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Das Grab des göttlichen Tauchers (eBook)

Ausgewählte Texte
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2015 | 1. Auflage
544 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05171-3 (ISBN)
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Wie der Taucher auf dem berühmten Fresko im süditalienischen Paestum, das einen Mann zeigt, der kopfüber von einer Säule springt, hat Claude Lanzmann sich in jedes Abenteuer gestürzt. Alle wichtigen Entscheidungen seines Lebens, so schreibt er, waren wie Kopfsprünge ins Ungewisse. Lanzmann wurde berühmt als Regisseur des epochemachenden Films «Shoah». Zugleich hat er zeitlebens als Publizist gearbeitet. Dieses Buch versammelt Reportagen, Erzählungen, Porträts und kämpferische Artikel, die er seit 1947 unter anderem für die von Jean-Paul Sartre gegründete Zeitschrift «Le Temps Modernes» geschrieben hat. Mal kritisiert er harsch, mal ist er voller Begeisterung; polemische Texte und politische Interventionen stehen neben einfühlsamen Nahaufnahmen und gesellschaftlichen Tiefenbohrungen. Immer sind die Texte unkonventionell, eigensinnig und frei. Lanzmann porträtiert Serge Gainsbourg, Richard Burton und Jean-Paul Belmondo, schreibt über den Dalai-Lama und Israel, über «Schindlers Liste» und Rainer Werner Fassbinder. Lanzmann gehört zu den wichtigsten europäischen Intellektuellen der Gegenwart. Einmal mehr erweist er sich nun als unverzichtbarer und mutiger Chronist des zwanzigsten Jahrhunderts.

Claude Lanzmann, geboren 1925 in Paris, studierte Philosophie und war Lektor an der Freien Universität Berlin. Viele Jahre arbeitete er als Journalist, und gab die von Jean-Paul Sartre gegründete Zeitschrift «Les Temps Modernes» heraus. Seine Filme «Pourquoi Israël», «Shoah» und «Tsahal», um nur einige zu nennen, machten ihn weltberühmt. Er war vielfacher Ehrendoktor und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem erhielt er den «Welt»-Literaturpreis für sein Buch «Der patagonische Hase». Claude Lanzmann starb im Juli 2018 in Paris.

Claude Lanzmann, geboren 1925 in Paris, studierte Philosophie und war Lektor an der Freien Universität Berlin. Viele Jahre arbeitete er als Journalist, und gab die von Jean-Paul Sartre gegründete Zeitschrift «Les Temps Modernes» heraus. Seine Filme «Pourquoi Israël», «Shoah» und «Tsahal», um nur einige zu nennen, machten ihn weltberühmt. Er war vielfacher Ehrendoktor und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem erhielt er den «Welt»-Literaturpreis für sein Buch «Der patagonische Hase». Claude Lanzmann starb im Juli 2018 in Paris. Erich Wolfgang Skwara, 1948 in Salzburg geboren, lebt in Paris, Italien und in den USA, wo er in San Diego an der Universität Kultur- und Literaturwissenschaften lehrt. Er ist Autor von Gedicht-, Prosa- und Erzählungsbänden sowie Romanen, darunter Pest in Siena (1976), Eis auf der Brücke (1991), Die heimlichen Könige (1995) und Zerbrechlichkeit (2002). Neben seinem schriftstellerischen Schaffen hat er etwa Rousseau, Flaubert, Thomas Wolfe, Tennessee Williams und Claude Lanzmann ins Deutsche übersetzt. Unter anderem erhielt er 2002 den Hermann-Lenz-Preis, und 2003 wurde ihm vom österreichischen Bundespräsidenten der Professorentitel verliehen.

Der Priester von Uruffe und die Kirchenraison


Nachdem Guy Desnoyers, der Priester von Uruffe in Lothringen, eine Frau aus seiner Gemeinde ermordet hatte, die von ihm schwanger und deren Entbindung näher gerückt war, schnitt er ihr den Bauch auf, entfernte den Fötus und erteilte ihm die Sterbesakramente. Diese beispiellose Tat erschütterte das Frankreich der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zutiefst. Im Januar 1958 war ich beim Prozess gegen den Priester von Uruffe in Nancy.

Hinten im Saal schrie jemand auf. Andere überraschte Ausrufe folgten. Der Vorsitzende Richter Facq hob nicht einmal den Kopf, unbeirrt verlas er das Urteil. Er musste es zu Ende bringen. Die vier Anklagepunkte – das doppelte Verbrechen, den Kindesmord und die Vorsätzlichkeit – hatten die Geschworenen und das Gericht mehrheitlich anerkannt, dem Angeklagten zugleich allerdings mildernde Umstände zugebilligt. Dem Recht war Genüge getan: Man entließ den Pfarrer von Uruffe und die sieben Geschworenen, die ihn soeben zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt hatten. Die Geschworenen konnten den Gerichtspalast durch eine Hintertür verlassen. Doch obwohl der Pfarrer längst mit einem Gefangenenwagen abtransportiert und in seine Zelle zurückgebracht worden war – drei Polizeiketten hatten den Wagen abschirmen müssen –, herrschte bei der Menschenmenge auf dem Gerichtsvorplatz noch große Aufregung.

Die versammelten Menschen waren eher überrascht als empört; angesichts der Einzelheiten dieses Zerrbilds von einem Urteilsspruch wirkten sie wie aus allen Wolken gefallen. Mildernde Umstände hatten dem Pfarrer das Leben gerettet, sie standen jedoch – ganz wie der deus ex machina in einem Theaterstück – in keinerlei Verhältnis zu dem, was im Gerichtssaal gesagt worden war. Die Umstände nämlich, die das Verbrechen des Pfarrers Desnoyers «milderten» – es gab sie durchaus –, waren zu keinem Zeitpunkt des Prozesses zur Sprache gebracht worden: weder vom Angeklagten noch von den Zeugen, weder von Seiten der Anklage noch vom Gericht, kaum auch von der Verteidigung. Auf diesen merkwürdigen Vorgang werde ich später zurückkommen. Man hätte dem Verbrechen des Pfarrers zumindest eine Bedeutung beimessen müssen; man hätte es in die Geschichte seines Lebens einordnen und sich entschließen müssen, den Mann und sein Verbrechen ganz zu verstehen. Das hätte jedoch bedeutet, ein Urteil zu fällen, und gerade das sollte unbedingt vermieden werden.

Nach zehn Verhandlungsstunden unter dem Vorsitz eines Richters, der die eigentlichen Fragen nicht zur Sprache gebracht sehen wollte, war der Priester von Uruffe nicht wirklich verurteilt worden: Der milde Schuldspruch war skandalös, er war ungerecht. Auch das Todesurteil wäre ungerecht gewesen. Doch weil man sich den eigentlichen Prozess erspart hatte, weil man sich dazu entschlossen hatte, nicht verstehen zu wollen, schien dieses Urteil die folgerichtige Strafe zu sein. Es gab keine Entschuldigung für das Verbrechen: Nach allen Debatten blieb es auf wundersame Weise undurchsichtig, obwohl die äußeren Gegebenheiten eindeutig und bekannt waren. Bis zum Urteilsspruch folgte der Prozess von Nancy der goldenen Regel aller Strafprozesse. Also musste man die Konsequenz daraus ziehen, musste bestrafen, die Todesstrafe verhängen.

Drei Tage später erlitt der Staatsanwalt Parisot im gleichen Verhandlungssaal des Schwurgerichtes im Département Meurthe-et-Moselle einen Herzinfarkt. Er weigerte sich, die Todesstrafe für den zweiten Mörder der Verhandlungsperiode zu fordern. Sein eisernes Herz kam ohne Zittern mit der fahlen Morgendämmerung der Guillotine zurecht; dass ein Gericht eine strafrechtliche Verfolgung verweigerte, war jedoch ganz offensichtlich ein Skandal.[1] Die Erklärungen des Vertreters der Staatsanwaltschaft boten der Massenpresse in ihrer üblichen Überstürzung einmal mehr Gelegenheit, die verstaubte akademische Debatte um das Für und Wider der Todesstrafe auszugraben – ohne zu sehen, dass es der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür war. Die Strafmilderung an sich empörte den Staatsanwalt nicht: Natürlich war es in den dreißig Jahren seiner Karriere – und ohne dass sein Herz deshalb versagt hätte – vorgekommen, dass ihm ein Kopf, den er gern hätte rollen sehen, nicht gewährt worden war. Und umgekehrt hatte die Presse andere, durch und durch widerwärtige Gerichtsurteile hingenommen. Nein, es war eine Art Evidenz, die Parisot wie ein Dolch mitten ins Herz traf: Dass der Prozess und das Urteil von Nancy die Ausübung des Richteramtes in Zukunft grundsätzlich unmöglich machten, war nicht zu übersehen. Indem sich die Geschworenen im katholischen Lothringen weigerten, den Pfarrer von Uruffe zu verstehen und zu bestrafen, hatten sie die französische Strafjustiz (die zwischen den Polen der nackten strafrechtlichen Verfolgung und des Verständnisses für den Straftäter oszillierte) der Möglichkeit beraubt, Recht zu sprechen – ob es nun um einen Freispruch oder um eine Verurteilung ging.

In jedem ähnlich gelagerten Prozess hätten die Geschworenen keine zehn Minuten gebraucht, um einen beliebigen Angeklagten aufs Schafott zu schicken. Aber der Prozess um den Pfarrer war anders: Wie aufsehenerregend sein Verbrechen auch gewesen sein mochte, gegenüber einem weltlichen Angeklagten hätte die Justiz wenigstens funktioniert, ohne sich selbst zu schaden. Jetzt waren sie anfangs wie gelähmt, dann klammerte sie alles aus, was dabei hätte helfen können, die Person des Verbrechers und seine Motive zu beleuchten. Und wenn man die mildernden Umstände gelten lässt, bedeuten sie immerhin, dass es für wichtig erachtet wurde, die Beweggründe des Angeklagten mit allen verfügbaren Mitteln zu verstehen. Gewiss, das «Verstehen» zieht nicht unbedingt einen gnädigen Urteilsspruch nach sich: Man hat Jacques Fesch[2] unter die Guillotine geschickt, obwohl alle Gründe, die für seine Begnadigung sprachen, im Verlauf seines Prozesses präsentiert worden waren. Dass auch dieses Urteil skandalös war, ist bekannt.

Doch dabei handelt es sich um einen gewöhnlichen Skandal, wie er sich an Geschworenengerichten jedes Jahr mehrmals ereignet, ohne die Grundlagen unserer Justiz zu erschüttern. In der französischen Strafjustiz ist die Todesstrafe als schlimmster Ausgang immer eine Gewissheit. Sie ist maßgebend. Wenn der Staatsanwalt einen Kopf fordert, verlangt er nie mehr, als das Gesetz zulässt, er verlangt die strenge Anwendung des Gesetzes. Jacques Fesch war voll und ganz verstanden worden, aber letztlich sagte sich jeder: «Ich will es gar nicht so genau wissen», und man vollstreckte das Todesurteil, um im Namen der Ordnung, der zu schützenden Gesellschaft ein Exempel zu statuieren. Wo würde das hinführen, wenn man Polizistenmörder nicht hart bestrafte? In einem solchen Falle geben sich die Geschworenen taub und blind: Sie bestrafen den Verbrecher für das Verbrechen und lassen dem Automatismus der Gesetze ihren Lauf. Es scheint, als würde man allein aufgrund der Tatsachen urteilen, wie es in den meisten Strafprozessen getan wird, wenn der Richter mit dem Strafgesetzbuch in der Hand über das Strafmaß entscheidet. Das ist strafrechtliche Verfolgung in ihrer ursprünglichen Form. Diese Art von Rechtsprechung ist abstoßend, und das Todesurteil gegen Jacques Fesch war ein Skandal. Aber im Unterschied zu dem, was in Nancy geschah, bestand der Skandal nur im Hinblick auf eine andere Art von Rechtsprechung. Man wollte den Verbrecher Jacques Fesch und seine «gesellschaftliche Prägung» nicht vollständig erfassen. In der unterhöhlten bürgerlichen Gesellschaft, die nicht, oder nur um den Preis von Heuchelei, dazu imstande ist, die Prinzipien und Institutionen, an die sie sich früher gebunden fühlte, aufrechtzuerhalten, stehen sich heute diese beiden Auffassungen von Rechtsprechung gegenüber – und existieren dennoch nebeneinander. Darin liegt ja gerade der Sinn mildernder Umstände, die selbst vor den Augen des strengsten aller Staatsanwälte im Prozess zugelassen werden können: Sie sind in Wahrheit nicht weniger oder mehr als das Gesetz selbst, sie stehen nicht im Widerspruch zu diesem und verweisen im Grunde auf eine andere Gerechtigkeitsvorstellung, auch wenn sich ihre Fürsprecher dessen nicht bewusst sind. Eine nicht zwingend auf eine Bestrafung ausgerichtete Rechtsprechung, die sich am Horizont jedes milden Urteils abzeichnet, kann zwar jene andere Form der Rechtsprechung radikal in Frage stellen, widerspricht ihr aber nicht im eigentlichen Sinn. Der Staatsanwalt – das ist für ihn das Entscheidende – behält stets das Recht, den Kopf eines Angeklagten zu fordern. In einem anderen Fall mag er also durchaus auf dem höchsten Strafmaß bestehen.

In Nancy ist dieses Recht verlorengegangen. Die Geschworenen und die Richter haben sich nicht für eine andere Rechtsprechung entschieden, indem sie dem Pfarrer von Uruffe in einem verpfuschten Prozess, in welchem vom Angeklagten gar nicht die Rede war, mildernde Umstände zuerkannten; sie wollten sich nicht grundsätzlich gegen die Todesstrafe aussprechen, sondern haben, weil der Angeklagte Priester war, willkürlich ein gnädiges Urteil verhängt. Im Jahr der Begnadigung, 1958, verzichtet die republikanische Justiz lieber auf ein Urteil und begeht Selbstmord, anstatt sich den Problemen zu stellen, die ihr das Verbrechen eines Priesters bereitet.

Das Paradoxe an diesem schändlichen und aufregenden Prozess war, dass die Beteiligten sich sowohl vor dem Begreifen als auch vor dem Bestrafen fürchteten und das gnädige Urteil lediglich gewährten, weil sie sich geweigert hatten,...

Erscheint lt. Verlag 30.10.2015
Übersetzer Erich Wolfgang Skwara
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Arthur Koestler • Aznavour • Beauvoir • Belmondo • Dalai Lama • Endlösung • Existenzialismus • Fassbinder • Holocaust • Jacques Tati • Judenvernichtung • Konzentrationslager • Paestum • Paris • Richard Burton • Sartre • Schindlers Liste • Serge Gainsbourg • Shoah • Soraya
ISBN-10 3-644-05171-2 / 3644051712
ISBN-13 978-3-644-05171-3 / 9783644051713
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