Die Lehren der Philosophie (eBook)
476 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73727-9 (ISBN)
<p>Michael Hampe, geboren 1961, studierte Philosophie in Cambridge und Heidelberg sowie Biologie in Heidelberg. Danach lehrte er in Dublin, Kassel und Bamberg und ist seit 2003 Professor für Philosophie an der ETH Zürich sowie Mitglied am dortigen Zentrum Geschichte des Wissens (ZGW).</p>
452
Maieutische und akademische Philosophie
Behaupten ist in der Philosophie schon früh zu einem Problem geworden. Es ist zwar kaum zu entscheiden, wie die als »vorsokratisch« bezeichneten Sprüche, als sie zum ersten Mal geäußert wurden, gemeint waren. Doch Texte wie diese sind als Behauptungen deutbar: »Aus welchen die seienden Dinge ihr Entstehen haben, dorthin findet ihr Vergehen statt […].«1 Und: »Die gegebene schöne Ordnung aller Dinge, dieselbe in allem, ist nicht von einem der Götter geschaffen worden, sondern sie war immer und wird immer sein: Feuer, ewig lebendig, nach Massen entflammend und nach [denselben] Massen erlöschend.«2 Hier scheint behauptet zu werden, daß die Entstehungsbedingungen der Dinge auch für ihren Untergang sorgen und daß die Welt weder geschaffen worden noch entstanden ist, sondern einen ewigen Prozeß darstellt. Stuft man solche Texte als Anfang des rationalen Denkens und Erklärens ein und betrachtet Denken und Erklären wiederum als ein Verfahren der Begründung von Behauptungen, dann haben Thales und Anaximander, Heraklit und Parmenides tatsächlich etwas behauptet und versucht, es zu begründen.3 Sie haben vielleicht auch schon danach gestrebt, auf 46der Grundlage ihrer Behauptungen und Begründungen etwas zu erklären. Insofern stehen sie am Anfang eines Prozesses, der zunächst als der der Entwicklung philosophischer Lehren bekannt wurde und heute vor allem der des Fortschritts der Forschung und erklärenden Wissenschaften ist.
Auch Sokrates behauptet in den Platonischen Dialogen einiges und begegnet vielen, die Behauptungen aufstellen. Nach der Selbsteinschätzung, die Platon ihm im Theaitetos in den Mund legt, ist er selbst jedoch gar kein Behauptender im Sinne eines Vertreters einer Lehre, sondern nur einer, der denjenigen, die etwas behaupten, zur Seite steht, ihre Behauptungen untersucht und prüft. Mit der bekannten Metapher der Geburtshilfe charakterisiert er seine eigene intellektuelle Tätigkeit so: »[I]ch gebäre nichts von Weisheit, und was mir bereits viele vorgeworfen, daß ich andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgend etwas antwortete, weil ich nämlich nichts Kluges wüßte zu antworten, darin haben sie recht […]. Daher bin ich selbst keineswegs etwa weise, habe auch nichts dergleichen aufzuzeigen als Ausgeburt meiner eigenen Seele.«4 Sokrates sieht seine Aufgabe nicht im Aufstellen von Behauptungen, sondern darin, »zu prüfen, ob die Seele des Jünglings Mißgestaltetes und Falsches zu gebären im 47Begriff ist; oder Gebildetes und Echtes.«5 Er stellt Behauptungen in Frage, ohne sie durch vermeintlich bessere zu ersetzen. Zwar wird häufig gesagt, daß die Explikation (oder gar Definition) des Wissens als wahre begründete Meinung auf Sokrates im Theaitetos zurückgehe. Doch am Ende dieses Dialogs heißt es: »Und das ist doch auf alle Weise einfältig, denen, welche Erkenntnis [epistemen] suchen, zu sagen, sie sei richtige Vorstellung, verbunden mit Erkenntnis, gleichviel ob des Unterschiedes oder sonst etwas anderen. Weder also die Wahrnehmung [aisthesis], […] noch die mit der richtigen Vorstellung verbundene Erklärung [met’ alethous doxes logos] kann Erkenntnis sein.«6 Sokrates hat alle möglichen Behauptungen über die Erkenntnis oder das Wissen aus der Seele des Theaitetos als Hebammenkünstler des Denkens »zur Welt gebracht« und geprüft. Sie haben sich allesamt als geistige Mißgeburten, als nicht überlebensfähig erwiesen.7 Trotzdem ist die Unterredung nicht gescheitert. Denn Theaitetos hat nichts mehr über die Erkenntnis zu sagen, geht nicht mehr »schwanger« mit Behauptungen, hat keine Wehen mehr. Das Aufhören des Behauptens scheint also auch ein Ergebnis des philosophischen Denkens und Unterredens sein zu können. Deshalb hält Sokrates keine Vorlesungen und schreibt keine Lehrbücher, obwohl er in manchen Platonischen Dialogen ziemlich lange redet. Er scheint dieses Bedürfnis des Behauptenmüssens schon überwunden zu haben. Das Festhalten an und die Verbreitung von richtigen Behauptungen ist nicht mehr das Ziel des Maieutikers und Erziehers Sokrates.
Sofern die Philosophie sokratisch blieb, unterscheidet sie sich bis heute von dem Projekt der behauptenden und erklärenden Wissenschaften, das die Vorsokratiker (willentlich oder nicht) in Gang gebracht haben. Es ist ungeheuer erfolgreich geworden. Kein anderes Projekt ist bekannt, das bessere Erklärungen liefert als die experimentell vorgehenden Erfahrungswissenschaften. In 48deren Schatten ist diejenige Philosophie, die nicht zur erklärenden Wissenschaft geworden, aber doktrinär geblieben ist, weitgehend in der kulturellen Bedeutungslosigkeit versunken und nur noch eine rein akademische Veranstaltung. Philosophische Erklärungen beziehen sich in der doktrinären Philosophie fast nur noch auf selbstgemachte akademische Fragen. Anders als die Wissenschaft über die Technik und die Wirtschaft erreichen die philosophischen Doktrinen die Lebenswelt von Nichtphilosophen kaum mehr. Die doktrinäre Philosophie ist durch den Erfolg der positiven Wissenschaften entweder explanatorisch überflüssig oder zu einem bloß sekundären Explikationsgeschäft geworden. »Welthaltigkeit« kann sie nur noch durch den akademischen Selbstbezug erzeugen oder: ihre Welt bleibt die der Seminar- und Konferenzräume. Sie verfügt, wie schon Cassirer diagnostiziert hat, nicht mehr über einen theoretischen Rahmen, der sich unabhängig von der Entwicklung der Einzelwissenschaften (oder sie gar begründend) auf die außerakademische Welt in einer belehrenden Weise beziehen könnte.8
Doch seit Sokrates ist die Philosophie ja auch postdoktrinär. Die, die dieses Projekt seitdem verfolgen, treiben seit dem Justizmord an Sokrates als Kritiker der herrschenden Moral, der politischen Ideologien, des religiösen Aberglaubens oder der wissenschaftlichen Weltauffassung ohne Doktrinen das voran, was als das Projekt der europäischen Aufklärung charakterisierbar ist. Sie heißen Pyrrho und Montaigne, Friedrich Schlegel und Lichtenberg, Nietzsche und Wittgenstein, Rorty und Feyerabend. Diese postdoktrinären Philosophen befragen die zentralen kulturellen Projekte auf ihre normativen Konsequenzen hin, decken auf, wann selbstgestellte Ansprüche in ihnen nicht erfüllt werden, wann durch diese Vorhaben Folgen eintreten, die niemand gewollt hat. Die Kritik des Behauptens als solchen und die Kritik an der Verallgemeinerung wissenschaftlicher, religiöser 49und politischer Lehren über die Anwendungsbereiche hinaus, für die sie einmal geschaffen wurden, ist von Sokrates bis in die Gegenwart ein nicht zu ersetzendes philosophisches Geschäft. Es wirft freilich wirtschaftlich nichts ab. Doch als Religions-, Wissenschafts- und allgemeine Kulturkritik betreffen die Fragen der nichtdoktrinären Philosophie auch Nichtphilosophen. Sokratische Fragen an die Neurowissenschaften, ob sie unter »freiem Willen« wirklich das verstehen, was man landläufig darunter versteht, oder an die Politik, ob die Erhöhung des Bruttoinlandproduktes irgend etwas mit Gerechtigkeit und Glück zu tun habe und was die Politik jenseits der Wahlplakate überhaupt unter Gerechtigkeit und Glück versteht, aber auch Fragen an die Erziehungsinstitutionen, zu welchen Erwachsenen sie die Kinder eigentlich erziehen wollen: zu besonders konkurrenzfähigen oder besonders gerechten oder glücklichen Menschen, solche Fragen sind nicht nur in der Universität relevant. Sie überhaupt stellen zu können, macht die Geistesfreiheit der europäischen Zivilisation aus. Die nichtdoktrinäre Philosophie versucht zu verhindern, daß Menschen durch religiösen, politischen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Dogmatismus unfrei werden.
Der Unterschied zwischen einer philosophischen Lehre und der nichtdoktrinären Philosophie ist daher nicht der zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, obwohl man behaupten kann, daß Sokrates nach den Maßstäben der heutigen philosophischen Disziplinen vor allem ein Moral- und politischer Philosoph gewesen ist. Denn auch in der praktischen Philosophie kann man sich mehr mit der Konstruktion und Verfeinerung von Doktrinen wie etwa des Utilitarismus, der deontologischen Ethik und des moralischen Realismus beschäftigen, um sie dann, in akademisch approbierter Form, »zur Anwendung« zu bringen. Oft tritt dann Erstaunen ein, wenn die so ausgefeilten Lehren nicht auf die erwartete Resonanz in der außeruniversitären Welt stoßen. Auch Platon soll (vielleicht in Reaktion auf Sokrates, wie wir noch sehen werden) selbst eine solche Doktrin, zumindest mündlich, vertreten haben, indem er eine Vorlesung 50über das Gute, die dann eine über das Eine geworden sein soll, gehalten hat, die sich vermeintlich nicht auf gängige Vorstellungen, ja nicht einmal auf seine philosophischen Vorgänger bezogen hat, sondern nur seine eigenen schwer verständlichen Überzeugungen explizierte.9 Alle Besucher philosophischer Tagungen über die gegenwärtige philosophy of mind oder Erkenntnistheorie kennen diese Geschichts- und Weltvergessenheit des doktrinären Philosophierens auch aus der Gegenwart.
Mit den Vorlesungsskripten des Aristoteles etabliert sich dann endgültig eine monographische Darreichungsweise der Philosophie: Ein Text, der Vormeinungen und Behauptungen zu einem Thema sammelt, Argumente und Gegenargumente prüft und kritisiert und dann zu Behauptungen kommt, die, anders als bei der vorsokratischen Sprüchesammlung oder dem Platonischen Dialog, eindeutig dem Verfasser als seine Theorie zuordenbar sind.
Die überlieferten Werke von Thales bis...
Erscheint lt. Verlag | 14.4.2014 |
---|---|
Mitarbeit |
Kommentare: Holm Tetens, Gerson Reuter, Jasper Liptow, Rahel Jaeggi, Petra Gehring, Gottfried Gabriel, Gerhard Ernst |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Behauptung • Erklärung • Erziehung • Kritik • Lehre • Philosophie |
ISBN-10 | 3-518-73727-9 / 3518737279 |
ISBN-13 | 978-3-518-73727-9 / 9783518737279 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,3 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich