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Der Historiker ohne Eigenschaften (eBook)

Eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen
eBook Download: PDF | EPUB
2015 | 1. Auflage
518 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43254-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Historiker ohne Eigenschaften -  Joseph Lemberg
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Der Mittelalterhistoriker Friedrich Baethgen absolvierte eine glänzende Hochschulkarriere in drei politischen Systemen. In der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik kam er zu höchsten Ehren, so zuletzt als Präsident der Monumenta Germaniae Historica. Joseph Lemberg deutet Baethgens Erfolg als Resultat der Anschlussfähigkeit eines konservativen Geschichtsdenkens, das die politischen Brüche des 20.Jahrhunderts fast unbeschadet überdauerte. Durch das Prisma seines 'Historikers ohne Eigenschaften' lässt diese Problemgeschichte eine 'Welt von Eigenschaften ohne Mann' (Robert Musil) entstehen, einen unheroischen Ausschnitt der deutschen Mittelalterhistorie zwischen 1920 und 1960. Für diese Dissertation erhielt Joseph Lemberg den Humboldt-Preis der HU Berlin (2015) und den Hedwig-Hintze-Preis des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschlands (2016).

Joseph Lemberg, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HU Berlin.

Joseph Lemberg, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HU Berlin.

Inhalt 6
Vorwort 10
I.Einleitung 12
1.Fragestellung, Forschungsstand, Quellen 14
2.Konzipierung der Arbeit 23
II.Wissenschaftliche Profilierung und politisches Profil:Heidelberg – Rom (1914–1929) 31
1.An der Demarkationslinie des historischen Wissens: Weltkrieg und Wissenschaft 31
1.1Vorkriegserbe 31
1.2Nachricht und Wirklichkeit: Die Stunde der Propagandisten 37
1.3Umkämpfte Bastionen: Wahrheit und Nation 40
1.4Tatsachen und Legenden: Die Stunde der Historiographen 47
2.Der Staat und seine ›Feinde‹: Papsttumshistoriographie und Parteienkritik 54
2.1Kirche und Staat 54
2.2Wissenschaft als Staatsdienst 58
2.3Kirche im Gehäuse: Cölestin V. – Bonifaz VIII. 66
III. Ostforschung und Aufstieg:Königsberg (1929–1939) 81
1.Wahrheit und Nation: Deutsche Ostforscher diskutieren Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der Zweite 81
1.1Historiker im national-internationalen Widerspruch 81
1.2Kaiser Friedrich der Zweite 89
1.3Halle 1930 103
1.4Warschau 1933 116
1.5Königsberg: Die »polnische Professur« 121
2.Rothfels – Westphal – Glum: Konservative Netzwerkean der Schwelle zum Nationalsozialismus 124
2.1Freiherr vom Stein-Bund 124
2.2Hans Rothfels 136
3.Reichsmythos versus Rassenideologie: Karl der Großeim Widerstreit politischer Sinnstiftungen 146
3.1Rasse versus Reich 146
3.2Widerspruch der Zunft 154
3.3Romanisierung – Germanisierung 158
3.4Was heißt Romanisierung? 165
4.Prekäre Internationalität: Die Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft 174
4.1Transnationale Wissenschaft in nationaler Mission 174
4.2Das Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums 188
4.3Brackmann gegen Jedlicki 193
4.4Volkserziehung 201
4.5Ostforscher Baethgen 212
4.6Die Besetzung Polens 222
IV.Von der Peripherie ins Zentrum:Berlin (1939–1947) 233
1.Berufung an die »Endstationsuniversität« 233
1.1Die Kandidaten 233
1.2Einspruch des NS-Dozentenbunds 240
2.Weltgeschichte im Weltkrieg: Baethgens Spätmittelalter 256
2.1»Staat, Geist und große Persönlichkeit« 256
2.2Universales Kaisertum und Weltgeschichte 268
2.3Volk – Staat – Gemeinde 273
2.4Staat und Stände 284
2.5Politik als Staatskunst 292
2.6Konservativer Spagat: Rankes Konsenspotential im Nationalsozialismus 295
3.Der sichtbare und der unsichtbare Baethgen:Berliner Jahre 1940–1944 300
3.1Präsenz zeigen: Reichs- und Papsttumsgeschichte währenddes Vernichtungskriegs 300
3.2Die unsichtbare Frontgemeinschaft: Gerhard Ritter 312
3.3Der Welt entsagen oder sie beherrschen? Der Engelpapst 321
3.4Dämonisierung des Politischen 329
4.Berliner Netzwerke: Die Reorganisationder Monumenta Germaniae Historica 334
4.1Alte Eliten – neue Freunde: Die Mittwochs-Gesellschaft 334
4.2Theodor Mayer 342
4.3Stunde Null 352
4.4Reden und schweigen: Der feine Unterschied 357
V.Auf dem Gipfel: München (1947–1972) 368
1.Nationalgeschichte ohne Nationalstaat: Nachkriegshistoriographie 368
1.1Zweimal Dante: Auschwitz – Bremen 368
1.2Friedrich Meinecke 373
1.3Deutsche »Katastrophen«: 1945 und 1250 378
1.4Britannia docet: Geoffrey Barraclough 385
1.5Revision, Rehabilitation, Restauration 395
2.Wissenschaft als Ehrdiskurs: Wahrheit und Gedächtnis 405
2.1Erdmann – Brackmann: Zwei Biographien, ein Erzähler 405
2.2Wahrheit und Nation: Nachkriegskarriere eines Dilemmas 415
2.3Was bleibt? 427
VI.Wissenschaft als Staatsdienst im Wechsel der politischen Systeme: Fazit 438
VII.Quellen und Literatur 450
Personenregister 514

I.Einleitung
Aus New York, wohin sie 1941 emigriert war, schrieb Hannah Arendt am 9. Juli 1946 an Karl Jaspers in Heidelberg:
'Gerade deshalb ist es ja so schlimm, daß die Universitäten 1933 ?ihre Würde verloren haben?. Ich weiß nicht, wie man es anstellen soll, ihre Reputation wiederherzustellen. Denn sie haben sich lächerlich gemacht. Denazifizierung, sicher recht wichtig, ist da ja auch nur ein Wort; denn die Institution selbst, schlimmer der Stand der Gelehrten, sind lächerlich geworden. Dabei ist nicht entscheidend, daß Professoren nicht zu Helden geworden sind; sondern ihre Humorlosigkeit, ihre Beflissenheit, ihre Angst den Anschluß zu verpassen. [...] Nun weiß ich, daß viele, vermutlich sogar eine Majorität, niemals im Ernst Nazis waren. Nur wird einem auch dies leider fragwürdig [...]'.
Der Reputationsverlust der deutschen Universitäten, den Hannah Arendt im Jahr 1946 beschwor, trat in Deutschland - wenn überhaupt - nur sehr vorübergehend ein. So sehr deutsche Professoren durch ihre Allianzen mit dem Nationalsozialismus gegenüber der kritischen Beobachterin Arendt 'ihre Würde verloren' und sich vor der internationalen Gelehrtenrepublik selbst diskreditiert hatten, so wenig litt darunter im Deutschland der frühen Nachkriegszeit ihr Ansehen. Getragen von einer ungebrochenen Kontinuität gesellschaftlicher Anerkennung setzte der überwiegende Teil deutscher Lehrstuhlinhaber seine Karrieren nach 1945 fort. Für Hannah Arendt mochte der 'Stand der Gelehrten [...] lächerlich' geworden sein. In Deutschland aber lachte über diesen kein Mensch, weder vor 1945 noch danach.
Mit 'verantwortlichem Ernste', so mahnte Friedrich Baethgen im Jahr 1935, solle man der 'Schicksalhaftigkeit' unseres 'nationale[n] Dasein[s]' und 'den bleibenden Notwendigkeiten und Aufgaben unseres völkischen Lebens' begegnen. Und mit 'gesteigertem Ernst', so behauptete Friedrich Baethgen 1937, widme man sich, seitdem 'das völkische Leben' durch die 'Begründung unseres nationalsozialistischen Staates' eine 'neue Stufe erreicht habe', den Kernfragen der 'mittelalterlichen Periode unserer Geschichte'. Mit weihevollem Ernst aber begegnete man Zeit seines Lebens auch ihm, Baethgen (1890-1972), der sich die Zeichen seiner gesellschaftlichen Anerkennung in jedem der von ihm durchlebten politischen Systeme ans Revers heften durfte: 1920 das 'Verdienstkreuz für Kriegshilfe' im Ersten Weltkrieg, 1939 das von Adolf Hitler verliehene 'silberne Treudienst-Ehrenzeichen', 1964 das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Erstaunlich, doch keineswegs außergewöhnlich ist diese Sammlung politischer Ehrenzeichen, die das Kontinuum gleich vierer politischer Systeme im Deutschland des 20. Jahrhunderts versinnbildlichen. Sie sind die Frucht einer beachtlichen Wissenschaftskarriere, die den noch im Kaiserreich promovierten Baethgen (1913) über seine erste Professur in Königsberg (seit 1929) und seinen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Berliner Universität (1939) schließlich nach München führte, wo er nach dem Krieg als Präsident der Monumenta Germaniae Historica (1947-1958) und als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1956-1964) führende Wissenschaftsinstitutionen des Landes repräsentierte.
Friedrich Baethgen hat, um mit Hannah Arendt zu reden, den 'Anschluß' an die Institutionen seines Faches nie verpasst, auch und gerade zwischen 1933 und 1945 nicht: Das zeigt seine prestigereiche Berufung nach Berlin, ins wissenschaftliche und politische Zentrum des nationalsozialistischen Deutschland, der er 1939 folgte; das verdeutlicht gleichfalls seine Wahl in die Preußische Akademie der Wissenschaften im November 1944. Baethgens fulminante Nachkriegskarriere ist ohne seine Bewährungsgeschichte im nationalsozialistischen Staat nicht denkbar. Und doch ist auch für Baethgen Hannah Arendts Hoffnung in Rechnung zu stellen, dass viele Professoren 'niemals im Ernst Nazis waren'. Baethgen war nie Mitglied der NSDAP. Seine Tätigkeit im nationalsozialistischen Staatsdienst beschränkte sich auf seine Hochschulämter an der Königsberger (1929-1939) und an der Berliner Universität (1939-1947). In seinem Werk spielt der Begriff der ?Rasse? keine und der des ?Volkes? eine untergeordnete Rolle. Worauf beruht sein Erfolg im nationalsozialistischen Deutschland?
1. Fragestellung, Forschungsstand, Quellen
Gegenstand dieser Arbeit ist es, diese Frage zu beantworten. Sie bewegt sich damit in jenem Problemkreis, den Hannah Arendt 1946 mit ihrer Frage nach den 'deutschen Professoren' und dem Jahr '1933' vorgezeichnet hat. Baethgen repräsentiert mit seinem politisch eher unscheinbaren Profil den Großteil deutscher Ordinarien, die im Nationalsozialismus ihre Karrieren fortsetzen konnten, ohne dass sie ihr überkommenes Wissenschaftsverständnis im Jahr 1933 aufgegeben hätten und vollständig auf die Ideologeme des Nationalsozialismus eingeschwenkt wären. Baethgen steht damit für jene große Gruppe innerhalb der deutschen Historikerzunft, die Karl Ferdinand Werner im Jahr 1967 dazu veranlasste, zu behaupten, dass die '?Gleichschaltung? der deutschen Geschichtswissenschaft' im Nationalsozialismus gescheitert sei; Werner bezog sich dafür auch auf Schriften Baethgens. Dieses Urteil hielt Werner freilich nicht davon ab, zugleich auf die 'tiefgehenden Affinitäten zwischen dem Geschichtsbild der Geschichtswissenschaft in Deutschland und dem Weltbild des Nationalsozialismus' aufmerksam zu machen. Die gescheiterte Gleichschaltung hätten 'Hitler und seine Gefolgsleute [...] zumindest teilweise verschmerzen' können, weil 'deutsche Historiker' den 'Auffassungen des NS-Geschichtsbilds entgegengekommen oder sogar gefolgt' seien. Werners These von der gescheiterten Gleichschaltung vertrat 30 Jahre später noch Ursula Wolf, die die politische Haltung aller deutschen Ordinarien und planmäßigen Extraordinarien zum Nationalsozialismus quantifizierend untersuchte. Wolf kam im Jahr 1996 zu dem Ergebnis, dass die Geschichtswissenschaft - trotz fassbarer politischer Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus - zum überwiegenden Teil den totalen Herrschaftsanspruch des NS-Staates habe abwehren können. Der 'Widerstand' der Historiker 'gegenüber dem nationalsozialistischen Geschichtsverständnis' habe sich zum einen in ihrem Insistieren auf 'wissenschaftliche[r] Autonomie', zum anderen in der Abwehr einer 'rassistische[n] Geschichtsbetrachtung' erwiesen. Aufbauend auf Wolfs empirischer Erhebung bilanzierte Jürgen Elvert, dass sich eine Minderheit von immerhin 20 Prozent der nach 1933 im Amt verbliebenen Historiker 'eine kritische Haltung gegenüber dem NS-System' bewahrt habe. Hingegen hätten sich etwa 40 Prozent 'zu einer offenen Kooperation' mit dem Regime entschlossen. Demgegenüber habe eine 'etwa gleich große Gruppe', zu der Wolf und Elvert auch Friedrich Baethgen zählten, 'ein Arrangement mit dem NS-System' angestrebt, dabei aber versucht, 'im Rahmen des Möglichen das traditionelle Wissenschaftsverständnis zu bewahren': 'Gelegentliche Lippenbekenntnisse zum System sollten hier jene Freiräume schaffen, die als notwendig erachtet wurden, um wissenschaftlich arbeiten zu können'; doch habe auch ihre 'vermeintlich unpolitische Haltung letztlich das System' gestützt.
Eine Gegenposition zu Werner, im Grunde aber auch zu Wolf und Elvert, nahm bereits in den 1990er Jahren Peter Schöttler ein: 'Die Selbst-Gleichschaltung der Universitäten und zumal der historischen Seminare funktionierte nahezu reibungslos'. Schöttler verwies auf die Vielzahl deutscher Historiker, die in ihren Schriften die Politik des Regimes bejubelt und legitimiert hatten. Er bezog sich auf das neue Paradigma der Volksgeschichte, deren Vertreter sich 'auf dem Hintergrund der Hitlerischen Politik [...] ganz bewußt in den Dienst einer aggressiven Politik' gestellt hätten. Und nicht zuletzt berief sich Schöttler für seine These auf den Tatbestand der zahleichen außeruniversitären Forschungsnetzwerke, die es den darin involvierten Historikern erlaubt hätten, sich ideologisch oder gar praktisch-instrumentell dem Regime anzudienen. Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften, deren Rolle auf dem Frankfurter Historikertag von 1998 lebhaft debattiert wurde und der Frage nach den 'Deutschen Historikern im Nationalsozialismus' eine völlig neue Wendung gab, sind hier an erster Stelle zu nennen; ebenso der so genannte 'Kriegseinsatz der Geisteswissenschaft'.
Bringen Schöttlers Einwände Werners, Wolfs und Elverts These von der gescheiterten 'Gleichschaltung' der deutschen Geschichtswissenschaften im Nationalsozialismus zu Fall? Das Problem ist nicht nur empirischer Art, sondern vor allem begrifflicher. Karl Ferdinand Werner verstand 1967 unter 'Gleichschaltung' die Absicht des Regimes, 'alle Lehrstühle mit Anhängern zu besetzen und wissenschaftliche Publikationen ohne Parteilinie zu verbieten', oder noch schärfer: das Vorhaben, 'die zentralen Institutionen der deutschen Geschichtswissenschaft dergestalt in die Hände zuverlässiger Anhänger zu bringen, daß eine geeignete Lenkung und Überwachung der Disziplin möglich wurde'.
Demgegenüber hat bereits Karen Schönwälder zu Recht eingewandt, dass der 'Maßstab für das Scheitern bzw. den Erfolg' der Gleichschaltung 'nicht die Durchsetzung eines real gar nicht vorhandenen Konzepts einer völligen institutionellen und inhaltlichen Neugestaltung geschichtswissenschaftlicher Tätigkeit sein' könne. Was Werner seinem Gleichschaltungsbegriff zugrunde gelegt hatte, war als totalitäre Utopie zwar existent, vermochte in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft aber kaum, den operationellen Status einer wissenschaftspolitischen Handlungsvorgabe zu erlangen, wie rezentere Untersuchungen zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik zeigen. Ohnehin musste das Regime auf den Anspruch, 'alle Lehrstühle mit Anhängern zu besetzen und wissenschaftliche Publikationen ohne Parteilinie zu verbieten', verzichten, wollte es sich die Loyalität auch jener Mehrheit von Wissenschaftlern erhalten, die bei aller Zustimmung immer auch einen Rest von Distanz wahrten. So hat denn auch Jan Eckel darauf hingewiesen, dass gerade das 'Neben- und Miteinander partieller Übereinstimmung und Dissonanz kennzeichnend für den Integrationsmodus des nationalsozialistischen Regimes' gewesen sei. Noch schärfer hat Otto Gerhard Oexle das Problem anhand des hochgradig integrativen Begriffs der ?Gemeinschaft? gefasst: 'Man könnte sagen', der Gemeinschaftsbegriff 'erforderte das Dabei-Sein gerade dann, wenn man, wie das bei Intellektuellen und Professoren gewiss in der Regel der Fall ist, vieles an den Ereignissen mißbilligte und jedenfalls nicht allem zustimmte, was geschah'.
Dazu aber tritt ein weiteres, der Umstand nämlich, dass es sich bei der so genannten nationalsozialistischen ?Ideologie? um eine durchaus inkonsistente und im Ganzen widerspruchsvolle Angelegenheit handelte. In Anlehnung an Hans Mommsens Begriff der 'polykratischen Herrschaft' mochte Frank Lothar Kroll von einem 'Polyzentrismus' der nationalsozialistischen Weltanschauung sprechen. Oliver Lepsius hat die 'Nichtkanonisierbarkeit', die 'Offenheit und Interpretationspluralität' der NS-Ideologie herausgestellt, 'deren Grundlagen weitgehend konturlos' gewesen seien. Das Wissenschaftsverständnis des Nationalsozialismus nannte Michael Grüttner ein 'intellektuelle[s] Vakuum', das sich durch die 'dauernde Unsicherheit darüber' ausgezeichnet habe, 'welche Art von Wissenschaft die wahre nationalsozialistische Wissenschaft' eigentlich sei.
Diese Überlegungen zeigen, wie problematisch sowohl Werners, Wolfs und Elverts Begriff von der ?gescheiterten Gleichschaltung? als auch Schöttlers Gegenbegriff von der ?Selbst-Gleichschaltung? der Historikerschaft ist. Denn beiden Begriffen liegt eine Konformitätsannahme zugrunde, die im Falle Schöttlers zur Einebnung aller durchaus geduldeten Nonkonformitäten führt, im Falle der Position Werners, Wolfs und Elverts aber nahelegt, dass allein das Insistieren auf wissenschaftliche Standards schon als Nonkonformität und damit als Resistenz zu werten sei. In dieser Arbeit soll auf beide Begriffe verzichtet werden.
Stattdessen soll es hier darum gehen, das gleichsam dialektische Ineinandergreifen von Nähe und Distanz zum Nationalsozialismus, von Konformität und Nonkonformität zu problematisieren, und zwar anhand eines Protagonisten, dem Kaspar Elm noch 1992 eine 'von Grund auf konservative' Haltung attestierte und der ihn zu dem Urteil bewog, dass seine Berufung nach Berlin im Jahr 1939 'wahrscheinlich auch in der Weimarer Zeit nicht anders ausgefallen' wäre. Es wird zu prüfen sein, ob es ausreichend Anlass dazu gibt, Elms kontrafaktischem Urteil über Friedrich Baethgen zuzustimmen. Abgesehen von dieser Frage im Einzelfall verweisen Elms Überlegungen aber auf ein grundsätzliches Problem: die Frage nämlich nach der Kontinuität und der Konformität konservativer Werthaltungen und Geschichtsbilder im Nationalsozialismus. Worin genau besteht die 'karrierestrategisch[e] und weltanschaulich[e]' Geschmeidigkeit, die zuletzt Johannes Helmrath Friedrich Baethgen bescheinigt hat? Wie verhält sich Baethgens Erfolgsgeschichte im Nationalsozialismus zu der Tatsache, dass dieser, wie Kaspar Elm schreibt, 'längst vor Hitler, Rosenberg und Himmler mit Worten, die von Treitschke stammen könnten, seinen Glauben an die Nation und ihre wahrhaft weltgeschichtlichen Leistungen zum Ausdruck gebracht hatte'?
Damit sind die Leitfragen umrissen, die dieser Untersuchung zu Werk und Karriere Friedrich Baethgens zugrunde liegen. Sie zielen in erster Linie auf Baethgens Schaffen zwischen den Jahren 1933 und 1945. Von den insgesamt achtzehn Jahren, die Baethgen zwischen 1929 und 1947 als ordentlicher Professor an deutschen Universitäten lehrte und forschte, entfallen allein zwölf Jahre auf die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. In dieser Zeit entstand ein Großteil seiner wichtigsten Schriften, so seine Anthologie Der Engelpapst (1943), seine Darstellungen 'Europa im Spätmittelalter' (1940), seine Arbeiten zur historischen Ostforschung. Zwischen 1933 und 1945 wurden aber auch die Weichen gestellt für seine weitere Karriere, knüpfte oder vertiefte Baethgen entscheidende Beziehungen und besetzte die Ämter, die ihm nach 1945 erlaubten, in der bundesdeutschen Nachkriegsmediävistik eine institutionelle Schlüsselrolle zu spielen. Bildet damit die Zeit des Nationalsozialismus den Schwerpunkt der Untersuchung, so soll und kann doch weder die Zeit vor 1933, noch nach 1945 ausgeblendet werden. Die Arbeit nimmt Baethgens gesamtes Werk und seine gesamte Karriere in den Blick und damit auch die politischen Zäsuren, die Baethgens Werdegang zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik geprägt haben. Die Deutung Baethgens gewinnt ihre explanatorische Kraft zu allererst aus der politischen Grundbedingung seiner Gelehrtenexistenz: nämlich aus dem Umstand der rasant aufeinanderfolgenden politischen Systembrüche im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Weder Baethgens Werk noch seine Karriere sind bisher zum Gegenstand einer kritischen Untersuchung gemacht worden. Erhöhte Aufmerksamkeit fand jedoch seit den 1990er Jahren die Geschichte seines Fachs im 20. Jahrhundert, die deutsche Mittelalterhistorie. Michael Borgolte brachte in seiner Forschungsbilanz zur Sozialgeschichte des Mittelalters (1996) erstmals die Problemfelder, Diskursfronten und Diskussionsstände der Nachkriegsmediävistik in Ost- und Weltdeutschland zur Darstellung. Monographische Untersuchungen zur deutschen Mittelalterhistorie im Nationalsozialismus ließen aber - sieht man von Karl Ferdinand Werners bereits erwähnter Studie aus dem Jahr 1967 ab - bis nach dem Frankfurter Historikertag von 1998 auf sich warten. Anne Christine Nagel hat in ihrem Buch 'Im Schatten des Dritten Reiches' (2005) den Nationalsozialismus zum Fluchtpunkt gewählt, um die bundesdeutsche Nachkriegsmediävistik und ihren Umgang mit der NS-Vergangenheit darzustellen. Zu führenden Protagonisten der deutschen Mediävistik im 20. Jahrhundert liegen inzwischen monographische Studien vor, so zu Percy Ernst Schramm, Hermann Aubin und Karl Hampe; auch zu Otto Brunner und zu Ernst Kantorowicz, deren Werke freilich schon seit den 1980er Jahren ein lebhaftes wissenschaftsgeschichtliches Interesse auf sich gezogen haben. Gesteigerte Aufmerksamkeit, wenngleich nicht erschöpfende Behandlung fanden auch die Werke und Karrieren Herbert Grundmanns, Hermann Heimpels und Gerd Tellenbachs. Zur Geschichte der Mittelalterstudien an der Berliner Universität seit ihrer Gründung liegen inzwischen Längsschnitte von Johannes Helmrath und Michael Borgolte vor. Aus Anlass des Gründungsjubiläums der Historischen Zeitschrift nahmen jüngst Johannes Fried und Frank Rexroth 150 Jahre Mittelalter- bzw. Spätmittelalterforschung im Spiegel der HZ in den Blick. Die Deutungsmuster und epistemologischen Orientierungen deutscher Mittelalterhistoriker vor, während und nach dem Nationalsozialismus hat Otto Gerhard Oexle seit den 1980er Jahren problematisiert.
Trotz dieses beachtlichen Diskussionsstandes herrscht über zentrale Problemkonstellationen der deutschen Mittelalterhistorie im Nationalsozialismus aber noch immer Unklarheit. In diese kann eine Studie zum Werk und zur Karriere Friedrich Baethgens Licht bringen. Denn sowohl Baethgens Sozialbeziehungen als auch die Problembeziehungen seines Werks zu den Arbeiten Karl Hampes und Ernst Kantorowicz', Albert Brackmanns und Hermann Aubins, Carl Erdmanns und Gerd Tellenbachs machen ihn zu einem aufschlussreichen Fallbeispiel der deutschen Mediävistik im 20. Jahrhundert. Durch das schmale Sichtfenster seines Werks hindurch geraten dieserart Problemzusammenhänge in den Blick, die bislang kaum Beachtung gefunden haben. Zwei Problemstränge, die in dieser Arbeit erhellt werden sollen, lassen sich unterscheiden:
Erstens die Frage nach dem Verhältnis von Mittelalterhistorie und Ostforschung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus: Wenn auch die Erforschung der so genannten historischen Ostforschung in den letzten zwei Jahrzehnten enorm vorangeschritten ist, so haben doch die zahlreichen inhaltlichen und personellen Querverbindungen zwischen der Mittelalterhistorie und den Institutionen der Ostforschung bisher kaum hinreichend Aufmerksamkeit gefunden. In A. C. Nagels Arbeit zur bundesdeutschen Mittelalterforschung wird die mediävistische Ostforschung kaum erwähnt; umgekehrt hat Eduard Mühle in seiner Biographie zu Hermann Aubin zwar dessen ostwissenschaftliches Werk umfassend gewürdigt, sämtliche Problembeziehungen zur Mittelalterforschung aber ausgespart. Dies ist umso verblüffender, als Albert Brackmanns Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG), deren Erforschung in den letzten Jahren lebendige Debatten ausgelöst hat, maßgeblich durch Mittelalterhistoriker administriert wurde. Zu ihnen zählen Albert Brackmann und Hermann Aubin an der Spitze; in untergeordneten Verantwortungsbereichen wirkten Friedrich Baethgen, Fritz Rörig, Rudolf Kötzschke, Erich Maschke und Erich Keyser. Anhand Baethgens soll in dieser Arbeit zum einen exemplarisch nach den karrierestrategischen Effekten und Wechselbeziehungen zwischen Mediävistik und Ostforschung gefragt werden. Zum anderen aber sollen die epistemologischen Orientierungen Baethgens und Brackmanns in den Blick genommen werden, und zwar auch hier erstmals vor dem Hintergrund ihres mediävistischen Diskurszusammenhangs ebenso wie ihres ostwissenschaftlichen Engagements: Was bedeutet es für das Wahrheitsverständnis deutscher Ostforscher, dass Brackmann in der Debatte um Ernst Kantorowicz' Kaiser Friedrich der Zweite die epistemologische Position des Positivisten vertrat? Welche Position nahm Baethgen in diesem Zusammenhang ein (s. Kapitel III.1, III.4 und V.2)?
Zweitens die Frage nach der Resonanzfähigkeit konservativer Mittelalterbilder im Nationalsozialismus: Zwar wurden in den letzten Jahren wiederholt die Kontinuitäten neuhistorischer Geschichtsbilder zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus bzw. Bundesrepublik thematisiert, wie Bernd Faulenbachs Studie zur Ideologie des deutschen Weges, Karen Schönwälders Arbeit Historiker und Politik oder Christoph Cornelißens Biographie zu Gerhard Ritter zeigen. Gleichwohl standen seit den 1990er Jahren in erster Linie Studien zu den methodischen Brüchen und Neuerungen in der Geschichtswissenschaft der 1920er und 1930er Jahre im Mittelpunkt des Interesses. Willy Oberkromes Untersuchung zum neuen Paradigma der Volksgeschichte etwa löste lebhafte Debatten um das Verhältnis von wissenschaftlicher Innovation und politischer Ideologie aus. Eine problemgeschichtliche Analyse jener konservativen Meistererzählungen vom Mittelalter, die sich weniger am Volksbegriff als an den überkommenen Kategorien ?Staat?, ?Geist? und ?große Persönlichkeit? orientieren, steht aber noch immer aus. Sie soll für das Werk Baethgens exemplarisch geleistet werden. Dabei interessiert auch hier in erster Linie die Frage nach der Anschlussfähigkeit dieser Erzählungen sowie des in ihnen zum Ausdruck kommenden konservativen Geschichtsdenkens an den Nationalsozialismus (s. Kapitel III.3, IV.2 und IV.3).
Empirisch gründet die Arbeit zum einen auf Baethgens Schriften sowie auf Publikationen anderer Historiker, die zu den Problemzusammenhängen des Baethgenschen Werks in Beziehung stehen. Zum anderen stellen Baethgens (Teil-)Nachlässe im Archiv der Monumenta Germaniae Historica und im Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ein zentrales Quellenkorpus dieser Arbeit dar. Allerdings wurde Baethgens Nachlass offenbar durch Baethgen selbst stark bereinigt. So fehlt beispielsweise Baeth­gens gesamte Korrespondenz mit Albert Brackmann und der Publikationsstelle Berlin-Dahlem, der Schaltzentrale der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft. Diese und andere Lücken mussten durch ausgreifende Recherchen in den Archivbeständen diverser Ministerien, Akademien und Universitäten sowie in den Nachlässen von Karl Hampe, Willy Andreas, Fritz Rörig, Fritz Hartung, Ernst Kantorowicz, Herbert Grundmann, Siegfried A. Kaehler, Karl Brandi, Gerhard Ritter, Friedrich Glum, Albert Brackmann, Wilhelm M. Mommsen und Friedrich Meinecke ergänzt werden.

Erscheint lt. Verlag 8.10.2015
Reihe/Serie Campus Historische Studien
Campus Historische Studien
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Biografie • Biographie • Friedrich Baethgen • Geschichte • Mediävistik • MGH • Mittelalter • Monumenta Germaniae Historica • Wissenschaftsgeschichte
ISBN-10 3-593-43254-4 / 3593432544
ISBN-13 978-3-593-43254-0 / 9783593432540
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