Prozesse (eBook)
250 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74088-0 (ISBN)
<p>Uwe Nettelbeck (1940-2007) war Journalist, Schriftsteller und Musikproduzent. Er arbeitete unter anderem als Gerichtsreporter und Filmkritiker für <em>DIEZEIT</em>, bevor er 1969 stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift <em>konkret </em>wurde. Zwischen 1970 und 1975 produzierte Nettelbeck die Krautrockband <em>Faust</em>. Von 1976 bis zu seinem Tod gab er, gemeinsam mit seiner Frau Petra Nettelbeck, die Zeitschrift <em>Die Republik</em> heraus.</p>
Ich hatte doch keinen Grund
Der Fall des Malergesellen Eckart Mellentin, der zum Doppelmörder wurde
Vor der Justiz lag alles, was nacheinander so natürlich gewesen war, sinnlos nebeneinander in ihm …
Robert Musil
Am Abend des 6. Oktober 1965 tötete der damals vierundzwanzigjährige Malergeselle Eckart Mellentin aus Hamburg-Eppendorf, daran ist nicht mehr zu zweifeln, in seinem Mercedes 190 seine dreiunddreißigjährige Geliebte, die Redressiererin und spätere Sekretärin Ingrid Griebau, und den acht Monate alten Thorsten, ihr gemeinsames Kind.
Am Morgen des folgenden Tages bereits entdeckte ein Feuerlöschboot, das im Frühnebel dicht unter Land gelaufen war, am Elbstrand bei Övelgönne die halbbekleidete Leiche der Frau. Ein paar Meter von ihr entfernt fanden die Beamten der Mordkommission zwischen den Steinen auch die Leiche des Kindes. Beide Leichen wiesen Schlagverletzungen auf. Der Kopf der Frau war mit einem stumpfen Gegenstand eingeschlagen, um ihren Hals war ein zerrissener Nylonstrumpf zweimal geschlungen und verknotet. Am Hals des Kindes waren deutliche Würgemale zu erkennen. Als Todesursache konnte bei beiden Leichen zweifelsfrei Erwürgen festgestellt werden.
Noch am gleichen Tage, am Abend des 7. Oktober 1965 um 23 Uhr, wurde Eckart Mellentin in der Wohnung seiner Eltern festgenommen. Wenig später legte er ein volles und detailliertes Geständnis ab.
Er habe, sagte Eckart Mellentin in seiner ersten Vernehmung auf dem Polizeipräsidium, nach einem Geschlechtsverkehr, der sich über längere Zeit hingezogen habe, mit einem Stein auf Ingrid Griebau eingeschlagen. Weil sie noch gestöhnt habe, er meine sogar, seinen Namen gehört zu haben, deshalb habe er ihr einen Strumpf vom Bein gerissen, den rechten, und sie erdrosselt. Weil das Kind auf dem Rücksitz geschrien habe, deshalb habe er auch noch das Kind getötet, mit der Hand erwürgt, nachdem das Kissen, mit dem er es zunächst bedeckt haben will, nicht half. Ingrid habe ihn erpreßt, ihn gequält, körperlich und moralisch. Er habe sie und Thorsten an diesem Abend vom S-Bahnhof Stadtpark abgeholt, in der Nähe, am Südring, habe er den Wagen abgestellt, es sei vorher schon zu einem Streit gekommen, weil er Ingrid nicht die fünfhundert Mark habe geben können, die sie von ihm gefordert habe. Er sei ausgestiegen, um auszutreten, dabei sei er mit dem Fuß gegen einen Stein gestoßen. Ich wußte plötzlich, daß einer von uns beiden gehen mußte. Er habe den Stein aufgehoben und mit in den Wagen genommen. Es sei noch zum Austausch von Zärtlichkeiten gekommen, danach habe er zugeschlagen. Dann erfolgte mein Handeln gegen das Kind. Es hatte ja keine Mutter mehr und war allein auf der Welt, und es schrie, und ich konnte das nicht mehr hören. Als es im Auto still war, hätte ich mich am liebsten selbst getötet. In rasender Fahrt, sagte er, sei er kurz darauf zum Hafen gefahren, dort habe er an einer dunklen Stelle Ingrid und Thorsten, ihre Handtasche und den Kinderwagen, ihren Schlüpfer und ein Netz mit Windeln in die Elbe geworfen. Dabei sei er von einem Streifenwagen vorübergehend gestört worden, dessen Besatzung die dortigen Fischhallen abgeleuchtet habe.
Eckart Mellentin fuhr nach Hause zu seinen Eltern. Am nächsten Morgen unternahm er die ersten unbeholfenen Versuche, Spuren zu beseitigen, obgleich es da keine Spuren mehr zu beseitigen gab. Pünktlicher als sonst erschien er an seinem Arbeitsplatz und bat darum, seinen Wagen zur Inspektion bringen zu dürfen. Zur Tankstelle gegenüber seiner und der Eltern Wohnung brachte er ihn. Er habe Farbe verschüttet, sagte er zu den Tankwarten, die er kannte, ob er seine Fußmatten auswaschen dürfe. Die blutigen Polster schnitt er heraus, den rechten Vordersitz montierte er ab, die Polsterstücke steckte er in einen Papiersack, den Sitz verstaute er im Kofferraum. Als die Kriminalpolizei den Wagen am Tag darauf sicherstellte, fand sie den Sitz im Kofferraum, fand sie den Papiersack, waren die Polster noch feucht von Blut.
Am 17. Januar 1967 fällte ein Hamburger Schwurgericht nach fünftägiger Verhandlung das Urteil über Eckart Mellentin: Wegen erwiesenen Mordes in zwei Fällen, begangen aus niederen Motiven, verurteilte es ihn zu zweimal lebenslangem Zuchthaus; es erkannte ihm die bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit ab und legte ihm die Kosten des Verfahrens auf.
Das Gespenst Ali
Aber der Spruch erreichte Eckart Mellentin nicht mehr, nicht den Mann, der zweimal getötet hatte. Er sei nicht der Täter gewesen, waren seine letzten Worte; er sei unschuldig, hatte er zu Beginn der Hauptverhandlung gesagt. Der Eckart Mellentin, der sich nach der mündlichen Urteilsbegründung widerstandslos abführen ließ, nachdem er sich, dem Richter zugewandt, an die Stirn getippt hatte, war wahrscheinlich schon, auf der Flucht vor seiner Tat, die er nicht begreifen kann, hinter jene endgültige Schranke geraten, über die hinweg keine Verständigung mehr möglich ist. Wie können Sie sagen, daß ich es begangen habe. Ich hatte doch keinen Grund. Es war Ali, der Algerier.
Um sich zu retten, hatte er Ali, den Algerier ohne Familiennamen, erfunden – in einem Brief an die Staatsanwaltschaft drei Tage nach seiner Verhaftung, in dem er sein erstes Geständnis widerrief. Vielleicht hatte er in der Untersuchungshaft gehört, daß man es so anstellen müsse, vielleicht war Ali am Anfang wirklich nur ein plumper Trick, inzwischen jedoch, so sah es in der Hauptverhandlung aus, hat er sich Ali, dem Algerier, den es nicht gibt, anheimgegeben. Vielleicht glaubt er schon heute an ihn, daß er eines Tages an ihn glauben wird, an das Gespenst, das er beschworen hat, wohl um sich vor allem vor sich selber zu retten – dazu schien er entschlossen.
Es hätte der Geständnisse, die Eckart Mellentin abgelegt hat, seines ersten und der Geständnisse, die er dem Widerruf folgen ließ, der drei oder vier verschiedenen Geständnisse, die vermutlich alle einen Teil der Wahrheit enthalten, gar nicht bedurft, um Eckart Mellentin zu überführen – zu eindeutig waren die Indizien, die gegen ihn sprachen. Bei seiner ersten Vernehmung gab er Details zu Protokoll, die nur der Mörder wissen konnte: die Art der Kopfverletzungen; daß der Strumpf, mit dem er Ingrid erdrosselt habe, dabei gerissen sei; ein Streifenwagen hatte tatsächlich in der fraglichen Nacht die Fischhallen abgeleuchtet. Später gab er an, diese Einzelheiten habe ihm Ali am Telephon mitgeteilt. Die Ingrid habe aber mürbe Strümpfe angehabt, soll Ali da gesagt haben, als er ihm lapidar die Kausalität zur Tat hin geschildert habe.
Daß einer, der des Doppelmordes überführt ist und ihn gestanden hat, ihn dann leugnet bis zuletzt, einem Richter ins Gesicht, der es nicht hat fehlen lassen an menschlicher Anstrengung, zu verstehen, Erklärungen zu finden für das Unfaßbare, das doch in ein Strafmaß gefaßt werden mußte, damit der Ordnung, dem Recht der Sozietät, Ordnung sich zu schaffen und zu erhalten, Genüge geschehen konnte, das kann, auf unserer Seite jener Schranke, nichts anderes sein als Berechnung, als ein üblicher Versuch, sich der Strafe zu entziehen, als Unverbesserlichkeit auch dann, wenn es nur der blanke Irrsinn ist.
Eckart Mellentin hatte eine Chance: die, bei seinem Geständnis zu bleiben, dem Richter bei seiner Suche nach Erklärungen zu helfen, um Mitleid zu bitten. Aber es war, als wollte er sich allem Mitleid verschließen. Das ist einer der Schrecken dieses Falles: Durch sein unbegreifliches Leugnen, durch die abstrusen und doch so kläglich durchsichtigen Erfindungen, die Eckart Mellentin zwischen sich und seine Tat schob, nahm er dem Gericht jeden denkbaren Zweifel an der Verworfenheit seines Handelns. Unablässig, so schien es, war er darum bemüht, den Geschworenen den Anblick eines heimtückischen Mörders zu bieten, eines Mörders, dem keine Lüge zu frech ist, der für das Gericht nur ein verächtliches Grinsen hat. Dabei gibt es Erklärungen für Eckart Mellentins Tat und waren – wenn auch vielleicht nicht im Sinne des Mordparagraphen – Zweifel daran erlaubt, ob Eckart Mellentin wirklich der voll zurechnungsfähige, gemeine Mörder war, als der er jetzt für immer hinter Zuchthausmauern verschwindet.
Ich hatte Angst abzustürzen
Eppendorf – das ist einer der besseren Stadtteile in Hamburg. Man kann sagen, daß dort vor allem brave Leute wohnen. Und die Mellentins, Adolf, der Vater, und Marie, die Mutter, sind brave Leute. Während des Krieges zogen sie, ausgebombt, nach Mecklenburg; 1957 nahm Adolf Mellentin seinen Sohn Eckart von der Schule, der damals, wie der Angeklagte sagte, keine Ambition mehr zum Lernen hatte, und kehrte mit ihm illegal zurück nach Hamburg. Die Mutter und Eckarts jüngere Schwester Gisela, der von einer frühen Poliomyelitis eine halbseitige Lähmung geblieben ist, sollten später nachkommen. Erst wollte Adolf Mellentin zusammen mit Eckart das Malergeschäft in Eppendorf aufbauen. Anderthalb Jahre lang schufteten Vater und Sohn – dann war es soweit. Das Geschäft florierte, weil die Mellentins auch nachts und an den Wochenenden arbeiteten, bei Ärzten und Rechtsanwälten, die tags und in der Woche ihre Räume nicht entbehren konnten. Die Mellentins legten Wert auf eine gute, gehobene Kundschaft.
Nach einigen Jahren verließ Eckart das väterliche Geschäft und nahm Arbeit bei einer Anstreicherfirma an, die ihn nach Tarif bezahlte, doch bis zu...
Erscheint lt. Verlag | 6.4.2015 |
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Nachwort | Henrik Ghanaat |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 1949-1990 • Andreas Baader • Bundesrepublik • Deutschland • Gerichtsberichte • Gerichtsreportagen • Gudrun Ensslin • Kirmesmörder • RAF • Recht • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-518-74088-1 / 3518740881 |
ISBN-13 | 978-3-518-74088-0 / 9783518740880 |
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