Verborgene Chronik 1914 (eBook)
416 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30808-2 (ISBN)
Herbert Kapfer, Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen Rundfunk. Gemeinsam mit dem Institut Zeitgeschichte: Die Quellen sprechen, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Zahlreiche weitere Hör- und Buchveröffentlichungen.
Herbert Kapfer, Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen Rundfunk. Gemeinsam mit dem Institut Zeitgeschichte: Die Quellen sprechen, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Zahlreiche weitere Hör- und Buchveröffentlichungen. Lisbeth Exner, geboren 1964, lebt und arbeitet in München. Publizistin, Autorin zahlreicher Radioessays und Features, u. a über Christian Schad, Wolfgang Koeppen, Erika Mann. Bücher über Mynona, Grete Weil, Elisabeth von Österreich, Leopold von Sacher-Masoch. Gemeinsam mit Herbert Kapfer: Weltdada Huelsenbeck und Pfemfert. Erinnerungen und Abrechnungen.
Mittwoch, 2. September 1914
Otto Gehrke, bei Rocroi (Frankreich)
4.30 Uhr Antreten, kurz vor 5 Uhr Abmarsch. 6 Uhr überschreiten wir die französische Grenze bei Vireux-Molhain, folgen dem Lauf der Maas stromaufwärts bis Fumay. Alle Ortschaften zerstört, Fumay teilweise. Eine Stunde Rast. Sehr heiß, Tornister drückt barbarisch. Um ¾ 4 Uhr langten wir in Rocroi an, die Straße zog sich bergauf, bergab, immer im Zickzack zwischen Hochwald dahin. Sonne brennt in den Schluchten fürchterlich. Wir übersteigen die Ardennen, 40 km. 7.15 Uhr Löhnungsappell, im Anschluss Appell mit Gewehren und eisernen Portionen. Appelle ohne Zahl und Ende. Die Lust zum Kriegshandwerk wird uns damit ausgetrieben, denn wir werden schlimmer wie Schuljungen behandelt und nicht als Menschen, die eine Familie ernähren mussten. Wir tun trotzdem unsere Pflicht.
Mädchen, Karlsruhe
Die mittlere Heeresgruppe der Franzosen, etwa zehn Armeekorps, wurde gestern zwischen Reims und Verdun von unsern Truppen zurückgeworfen. Die Verfolgung wird heute fortgesetzt. Ein französischer Vorstoß aus Verdun wurde abgewiesen. Seine Majestät der Kaiser befand sich während des Gefechts bei der Armee des Kronprinzen und verblieb die Nacht inmitten der Truppen. Die einwöchige erbitterte Schlacht im Raume Zamość-Tyszowce führte gestern zum vollständigen Sieg der Armee Auffenberg, Scharen von Gefangenen und bisher 160 Geschütze wurden erbeutet. Die Russen befinden sich im Rückzug über den Bug. Auch bei der Armee Dankl, die nun Lublin angreift, sind ununterbrochen Erfolge zu verzeichnen. In Ostgalizien ist Lemberg noch in unserm Besitz. Gleichwohl ist dort die Lage gegenüber dem starken und überlegenen Vorstoß sehr schwierig.
Ernst Eberlein, Breslau, Schlesien
Große Freude. Die Auflösung der Arbeitskompanie ist da. Ich fuhr nach Breslau und rüstete mich neu aus.
Josef Glaser, Gefangenentransport bei Wladimir-Wolinsk (Russland)
Um 1 Uhr nachts in Wladimir-Wolinsk eingetroffen, über eine Stunde ohne Bedeckung kreuz und quer durch die Stadt gefahren, schließlich in einer Kaserne Unterkunft gesucht. Russische Offiziere bewirten uns mit Wurst und Kognak. Eine Patrouille bringt uns um ½ 2 Uhr ins Spital, wo wir auf Stroh schlafen. Röckel wieder vorgefunden. Russische Studentin der Medizin nimmt sich unser an und sorgt für Frühstück. Die Bevölkerung scheint uns wohlwollend gestimmt zu sein. Um 12 Uhr in einem polnischen Gasthause für 1 Rubel sehr gut gespeist. Um 4 Uhr mittels Wagen zur Bahn gebracht. Erst in zweiter, dann in dritter Klasse untergebracht.
Donnerstag, 3. September 1914
Ernst Eberlein, Breslau, Schlesien
Früh: »Freiwillige zur Infanterie vor!« Spieker, ich und wenige andere, die sich meldeten. Es war nicht erhebend, dass so viele nicht hervortraten.
Josef Glaser, Gefangenentransport in Brest-Litowsk (Russland)
Langsame Fahrt mit vielen Aufenthalten. Gegend eintönig. Schlechte Verpflegung, gedrückte Stimmung. Gegen 7 Uhr abends nach Brest-Litowsk gekommen. Astverhaue und Drahthindernisse gesehen. Scheinwerfer sind sichtbar. Verbinden der Wunden geschieht im Zug. Die Wagen äußerst unsauber. Es verbreitet sich die Nachricht, dass Lemberg gefallen ist. Das ununterbrochene Pfeifen der Lokomotiven und Hornsignale stören die Nachtruhe.
Richard Walzer, Saint-Benoît-la-Chipotte (Frankreich)
Patrouille von nachts 12 Uhr bis morgens 7 Uhr. Um 8 Uhr Vormittag Abmarsch auf die Höhe im Forêt Sainte-Barbe. Wir stießen hier mit den 171ern zusammen und marschierten in Marschkolonne in das feindliche Maschinengewehrfeuer hinein. Sofort ausgeschwärmt und ins Gefecht. Wir machten hierbei 320 Gefangene, hatten selbst aber ziemlich Verluste. Gegen 12 Uhr mittags wurde erneut angegriffen und die Höhe gestürmt. Um 2 Uhr gingen wir auf der Höhe gegen die Batterie bei Ménil vor. Wir wurden wieder angegriffen. Sprungweise gingen wir immer mehr vor und erstürmten gegen 4 Uhr nachmittags die steile Bergkuppe. Nach kurzer Ruhe erhielten wir plötzlich von allen Seiten Feuer. Wir waren auf unserer Höhe eingeschlossen. Die Höhe wurde sofort voll besetzt, wobei wir sahen, dass sich die Franzosen bis auf 20 m heraufgeschlichen hatten. Sie riefen uns »Ergeben!« zu, worauf wir annahmen, sie wollten sich ergeben. Wir sandten Gruppen vor, um die Kerls in Empfang zu nehmen. Da stellte sich erst heraus, dass die uns meinten, die sich ergeben sollen. Unsere Antwort waren Infanteriesalven. Was sich zeigte, wurde zusammengeschossen. Mit Einbruch der Dunkelheit Rückzug der Kompanie im Eilmarsch bis gegen Saint-Benoît. Hier erhielten wir Essen und biwakierten im Wald. Wir hatten heute elf Tote und 32 Verwundete in der Kompanie.
Georg Becker, Igney-Avricourt (Frankreich)
Französisch-Avricourt (Igney). Nachts war ein großer Teil von uns in einem verlassenen Hause einquartiert, nachdem es von der furchtbaren Verwüstung, die die Bayern hier angerichtet haben, gesäubert worden war. In Deutsch-Avricourt haben wir von der barbarischen Zerstörungswut der Franzosen gehört, wie sie ihren Unrat in Schmalztöpfe entleert haben und Ähnliches. Leider mussten wir sehen, dass die Deutschen zwar nicht ganz so schlimm gehaust, aber auch alles aus Schränken und Schubladen herausgerissen und vieles mutwillig zerstört hatten. Die Bayern, von deren Tapferkeit alles des Lobes voll war, sollen besonders schlimm gewesen sein. In zwölf Minuten kann man den Schienen entlang nach Deutsch-Avricourt hinüberkommen. Hier staut sich alles, Verwundetenzüge kommen von verschiedener Richtung. Nur Dr. Fischer, Oberarzt von der Transportabteilung und Freund von Prof. Schönborn, ist hier tätig mit einem Unterarzt. Er kann die Arbeit nicht bewältigen, und dabei sind im Ort das Kriegslazarett des 21. Korps und zehn Minuten weiter wir mit achtzehn Ärzten in öder Untätigkeit. Zwar müssen Verwundetenzüge, weil sie keine Einfahrt haben, oft stundenlang in unsrer Nähe halten, und die Insassen, die ganz schlecht auf Stroh gebettet sind, werden mit Kognakwasser, trockenem Kommissbrot, die Schwerstkranken mit Morphiuminjektionen erquickt. Hin-und-her-Telegrafieren bringt keine Klärung, nur soviel geht daraus hervor, dass wir nicht mehr, wie es vorübergehend in Bensdorf war, dem 21. Korps, sondern wieder dem 2. Bayrischen Korps zugehören. Nach langem Bohren, besonders von Schönborn, wird endlich nach einem Besuch des Generaloberarztes Ehehalt in Deutsch-Avricourt die Erlaubnis gegeben zu dem, was die Stunde fordert: in Deutsch-Avricourt ein Lazarett zu errichten.
Clara und Josephine Bohn, Ingersheim, Elsaß-Lothringen
Alle Fahrleute der umliegenden Ortschaften mussten mit ihren Fuhren nach Drei-Ähren, um Verwundete zu holen. Viele Männer davon wurden erschossen, da sie im Feuerregen standen. In der Nacht brannte es bei Leo Levy in der Hauptstraße, der Brand konnte aber sofort gelöscht werden.
Freitag, 4. September 1914
Friedrich Link, Festung Istein
Parole: Es lebe der Kronprinz! Auf Istein nichts Neues.
Richard Walzer, bei Ménil-sur-Belvitte (Frankreich)
Morgens 6 Uhr Vormarsch gegen gestrige Stellung. Wir gerieten bereits auf dem Marsche in feindliches Infanteriefeuer. Wir schwärmten in die Linie ein. Es ging sprungweise vor, die Höhe wurde mit Bajonett gestürmt. Auf der Höhe erhielten wir Artilleriestreufeuer und Maschinengewehrfeuer. Wir stürmten den Abhang hinunter und fanden verschiedene Wagen mit Weißbrot vor. Zuerst taten wir uns hiervon gütlich, und dann ging es weiter. Wir stürmten die zweite Anhöhe und kamen in eigenes Infanteriefeuer, was uns zwang, wieder zurückzugehen. Nach einer Stunde ging es wieder erneut vor bis zur Anhöhe, wo wir uns eingruben. Gegen Abend wurden wir von den 172ern abgelöst, da wir ins Tal sollten zur Feldküche. Mit Einbruch der Dunkelheit marschierten wir wieder nach der Stellung. Als wir am Bergabhang ankamen, kamen wir in Marschkolonne ins feindliche Feuer. Die 172er hatten sich den soeben gestürmten Bergrücken wieder von den Franzosen zurücknehmen lassen. Wir griffen sofort wieder mit ein und stürmten mit dem Bajonett erneut die Höhe. Sofortiges Eingraben. Wir hatten heute drei Tote und fünfzehn Verwundete in der Kompanie.
Samstag, 5. September 1914
Hilde Grapow, Kassel
Wir haben Reims ohne einen Schwertstreich besetzt! Herrlich! Außerdem 90 000 unverwundete gefangene Russen! Ich möchte wissen, wo wir mit dem Volk hin sollen! Es ist grässlich, die alle ins Land zu kriegen, und füttern muss man sie auch noch.
Josef Glaser, Gefangenentransport bei Minsk (Russland)
Die Nacht durchgefahren. Um 6 Uhr früh warmes Wasser für Tee erhalten. Niemand kümmert sich um unsere Verpflegung. Wie am Vortage starke Leibschmerzen. Um 1.30 Uhr in Minsk angekommen, Bahnhof beflaggt. Gegen 5 Uhr zur Bahnrestauration geführt, wo wir in einer Vorhalle essen sollen, was wir ablehnen. Eine Stunde später im Wagen gespeist.
Friedrich Link, Festung Istein
Nachricht aus Efringen, dass Cilly mit Hannchen dort eingetroffen. Mittags 12 Uhr bekomme Patrouille nach Efringen und treffe meine Lieben am...
Erscheint lt. Verlag | 18.6.2014 |
---|---|
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Alltag • Berichte • Chronik • Collage • Erfahrungen • Erster Weltkrieg • Gesellschaft • Herbert Kapfner • Kollektiv • Krieg • Lisbeth Exner • Politik • Privat • Schicksal • Tagebuch |
ISBN-10 | 3-462-30808-4 / 3462308084 |
ISBN-13 | 978-3-462-30808-2 / 9783462308082 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
![EPUB](/img/icon_epub_big.jpg)
Größe: 4,5 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich