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Vivisektionen eines Zeitalters (eBook)

Porträts zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1., Originalausgabe
308 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73612-8 (ISBN)

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Vivisektionen eines Zeitalters - Axel Honneth
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Der Begriff Vivisektionen bezeichnet Eingriffe an lebenden Organismen, die dem Zweck dienen, mehr über ihre Funktionsweise herauszufinden. In gewisser Weise wenden ein solches Verfahren auch die Theoretiker an, die Axel Honneth hier porträtiert: Sie greifen mit ihren Entwürfen in den Fluss der Ereignisse ein, um ihm Erkenntnisse abzuringen, die sie für ihre Theorien fruchtbar machen können. Ob nun Franz Rosenzweig zu Beginn des Jahrhunderts, Siegfried Kracauer während der Weimarer Republik oder Judith Shklar im Schatten des Holocaust, sie alle ziehen aus ihren Vivisektionen der Gegenwart Rückschlüsse auf einen angemessenen Begriff der Geschichte, der Gesellschaft oder der Politik.

Axel Honneth, geboren 1949, ist Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University in New York. 2015 wurde er mit dem Ernst-Bloch-Preis, 2016 f&uuml;r <em>Die Idee des Sozialismus</em> mit dem Bruno-Kreisky-Preis f&uuml;r das politische Buch ausgezeichnet. 2021 hielt er in Berlin seine vielbeachteten Benjamin-Lectures zum Thema des Buches <em>Der arbeitende Souver&auml;n</em>.

[Cover] 1
[Informationen zum Buch oder Autor] 2
[Titel] 3
[Impressum] 4
Inhalt 5
Vorwort 7
1. Das ambivalente Erbe Hegels 11
Franz Rosenzweig zu Beginn des Jahrhunderts 11
I. Entstehungskontext 15
II. Stellenwert 26
III. Wirkungsgeschichte 40
2. Logik des Fanatismus 47
John Deweys Archäologie der deutschen Mentalität 47
I. 48
II. 53
III. 65
IV. 73
3. Phänomenologie des Bösen 76
Das vergessene Werk von Aurel Kolnai 76
I. 79
II. 91
III. 110
4. Der destruktive Realist 120
Zum sozialphilosophischen Erbe Siegfried Kracauers 120
I. 122
II. 132
5. Dispositive unseres Denkens 143
Die verkannte Leistung Robin G. Collingwoods 143
I. 147
II. 154
III. 161
6. Versuchungen eines Liberalen 167
Helmuth Plessner vor dem Nationalsozialismus 167
7. Die Gefährdungen des Wir 178
Sozialistische Tendenzen im Werk von Amitai Etzioni 178
I. 178
II. 185
8. Die Grenzen des »homo oeconomicus« 197
Zum intellektuellen Vermächtnis Albert O. Hirschmans 197
I. 198
II. 206
III. 213
IV. 221
V. 229
9. Die Historizität von Furcht und Verletzung 248
Sozialdemokratische Züge im Denken von Judith Shklar 248
10. Geschichtsschreibung als Befreiung 263
Quentin Skinners Revolutionierung der Ideengeschichte 263
11. »Nach Weltuntergang« 281
Zur Sozialtheorie von Jan Philipp Reemtsma 281
I. 284
II. 299
Textnachweise 308

2.?Logik des Fanatismus


John Deweys Archäologie der deutschen Mentalität[1]


Es war keine schlechte Idee, die den »Westkulturverlag« Anton Hain nur wenige Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland dazu bewogen hat, eine Übersetzung von John Deweys Studie über German Philosophy and Politics herauszubringen.[2] Mit der Absicht einer Politik der »reeducation« hatte die amerikanische Besatzungsmacht zwar schon in den ersten Nachkriegsjahren die Übersetzung auch von einigen geisteswissenschaftlichen Schriften lanciert, um den demokratischen Geist der amerikanischen Tradition an die demoralisierte Bevölkerung zu vermitteln; von Dewey aber wurde während dieses Zeitraumes nur die Neuauflage eines pädagogischen Werkes besorgt, das ursprünglich bereits im Jahr 1930 auf deutsch erschienen war.[3] Daß derselbe Autor sich jedoch auch ganz direkt mit den intellektuellen Ursachen der deutschen Aggressionspolitik in den beiden Weltkriegen auseinandergesetzt hatte, war wohl in jenen ersten Jahren des Wiederaufbaus im zerstörten Deutschland nur den wenigsten bekannt; nicht nur hatte der amerikanische Pragmatismus hier von Anfang an allgemein nur eine äußerst geringe Resonanz gefunden,[4] vor allem aber waren angelsächsische Schriften zum aggressiven Sonderweg Deutschlands stets als Propagandawerke abgetan worden und hatten daher nie einen produktiven Einfluß ausüben können. Unter solchen Bedingungen mußte es äußerst sinnvoll erscheinen, durch die Übersetzung der kleinen Studie von Dewey die deutschsprachigen Leser der fünfziger Jahre mit der Interpretation zu konfrontieren, die die Ideen von 1914 und von 1933 bei einem der führenden Vertreter der amerikanischen Philosophie gefunden hatten; vielleicht, so mag die Hoffnung gewesen sein, konnte die dort präsentierte Deutung ja zu einer Intensivierung der Diskussion beitragen, die in der Gründungsphase über die intellektuelle Erbschaft der zukünftigen Bundesrepublik geführt werden mußte. Diese Hoffnung ist, soweit es sich rückblickend mit einem zeitlichen Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert beurteilen läßt, maßlos enttäuscht worden; das Büchlein von John Dewey, dessen Umfang nicht einmal hundert Seiten ausmacht, ist in der damaligen Debatte ohne jede Wirkung geblieben.

I.


Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges war John Dewey, der damals im eigenen Land bereits den Ruf eines führenden Philosophen besaß, in der amerikanischen Öffentlichkeit kaum als ein politischer Intellektueller hervorgetreten. Zwar weisen seine maßgeblichen Schriften, darunter die Psychology und die erste Auflage der Ethics, bereits eine Vielzahl demokratietheoretischer Implikationen auf, aber zu politischen Vorgängen selber hatte der fünfundfünfzigjährige Autor noch kaum Stellung bezogen.[5] Das änderte sich in entscheidender Weise erst, als Dewey in der Frühphase des Ersten Weltkrieges dem Drängen von Randolph Bourne nachgab, der ihm öffentlich zu einer Anwendung seiner Demokratietheorie auf Fragen der Tagespolitik geraten hatte; in rascher Abfolge entstand eine Reihe von Artikeln, in denen sich Dewey zur Enttäuschung von Bourne auf der Grundlage demokratietheoretischer Argumente für einen Kriegseintritt der USA aussprach. In diese erste Phase seines Engagements als politischer Intellektueller fällt auch die Abfassung jener Studie zur deutschen Philosophie und Politik, die der demokratisierten Bevölkerung Westdeutschlands im Jahr 1954 zugänglich gemacht wurde; konzipiert zunächst als Vorlesungsreihe, handelt es sich dabei um den eindrucksvollen Versuch, diejenigen philosophischen Ideen herauszuarbeiten, die die Entstehung einer kollektiven Mentalität erklären können, für die der nationale Eroberungskrieg ein moralisch legitimes Unternehmen darstellt. Natürlich wartet Dewey in seinem Erklärungsversuch mit einer Reihe von starken Verallgemeinerungen in bezug auf Deutschland auf, die leicht die Vermutung der fahrlässigen Konstruktion eines einheitlichen Nationalbewußtseins erwecken können; und sicherlich ist auch der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, daß das hier entwickelte Bild der deutschen Mentalität insofern propagandistischen Absichten dient, als es vor allem die moralische Überlegenheit der amerikanischen Geisteshaltung zu beweisen hat. Andererseits ist sich Dewey der damit verknüpften Gefahren viel zu sehr bewußt, als daß er nicht zumindest die Umrisse einer Theorie zu skizzieren versucht hätte, die die Rede von einer nationalen Mentalität, einem »deutschen Temperament« oder einer »mentalen Disposition« der Deutschen vertretbar erscheinen läßt. Nach seiner Überzeugung sollten philosophische Ideen als idealisierte Antworten auf praktisch-soziale Herausforderungen zu verstehen sein, die sich so zum Entwurf stilisierter Handlungsweisen verdichten können, daß sie ihrerseits verstärkend auf die Herausbildung bestimmter Lebensgewohnheiten einer Bevölkerung Einfluß zu nehmen vermögen; was sich dementsprechend als das spezifische Temperament, die besondere Mentalität einer nationalen Kultur offenbart, ist als ein Ensemble von habitualisierten Reaktionsmustern zu begreifen, das das Ergebnis einer langwierigen Wechselwirkung zwischen sozialen Problemen und theoretisch verallgemeinerten Ideen darstellt.

Es ist ein solcher Begriff der nationalen Kultur, der es Dewey nun in seiner Studie erlaubt, die Ideengeschichte als Instrument einer Archäologie der deutschen Mentalität einzusetzen. Dabei ist sein Adressat freilich nicht der Intellektuelle, der potentiell die Partei der Deutschen ergreifen könnte, sondern derjenige Mitstreiter aus dem eigenen Lager, der bei der Erklärung der deutschen Aggressionsbereitschaft ideengeschichtlich die falschen Verbindungen herstellt. Wie auch in anderen, kürzeren Texten aus der Zeit des Ersten Weltkrieges[6] wendet sich Dewey hier vor allem gegen jene Tendenz in den angelsächsischen Feindanalysen, primär die Machtmetaphysik Nietzsches als die intellektuelle Ursache für die Kriegsbegeisterung unter den Deutschen anzusehen; wer eine derartige Erklärung herbeibemüht, so scheint Dewey auf jeder Seite seiner Studie sagen zu wollen, der greift ideengeschichtlich viel zu kurz, weil er nicht die epigonale Stellung Nietzsches in der bis auf Kant zurückreichenden Geschichte eines geradezu wahnhaften Idealismus zu begreifen weiß. Das Charakteristische, ja das Provozierende an der Analyse Deweys ist, mit welcher Konsequenz er die aggressive Mentalität der Deutschen auf jene Weichenstellung zurückzuführen versucht, die Kant mit seiner Zwei-Welten-Lehre der deutschen Philosophie eröffnet hat; hier berührt sich sein Text sogar wie aus weiter Ferne mit jener berühmten Passage zur Kantischen Moraltheorie, die im Sade-Kapitel der Dialektik der Aufklärung zu finden ist.[7]

Der Vergleich mit dem Buch von Horkheimer und Adorno kann auch den Übergang zu einem einleitenden Kapitel erklären, das Dewey bei der Neuauflage seiner ursprünglichen Abhandlung vorangestellt hat; darin ist sein im Jahre 1942 unternommener Versuch nachzulesen, die in der Zeit des Ersten Weltkriegs vorgelegte Deutung der deutschen Mentalität bis in die Phase der Entstehung des nationalsozialistischen Weltbildes hinein zu verlängern. Nachdem er in den heftigen Debatten über die Politik der USA im Ersten Weltkrieg seine Rolle als öffentlicher Intellektueller gefunden hatte, war Dewey in der Folgezeit den damit verknüpften Aufgaben mit größtem Engagement nachgekommen; kaum ein Ereignis von weltpolitischer Bedeutung gab es, kaum ein das moralische Selbstverständnis der USA betreffendes Geschehen fand sich, das Dewey nicht zum Anlaß einer politischen Analyse gemacht hätte, in der seine demokratietheoretischen Einsichten zu Elementen einer Zeitdiagnose verarbeitet werden. Auf dem Weg, den er damit beschritten hatte, lagen mithin die vorrevolutionären Vorgänge in China ebenso wie die Bemühungen um den Aufbau eines Völkerbundes, der stalinistische Terror im nachrevolutionären Rußland ebenso wie der US-amerikanische Imperialismus in Mexiko. Es kann insofern nicht überraschen, daß Dewey auch die Entstehung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems in Deutschland schon bald mit äußerster Anspannung verfolgte, mußte er doch in der breiten Unterstützung durch die Bevölkerung die ersten Anzeichen für eine Wiederkehr der typisch deutschen Mentalität befürchten. Nur kurz nach Beginn des deutschen Angriffskrieges war es wiederum die Debatte um den amerikanischen Kriegsbeitritt, die Dewey zum Anlaß einer ideengeschichtlichen Analyse der Genealogie des nationalsozialistischen Weltbildes nahm; und wiederum sah er es darin als eine wesentliche Aufgabe an, jene vordergründigen Interpretationen von angelsächsischer Seite zu widerlegen, die in der Kriegsbereitschaft der Deutschen bloß die Wirkung eines auf Nietzsche zurückgreifenden Irrationalismus vermuteten. Allerdings hatte sich die weltpolitische Konstellation nun insofern gegenüber dem Ersten Weltkrieg erheblich verschoben, als sich neben dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem inzwischen auch der stalinistische Totalitarismus als ein politisches Machtgefüge fest etabliert hatte; es bedurfte mithin über die aktualisierende Betrachtung der deutschen Mentalität hinaus einer Ausweitung des Blickfeldes auf die kulturgeschichtlichen Entwicklungen, die in der Gegenwart zu einer Steigerung an politischer Barbarei und Despotie geführt hatten. Im Zusammenspiel der verschiedenen Artikel, die Dewey diesem Thema...

Erscheint lt. Verlag 16.6.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte 20. Jahrhundert • Bruno-Kreisky-Preis 2015 • edition suhrkamp 2678 • Ernst-Bloch-Preis 2015 • ES 2678 • ES2678 • Geistesgeschichte • Ideengeschichte • Kulturgeschichte
ISBN-10 3-518-73612-4 / 3518736124
ISBN-13 978-3-518-73612-8 / 9783518736128
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