht.« 45
2. Herr Linde: »Für die Partei hätte ich alles gemacht.« 49
3. Herr Kastanie: »Man hätte selber das und das anders machen können – im Ansatz war es richtig.« 55
4. Herr Eibe: »Irgendwo hab ich die Welt mal retten und besser machen wollen.« 61
5. Frau Lärche: »Dass man mich ausgesucht hatte, ich als kleines Mädchen vom Lande.« 67
6. Frau Kiefer: »Ich kann von mir behaupten, dass ich immer geachtet wurde und nie Probleme hatte.« 71
7. Herr Birke: »1989 hab ich gesagt: Jetzt ist Schluss. Ich nutze die Gelegenheit.« 77
8. Herr Erle: »Wenn man was verändern will, muss man schließlich dabei sein.« 83
9. Herr Robinie: »Ich entscheide das selber, was ich mache.« 87
10. Herr Mandel: »Da kommt man früher oder später dann zur offiziellen Meinung in Widerspruch.« 93
Drittes Kapitel: Dienstlaufbahnen und Karrierewege im MfS 100
1. Rekrutierungspraxis und -felder 101
1.1. Auswahl der Person und Sicherheitsüberprüfung 103
1.2. Werbegespräche und Vorschlagsbestätigung 105
1.3. Dienstantritt und Verpflichtung 106
1.4. Einarbeitung und Vereidigung 107
1.5 Rekrutierungsfelder 107
2. Motive für den Eintritt 113
3. Aufstiegschancen und Karrierestau 119
4. Einkommen, Gratifikation und Privilegien 126
Viertes Kapitel:Dienstalltag und Privatleben 132
1. Behördenroutine statt Agentenabenteuer – Dienstalltag im MfS 133
1.1. Monotone Tätigkeit, akuter Zeitdruck und fragmentiertes Wissen als Facetten eines Überlastungssyndroms 133
1.2. Überzogene Arbeitszeiten und sozialistische Planerfüllung 140
2. Auch daheim immer im Dienst – Das Privatleben 147
2.1. Einfluss des MfS auf die Partnerwahl und das familiäre Leben 147
2.2. Tabuisierte Westkontakte 156
2.3. Sozialräumliche Abschottung 160
Fünftes Kapitel: Mitarbeiterkontrolle und(Selbst-)Disziplinierung 162
1. Kontrolle und Disziplinierung als soziale Praxis im MfS 165
2. Registrierung auffälliger Verhaltensweisen 168
3. Bestrafung auffälliger Verhaltensweisen 173
4. Mitarbeiterführung durch Dienstvorgesetzte 177
5. Politisch-ideologische und moralische Erziehungdurch die Partei 185
6. Von der Normalität zur Norm. Zur sozialen Praxis der fremdgeführten Selbstdisziplinierung 201
Sechstes Kapitel: Tschekistischer Habitus und die »feinen« Unterschiede im MfS 208
1. Reflexiver Konformismus und übergriffige Organisation – zum Passungsverhältnis zwischen Mitarbeiter und Organisation 209
2. Totale Unterwerfung als multiple Inklusion –zur Organisationsmitgliedschaft im MfS 213
3. »Genossen erster Kategorie« – zur Vergesellschaftung des leninistischen Untergrundhabitus im Staatssozialismus 221
4. Der gebrochene Habitus der »Tschekisten« 228
5. Die feinen Unterschiede unter den MfS-Mitarbeitern 237
5.1. Biografische Einpassung der geheimdienstlichen Tätigkeit 238
5.2. Altersunterschiede und Generationenzugehörigkeit 245
5.3. Vom ausführenden Mitarbeiter zum Minister. Zur Stellung der MfS-Mitarbeiter im Herrschaftssystem der DDR 253
5.4. Frauen unter Männern 261
Siebtes Kapitel:Ankommen im ehemaligen Feindesland 266
1. Die Staatssicherheit in Auflösung 269
2. Leben nach dem »Dienst für die Staatssicherheit« 274
2.1. Wehmütige Traditionalisten 274
2.2. Ungebrochen Überzeugte 276
2.3. Resignativ Passive 277
2.4. Leistungsorientierte Pragmatiker 279
2.5. Heilsuchende Konvertiten 281
3. Der Blick zurück 282
Achtes Kapitel:Die Banalität der »Stasi« 286
1. Entprivatisierung und Gefolgschaft aus Gewohnheitund als Erwartung 289
2. Fragmentierte Verantwortlichkeit, soziale Distanz und mangelnde Empathie gegenüber den »Feinden« 293
3. Über die realen Konsequenzen einer konformistischenRealitätsdeutung 299
Danksagung 302
Literatur 304
Abkürzungsverzeichnis 314
Anhang 316

Vorwort

Ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zum Sprechen zu bringen, gehört zu den schwierigsten Unterfangen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der DDR. Erstmals nach der Handvoll Interviewbände, die 1990/91 die Neugierde der Öffentlichkeit befriedigten, legen Uwe Krähnke und seine Mitstreiter mit diesem Band eine soziologische Studie vor, die frühere MfS-Offiziere verschiedenster Altersgruppen, Dienstränge und Lebenswege in Interviews einbezieht. Sie haben mit 72 ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausführlich über den Dienst beim MfS und ihre weiteren Lebenswege gesprochen. Allein schon dieser Zugang zum 'Feld' macht ihre Studie zu einem Meilenstein.
Dazwischen lagen fünfundzwanzig Jahre, in denen hauptsächlich die aktengestützte Rekonstruktion von ideologischer Formung und Feindbild-pflege, Rekrutierungspolitik, inneren Strukturen, Bezahlung, Disziplinarge-schehen usw. betrieben wurde. Ein solcher Zugriff machte es möglich, die 'Black Box' Stasi-Apparat zu ergründen, aber er stößt naturgemäß an Grenzen, wenn es um das subjektive Empfinden der MfS-Offiziere in ihrer alltäglichen Dienstverrichtung und ihre rückblickende Selbstsicht geht. Zum anderen verteidigte eine Schar von ehemaligen Obristen und Generälen aus Standesorganisationen wie dem 'Insiderkomitee' lautstark ihre Verfolgungspraxis. Und sie wachte darüber, dass keine 'falschen Töne' aus dem Kreis der ehemaligen MfS-Mitarbeiter nach außen drangen.
Diese Etappe neigt sich dem Ende zu. Aktenstudien zum MfS-Personal fördern kaum noch Neuigkeiten zu Tage, und die Erzählungen der greisen Obristen locken allenfalls noch einige gleichaltrige Mitstreiter an.
Damit sind hergebrachte Paradigmen der Täterforschung einem frischen Blick zu unterziehen: Wie monolithisch war das Stasi-Personal? Was prägte ihr Selbstverständnis? Was wurde aus ihnen nach der Auflösung dieses Ministeriums und dem Beitritt der DDR zu ihrem früheren 'Operationsgebiet'?
Mit seinen soziologischen Interpretationsangeboten arbeitet das Autoren-team die inneren Logiken heraus, mit denen MfS-Mitarbeiter ihrem Leben im Getriebe der Geheimpolizei Sinn gaben. Wie es zeigt, formten die MfS-Mitarbeiter die Legitimationsideologie des 'Tschekismus', also die Berufung auf die Mission der Geheimpolizei der Bolschewiki seit 1917, in verschiedene Variationen eines praktischen Alltagsbewusstseins um. Hierzu gehörte das Gefühl einer 'dienenden Herausgehobenheit', aber auch der durchweg wiederkehrende Topos, selbst einer umfassenden gegenseitigen Beobachtung und Disziplinierung unterlegen zu haben - allerdings freiwillig im Unterschied zu den vom MfS Überwachten und Verfolgten.
Der 'tschekistische Habitus' prägte die MfS-Mitarbeiter mit einer frappierenden Intensität durch alle Generationen - und er bestimmt bis heute direkt oder indirekt ihre Erzählungen. Zugleich arbeitet das Autorenteam eine Typologie der konkreten Selbstverständnisse heraus, insbesondere für die Masse der jüngeren Mitarbeiter, die das vielbeschworene Erbe der Altkommunisten und Antifaschisten nicht mehr aus eigenem Erleben, sondern nur noch als familiäre und kollegiale Prädisposition kannten.
Ein Solitär ist auch die Untersuchung der Lebenswege seit 1990. Bislang gibt es nur wenige Schlaglichter zu den Berufswegen, zum Umgang mit der eigenen Biografie und zu der Frage, ob die ehemaligen Geheimpolizisten politisch und mental in System und Lebenswelt der vergrößerten Bundesrepublik 'angekommen' sind. Besonders anregend für die weitere Forschung ist schließlich auch die Beobachtung, dass Vernehmer oder Observationsexperten praktisch nie über ihre innere Haltung zur eigenen Rolle in der Verfolgungstätigkeit des MfS und über das Schicksal der von ihnen 'bearbeiteten' Personen sprechen. Auch die Anwerbe- und Führungstechniken gegenüber Informanten tauchen hier nicht auf. Machte diese Arbeit ihnen Freude? Verschaffte sie ihnen Befriedigung? Und wie verarbeiteten sie den Schock, als ihnen 'das Volk' seit Oktober 1989 unmissverständlich zeigte, was es von ihnen hielt?
Für die Ausblendung der mit diesen Fragen verbundenen 'kognitiven Dissonanz' liefern die Erzählungen über den arbeitsteiligen Apparat und die straffe interne Disziplinierung einen geradezu idealen Rahmen. Viel lieber sprechen sie über die Papierschlachten der überbordenden Bürokratie, die Überstunden oder den Beförderungsstau.
Die Studie von Uwe Krähnke und den Mitautoren stößt das Tor auf, um sich jenseits von Dienstvorschriften und Mielke-Reden ein Bild davon zu machen, wie MfS-Mitarbeiter 'tickten' und wie sie sich heute ins Verhältnis zur öffentlichen Wahrnehmung ihres früheren Berufsstandes setzen.

Jens Gieseke
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam


Einleitung

Das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war eine zentrale Säule des autoritären Herrschaftssystems in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Sein Aufgabenbereich ging weit über die nachrichtendienstliche Tätigkeit eines gewöhnlichen Geheimdienstes hinaus. Neben der Auslandsspionage, der Spionageabwehr und der Terrorismusbekämpfung war dieses Ministerium für die Informationsbeschaffung und -auswertung von Meinungen und Stimmungslagen in der Bevölkerung zuständig und ging gegen Oppositionelle und politisch Andersdenkende vor. Ein weiterer Schwerpunkt war die Kontrolle und Einflussnahme auf den Kulturbereich, die öffentlichen Medien und Kirchen. Selbst in die Bearbeitung von Ausreiseanträgen, die DDR-Bürger gestellt hatten, um in den Westen zu gelangen, sowie bei der Strafverfolgung von Fluchtversuchen war das MfS stark involviert. Diese Aufgabenfülle des DDR-Geheimdienstes war auch im Vergleich zu anderen Ostblock-Staaten ungewöhnlich. Abgesehen von der Sowjetunion, die ebenfalls ein eigenständiges Ministerium für Staatssicherheit hatte, wurden in den anderen sozialistischen Ländern polizeiliche und juristische Funktionen vom Innenministerium beziehungsweise von anderen staatlichen Ressorts übernommen (Kowalczuk 2013: 188f.). Gesetzlich waren Aufgaben, Rechte, Pflichten und Befugnisse des MfS nicht vollständig geregelt. Zudem gab es keine parlamentarische Kontrolle durch die Volkskammer der DDR, wie selbst hochrangige Führungskräfte des MfS im Nachhinein einräumen (Großmann/Schwanitz 2010: 44, 54).
Die herausgehobene machtpolitische Stellung des MfS innerhalb des administrativen Gefüges der DDR lässt sich nur verstehen, wenn das Abhängigkeitsverhältnis zur staatstragenden Partei, der SED, berücksichtigt wird. Das MfS war - wie es der immer wieder verkündete Slogan ausdrückte - 'Schild und Schwert der Partei'. Auf allen Ebenen, von der Kreis- über die Bezirksebene bis hin zum obersten Machtzirkel der DDR, dem SED-Politbüro, gab es einen direkten persönlichen Austausch und konkrete Absprachen zwischen den leitenden Kadern beider Herrschaftsinstitutionen. Hierbei ging es nicht nur um sicherheitsrelevante Aspekte, die die staatliche Ordnung und die Kontrolle öffentlicher Räume und Medien betrafen. Das MfS agierte auch im Parteiauftrag, wenn die Stimmungsberichte aus der Bevölkerung zusammengetragen wurden. Dies geschah in der Berliner Zentrale durch eine spezielle Diensteinheit, die zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG), und auf Bezirksebene durch die Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG). Abnehmer dieser Berichte waren die leitenden Parteifunktionäre der SED.
Von seiner Organisationsstruktur her war das Ministerium flächen-deckend im gesamten Land präsent. Neben der Berliner Zentrale gab es in jedem der 15 DDR-Bezirke eine Bezirksverwaltung. Ihnen waren insgesamt circa 200 regional verteilte Kreisdienststellen und 7 spezielle Objektdienststellen untergeordnet. In all diesen Einrichtungen waren 1989 circa 78.000 hauptamtliche Mitarbeiter mit militärischen Diensträngen vom Soldaten bis hin zum General beschäftigt.
Die eben genannte Mitarbeiterzahl weicht deutlich von der Angabe ab, die der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) ausweist. Laut BStU (MfS-Handbuch IV/1) betrug der Personenbestand der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter im Jahr 1989 91.015 Mitarbeiter (Gieseke 1995: 44). Diese Zählweise orientiert sich am §6 Abs. 4, Satz 1 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG): 'Hauptamtliche Mitarbeiter sind Personen, die in einem offiziellen Arbeits- oder Dienstverhältnis des Staatssicherheitsdienstes gestanden haben und Offiziere des Staatssicherheitsdienstes im besonderen Einsatz.' Bei dieser BStU-Zählung, die auf eine Dokumentenanalyse von Jens Gieseke zurückgeht und in der Zwischenzeit von vielen Forscherinnen und Forschern übernommen wurde, werden die circa 13.000 Unteroffiziere auf Zeit (UaZ) dazugerechnet, die ihren dreijährigen Wehrdienst im Wachregiment 'Feliks Dzierzynski' oder in den Wacheinheiten des MfS ableisteten. Die Einbeziehung dieser UaZ ergäbe für die vorliegende Studie keinen Sinn, da für sie so ziemlich alle untersuchten Charakteristika gar nicht zutreffen. Der Dienst 'für die Staatssicherheit' unterschied sich gravierend - je nachdem, ob sich die Person als Berufssoldat auf Lebenszeit verpflichtete und als ausführender, operativer oder leitender Mitarbeiter hauptberuflich beschäftigt war, oder ob sie drei Jahre, in einer kasernierten Einheit lebend, ihren Wachdienst verrichtete. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es zusätzlich noch Zivilangestellte des MfS gab. Im November 1989 betrug die Anzahl 185 (Gieseke ebd.).
Angesichts der zwischen nachrichtendienstlicher Tätigkeit und Staats-schutzfunktionen, polizeilichen, strafprozessualen und anderen exekutiven Aufgaben changierenden Aufgabenfülle sowie der engen Verzahnung mit der Partei- und Staatsführung und der flächendeckenden Präsenz wird in der Öffentlichkeit seit 1989 die Schattenseite des realen Sozialismus immer wieder mit der 'Stasi' in Verbindung gebracht. Das medial vermittelte Bild reicht von der Spitzeltätigkeit bis hin zum Staatsterrorismus. Bemerkenswerterweise sind es vor allem die inoffiziellen Mitarbeiter (IM), auf die das öffentliche Interesse gerichtet ist. Vorrangig geht es um medienwirksam aufbereitete Enttarnungen und Skandalisierungen von inoffiziellen Mitarbeitern. Die Fokussierung auf die IM sorgt bis heute dafür, dass die hauptamtlichen Geheimdienstmitarbeiter weiterhin im Verborgenen bleiben. Auch in der wissenschaftlichen Forschung zum Ministerium für Staatssicherheit sind die 78.000 hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter kein zentraler Untersuchungsgegenstand. Bislang gibt es nur sehr wenige Studien, die sich explizit mit den eigentlichen Akteuren dieses staatlichen Repressionsorgans auseinandersetzen. Das Wissen über diese Personengruppe ist erstaunlich gering.
Diese Wissenslücke zu den hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern soll mit der vorliegenden Studie weiter geschlossen werden. Zentrale Leitfragen sind: Wie kamen 'ganz normale Menschen' dazu, in den DDR-Geheimdienst einzutreten und dort langfristig mitzuarbeiten? Was waren ihre Motivationsgrundlagen und Wertvorstellungen? Wie fügten sie sich in die geheimdienstlichen Strukturen des Organs ein und inwieweit stabilisierten sie diese Strukturen? Wie gestaltete sich ihr Lebensalltag als Angehörige dieses Staatsorgans? Inwieweit reflektieren sie heute ihre MfS-Vergangenheit?
Schon anhand dieser Fragestellungen lässt sich die soziologische Stoßrichtung ablesen, die mit der Studie verfolgt wird: Es geht um das Passungsverhältnis zwischen den Dispositionen der hauptamtlichen Mitarbeiter (insbesondere deren Habitus, Motivation, Wertvorstellung und Lebensführung) und den institutionellen Rahmenbedingungen des DDR-Geheimdienstes.br/>
Aufbau der Studie und Besonderheiten in der Darstellung
Im ersten Kapitel werden die forschungsleitende Perspektive und das methodische Vorgehen der Studie dargelegt. Zunächst wird begründet, warum bei der Binnenperspektive der MfS-Mitarbeiter angesetzt wurde und inwiefern sich über lebensgeschichtliche Interviews die zentralen Strukturmomente und Prozessverläufe des Dienstes 'für die Staatssicherheit' rekonstruieren lassen. In diesem Zusammenhang wird die Frage diskutiert, inwiefern die Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes als Zeitzeugen befragt werden können. Anschließend wird die bisherige wissenschaftliche Forschung zu den MfS-Mitarbeitern resümiert und die Forschungslücke aufgezeigt, die mit der vorliegenden soziologischen Studie weiter geschlossen werden soll. Im letzten Abschnitt des ersten Kapitels werden die in der Untersuchung angewendeten interpretativ-rekonstruktiven Verfahren der qualitativen Sozialforschung vorgestellt.
Im zweiten Kapitel werden zehn exemplarische Lebensverläufe von MfS-Mitarbeitern präsentiert. In jedem Einzelfall manifestiert sich eine real gelebte Möglichkeit, wie jemand zum DDR-Geheimdienst gekommen ist und in diesem Staatsorgan agierte. Anhand dieser dargestellten Lebensverläufe soll ein erster Zugang zu der bis heute weitgehend verborgen gebliebenen Welt der hauptamtlichen Mitarbeiter hergestellt werden. Nicht mehr und nicht weniger. Im Vordergrund steht das thematische Aufschließen des Untersuchungsgegenstandes. Demzufolge enthalten die zehn Falldarstellungen noch keine tiefer gehenden Analysen und sind deskriptiv gehalten.
Anschließend werden im dritten bis sechsten Kapitel die einzelnen Facetten der geheimdienstlichen Tätigkeit ausgelotet und deren komplexe Zusammenhänge systematisch dargelegt. Der Fokus ist darauf gerichtet, wie die hauptamtlichen Mitarbeiter ihr Leben in Übereinstimmung mit den institutionellen Anforderungen des DDR-Geheimdienstes sowie mit den alltäglich anfallenden Arbeitsaufgaben gebracht hatten. Das dritte Kapitel behandelt die Dienstlaufbahn, die Karrierewege sowie das Anreizsystem für eine Mitarbeit in diesem Staatsorgan. Hierzu wird zunächst die Rekrutierungsphase, einschließlich der Einarbeitung der neu eingestellten Mitarbeiter, unter die Lupe genommen. Anschließend wird ausführlich auf deren Motivlagen eingegangen. Zwei weitere thematische Schwerpunkte des dritten Kapitels sind die Aufstiegschancen in dem militärisch ausgerichteten Beförderungssystem sowie die positiven Anreize, die das MfS durch Einkommen, Gratifikationen und Privilegien seinen Angehörigen bot.
Das vierte Kapitel wirft einen Blick auf den Lebensalltag der Geheimdienstmitarbeiter. Im ersten Teil wird dargelegt, wie 'eingespannt' sie in den Dienstabläufen und institutionellen Strukturen waren. Ihre Eingespanntheit äußert sich nicht zuletzt - wie im zweiten Teil dieses Kapitels näher ausgeführt wird - in einer Entgrenzung zwischen Dienst und Privatleben. Selbst zu Hause in der Familie hatten sie immer im Dienst zu sein.
Wie im MfS mit abweichendem Verhalten in den Reihen der Mitarbeiter umgegangen wurde, ist Gegenstand des fünften Kapitels. Gezeigt wird hier, dass das MfS auf ein engmaschiges Netz von Registrier-, Kontroll- und Disziplinierungspraktiken zurückgriff, um auf die eigenen Mitarbeiter und sogar auf deren Familienmitglieder einzuwirken. Die Effizienz des inneren Überwachungsapparates beruhte darauf, so das zentrale Untersuchungsergebnis, dass die Mitarbeiter dazu gedrängt wurden, freiwillig und willentlich das zu tun, was von ihnen erwartet wurde.
Im sechsten Kapitel geht es um die Organisationsmitgliedschaft und den Habitus, die der Tätigkeit im DDR-Geheimdienst zugrunde lagen. Die in den vorherigen Kapiteln noch stark aus dem empirischen Datenmaterial generierten Beschreibungen und Erklärungen werden in den ersten vier Abschnitten auf eine theoretisch abstraktere Analyseebene gehoben. Durch Rückbindung an bestehende sozialwissenschaftliche Theorieansätze wird der Dienst 'für die Staatssicherheit' als reflexiver Konformismus in einer gierigen Institution konzeptualisiert. Damit im Zusammenhang steht die These, dass der von den MfS-Mitarbeitern kollektiv geteilte 'tschekistische' Habitus ein gebrochener Habitus war: Einerseits wähnten sich die MfS-Mitarbeiter als Angehörige der gesellschaftlichen Elite, andererseits fügten sie sich der militärischen Gehorsamspflicht des MfS sowie der strengen SED-Parteidisziplin. Ausgehend von diesen Überlegungen zur Grundprägung der MfS-Mitarbeiter wird im fünften Abschnitt dieses Kapitels der Frage nachgegangen, inwiefern es auch Unterschiede zwischen ihnen gab. Hierzu wird zunächst auf Generationsunterschiede eingegangen, die sich vor allem daran festmachen lassen, wie die Mitarbeiter den geforderten Werte- und Verhaltenskanon des MfS internalisierten und sich in die vorgegebenen Strukturen dieses Ministeriums einfügten. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den sozialstrukturellen Positionsunterschieden. Die Spannbreite der MfS-Angehörigen reichte vom einfachen, ausführenden Mitarbeiter über die operativen Mitarbeiter und Leitungskader bis hin zum Minister. Abschließend wird eine Mitarbeitergruppe gesondert betrachtet: die Frauen.
Gegenstand des siebten Kapitels sind die Lebenswege der MfS-Mitarbeiter nach den 'Wende'-Ereignissen von 1989/90. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie diese Personengruppe die gesellschaftliche Krise inzwischen verarbeitet hat und im ehemaligen Feindesland, der Bundesrepublik Deutschland, angekommen ist. Weiterhin wird thematisiert, wie sich die früheren DDR-Geheimdienstmitarbeiter zu ihrer eigenen Vergangenheit positionieren.
Im abschließenden achten Kapitel werden die Teilergebnisse der Studie in zwei Argumentationsstränge zur 'Banalität der Stasi' zusammengeführt. Erstens insistieren wir darauf, dass sich die MfS-Mitarbeiter einer Institution willentlich unterwarfen, in der es zur Normalitätserwartung gehörte, dass der Staat in die Privatsphäre und individuellen Freiheitsrechte von Bürgern massiv eingreifen und gegen alternative Lebensentwürfe vorgehen darf. Zweitens argumentieren wir, dass sich im Zuge des konspirativ, militärisch und bürokratisch hochgradig organisierten Dienstalltags unter den MfS-Angehörigen eine Normalitätserwartung herausbildete, wie sie jenen Personen, die ins Visier ihres Ministeriums geraten sind, zu begegnen hatten: mit sozialer Distanz und ohne Empathie. Das Buch endet mit einer über den MfS-Kontext hinausgehenden Frage: Ist die freiwillige Entprivatisierung des Individuums möglicherweise eine wesentliche Bedingung dafür, dass überhaupt totalitäre Gesellschaften entstehen können?
Zur Darstellungslogik der vorliegenden Studie ist anzumerken, dass aus Gründen der Lesbarkeit einer systematischen Ergebnispräsentation der Vorrang gegenüber einer strikten Orientierung am tatsächlichen Prozessverlauf der Erkenntnisgenerierung im Untersuchungsprojekt gegeben wurde. Um dennoch das hier praktizierte Vorgehen - die empirisch begründete Theoriebildung im Zuge der interpretativen Rekonstruktion - für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar zu machen, wird an den relevanten Stellen im Text oder mittels Fußnoten kenntlich gemacht, wie die präsentierten Untersuchungsergebnisse zustande gekommen sind und welchen Stellenwert sie für den weiteren Erkenntnisprozess der Studie haben. Insbesondere Schlüsselstellen im Datenmaterial werden ausführlich vorgestellt und Einzelschritte der Analyse vorgeführt.
Diese detaillierte Darstellung von Untersuchungsergebnissen und dem zugrundeliegendem Datenmaterial soll den Leserinnen und Lesern auch die Möglichkeit geben, Interpretationen von uns Forschenden zu überprüfen. Wir beanspruchen nicht, endgültige Ergebnisse zum Untersuchungsgegenstand MfS-Mitarbeiter zu liefern. Wir gehen davon aus, dass mit alternativen Untersuchungsfokussen und -methoden auch anders gelagerte Ergebnisse erzielt werden können. Insofern wollen wir mit unserer Studie zu einer weiterführenden Auseinandersetzung zum 'Stasi-Thema' einladen.
Um das zitierte Datenmaterial aus den geführten Interviews als solches kenntlich zu machen, sind die entsprechenden Textpassagen zwischen An- und Abführungszeichen gesetzt und kursiv formatiert. Davon zu unterscheiden sind verwendete Zitate ohne Kursivsetzung. Hierbei handelt es sich entweder um Redewendungen des heutigen Common-Sense beziehungsweise der damaligen DDR oder es handelt sich um Zitate aus Sekundärdaten (insbesondere vom BStU archivierten Dokumenten) oder aus der Forschungsliteratur mit den entsprechenden bibliografischen Angaben.
Bei den zitierten Interviewpassagen wurde auf eine strenge Anonymisierung geachtet, um Rückschlüsse auf die sich äußernde Person zu verhindern. Die in den folgenden Kapiteln mehrfach oder in längeren Auszügen zitierten Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern erhalten Pseudonyme - Frauen Namen von Nadelbäumen und Männer Namen von Laubbäumen. Weiterhin wurden die zitierten Passagen stilistisch geglättet. Sinn und Zweck dieser Maßnahme war es ausschließlich, eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten. Es handelt sich also nicht um einen Eingriff in die Aussagenstruktur, die sich auf die Interpretation auswirken könnte. Vielmehr wurden die für mündliche Stegreiferzählungen typischen, aber beim Lesen der Transkriptionen störenden Sprachgewohnheiten herausgefiltert, insbesondere Sprechpausen, Stotterer, Dialekt, Partikel wie 'äh', 'gell' und grammatikalische Fehler.
Bei längeren und inhaltlich komplexen Interviewzitaten wurden die zentralen Deutungsrahmen beziehungsweise thematische Setzungen - in einer rechten Marginalie mitlaufend - festgehalten. Erleichtert werden sollte damit das kursorische Lesen jener Passagen (vgl. unter anderem S. 102).

Erscheint lt. Verlag 9.3.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Schlagworte Berlin • Bespitzelung • DDR • DDR-Staatssicherheit • Deutsche Demokratische Republik • Erich Mielke • Gehemindienst • Habitus • hauptamtliche Mitarbeiter • Herrschaftssystem • im • Inoffizielle Mitarbeiter • MfS • Ministerium für Staatssicherheit • Motivation • Repression • SED • Staatssicherheit • Stasi • Täter • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-593-43392-3 / 3593433923
ISBN-13 978-3-593-43392-9 / 9783593433929
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