Ein säkulares Zeitalter (eBook)
1297 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74040-8 (ISBN)
<p>Charles Taylor ist emeritierter Professor für Philosophie an der McGill University in Montreal und einer der einflussreichsten Sozialphilosophen der Gegenwart. Geboren 1931 in Kanada, studierte er an der McGill University und an der Universität Oxford, wo er 1961 seinen Ph.D. erwarb. Danach kehrte er nach Montreal zurück und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung politische Philosophie. Er hat bahnbrechende Studien vorgelegt, u.a. zu Hegel sowie zum Kommunitarismus, Säkularismus und Multikulturalismus. Charles Taylor nahm Gastprofessuren u.a. an den Universitäten von Oxford, Princeton, Berkeley, an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt und der Hebrew University Jerusalem wahr. 1997 erhielt er den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und 2007 den Templeton-Preis (für <em>Ein säkulares Zeitalter</em>), 2008 wurde er für sein Lebenswerk mit dem Kyoto-Preis ausgezeichnet, der als »Philosophie-Nobelpreis« gilt. Charles Taylor war zudem Mitglied der britischen Labour-Partei und kandidierte für das kanadische Unterhaus.</p>
1 Bollwerke des Glaubens
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Eine mögliche Formulierung der Frage, die ich hier beantworten möchte, lautet wie folgt: Warum war es in unserer abendländischen Gesellschaft beispielsweise im Jahre 1500 praktisch unmöglich, nicht an Gott zu glauben, während es im Jahre 2000 vielen von uns nicht nur leichtfällt, sondern geradezu unumgänglich vorkommt?
Eine Teilantwort dürfte darauf hinauslaufen, daß in jener Zeit alle Menschen gläubig waren und die Alternativen daher abwegig erschienen. Doch damit wird die Frage nur weiter zurückgeschoben. Wir müssen verstehen, wie sich die Dinge verändert haben. Wie kam es, daß die Alternativen denkbar wurden?
Ein wichtiger Teil des Gesamtbilds besteht darin, daß so viele Merkmale der damaligen Welt für den Glauben sprachen und dafür sorgten, daß es unmöglich erschien, die Gegenwart Gottes zu bestreiten. Drei dieser Merkmale, die in der von mir erzählten Geschichte eine Rolle spielen werden, werde ich jetzt nennen:
(1) Die natürliche Welt, in der die Menschen damals lebten und die im Kosmos ihrer Vorstellungen eine bestimmte Stelle einnahm, war ein Beleg für die Absichten und Handlungen Gottes. Das gilt nicht nur in der offenkundigen Hinsicht, die auch heute noch verständlich ist und (zumindest von vielen) gewürdigt wird – nämlich daß die Ordnung und der Plan dieser Welt für die Schöpfung sprechen –, sondern auch insofern, als die großen Ereignisse innerhalb dieser natürlichen Ordnung, also Stürme, Dürrezeiten, Überschwemmungen, Pestepidemien, aber auch außergewöhnlich fruchtbare und ertragreiche Jahre, als Handlungen einer höheren Gewalt angesehen wurden, um es mit Hilfe einer nicht mehr lebendigen Metapher unserer juristischen Sprache auszudrücken.
(2) Mit Gott hing auch schon die bloße Existenz der Gesellschaft zusammen. (Dieser moderne Begriff wurde allerdings noch nicht zu ihrer Kennzeichnung benutzt; vielmehr sprach man von Polis, Königreich, Kirche oder dergleichen.) Von einem Königreich konnte man sich gar keine andere Vorstellung machen als die, daß es auf etwas Höherem gründe als bloß menschlichen Handlungen innerhalb der säkularen Zeit. Darüber hinaus war (wie in der Einleitung erwähnt) das Leben in den verschiedenen, die Gesellschaft bildenden Verbänden – Kirchgemeinde, Sprengel, Zünfte und so weiter – mit kirchlichen Riten und Zeremonien verknüpft. Man konnte gar nicht umhin, überall Gott zu begegnen.
(3) Die Menschen lebten in einer »verzauberten« Welt. Das ist vielleicht nicht der geeignetste Ausdruck, denn er läßt offenbar an Lichtgestalten und Elfen denken. Aber ich berufe mich hier auf die Negation dieses Ausdrucks, den von Max Weber eingeführten und zur Kennzeichnung der modernen Situation benutzten Begriff »Entzauberung«. Dieser Ausdruck ist in Diskussionen über unser Thema dermaßen geläufig, daß ich sein Antonym benutzen werde, um ein entscheidendes Merkmal der vorneuzeitlichen Situation zu beschreiben. Die in diesem Sinn verzauberte Welt ist die Welt der Geister, der Dämonen und der moralischen Kräfte, in der unsere Vorfahren lebten.
Menschen, die in einer solchen Welt leben, glauben deshalb nicht unbedingt an Gott und, wie die Existenz zahlloser »heidnischer« Gesellschaften zeigt, bestimmt nicht an den Gott Abrahams. Doch in der Weltanschauung der europäischen Bauern um 1500 war der christliche Gott – jenseits aller unumgänglichen Ambivalenzen – der maßgebliche Garant dafür, daß das Gute den Sieg davonträgt oder zumindest die zahlreichen Kräfte der Finsternis in Schach hält.
In einer Welt mit den drei genannten Merkmalen ist der Atheismus nachgerade unvorstellbar. Es erscheint so offensichtlich, daß Gott da ist, im Kosmos agiert, Gesellschaften gründet und stützt und als Bollwerk gegen das Böse dient. Eine Teilantwort auf meine Ausgangsfrage – »Was ist zwischen 1500 und 2000 geschehen?« – lautet also, daß diese drei Merkmale verschwunden sind.
Damit kann aber, wie ich in der Einleitung dargelegt habe, nicht schon die ganze Geschichte erzählt sein. Die neuzeitliche Entwicklung ist nicht bloß eine Geschichte des Verlusts, der Subtraktion. Der ausschlaggebende Unterschied, der zwischen den beiden genannten Daten zu erkennen ist, ist ein Wandel in der Auffassung dessen, was in meiner Terminologie »Fülle« heißt: ein Wandel von einer Situation, in der unsere höchsten spirituellen und moralischen Bestrebungen unvermeidlich auf Gott verweisen und, wie man sagen könnte, ohne Gott keinen Sinn haben, hin zu einer Situation, in der es möglich ist, diese Bestrebungen mit einer Unmenge verschiedener Quellen in Verbindung zu bringen, und in der sie oft auf Quellen bezogen werden, die die Existenz Gottes bestreiten. Das Verschwinden der drei genannten Formen, in denen Gottes Präsenz in unserer Welt empfunden wird, macht diesen Wandel zwar bestimmt leichter, aber es hätte als solches nicht ausgereicht, um ihn herbeizuführen. Denn selbst in einer entzauberten Welt, in einer säkularen Gesellschaft und in einem nicht mehr als Kosmos begriffenen Universum ist es zweifellos möglich, die Fülle als Gottesgeschenk zu erfahren. Um die Fähigkeit zum Verzicht auf diese Erfahrung zu erlangen, brauchten wir eine Alternative.
Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, wird also nicht nur darüber berichten, wie die Präsenz Gottes in diesen drei Bereichen immer schwächer geworden ist, sondern sie muß auch erklären, wie etwas anderes als Gott zum notwendigen, objektiven Pol des moralischen oder spirituellen Strebens – der »Fülle« – werden konnte. In einem gewissen Sinn lautet die große Frage im Hinblick auf dieses Geschehen: Wie konnten Alternativen zum Gottesbezug der Fülle entstehen? Das Thema, mit dem ich mich befassen werde, ist die Entstehungsgeschichte des ausgrenzenden Humanismus.
Es gibt eine häufig erzählte »Subtraktionsgeschichte«, die alles auf Entzauberung zurückführt. Zunächst habe uns die Naturwissenschaft eine »naturalistische« Welterklärung geschenkt. Anschließend hätten die Menschen damit begonnen, nach Alternativen zu Gott Ausschau zu halten. Aber so haben sich die Dinge nicht abgespielt. Die neue mechanistische Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts wurde nicht unbedingt als eine Gefahr für Gott gesehen. Eine Bedrohung war sie für das verzauberte Universum und die Magie. Nach und nach wurde sie auch für bestimmte Formen der Vorsehung zum Problem. Es gab jedoch wichtige christliche Motive dafür, den Weg der Entzauberung einzuschlagen. Im achtzehnten Jahrhundert war von Darwin noch nicht einmal etwas zu erahnen.
Dann wurde die Gesellschaft freilich als etwas Säkulares aufgefaßt. Man machte Revolution, was in manchen Fällen einschloß, daß man auch gegen die Kirche rebellierte. Aber es konnte auch, wie um 1640 in England, im Namen anderer Kirchenstrukturen und mit dem ausgeprägten Gefühl geschehen, von der Vorsehung geführt zu werden.
Eine umfassendere Subtraktionsgeschichte besagt, nicht nur die Entzauberung, sondern auch das Dahinschwinden von Gottes Präsenz in allen drei Bereichen habe die Menschen dazu veranlaßt, die möglichen Alternativbezugspunkte der Fülle in neuer Weise zu betrachten – so als ob diese Alternativen schon dagewesen wären und nur auf eine Einladung gewartet hätten.
Meines Erachtens waren diese Alternativen in einem wichtigen Sinn keineswegs schon da. Freilich, es gab diverse Theorien, die von manchen Personen erdacht worden waren und gegen die rechtgläubige Autoren vom Leder gezogen hatten. In manchen Fällen waren diese Theorien von antiken Autoren ausführlich dargelegt worden. Das waren jedoch noch keine wirklich verfügbaren Alternativen, das heißt keine alternativen Deutungen, die, wenn man von einigen besonders originellen Köpfen absieht, von den Menschen wirklich verstanden werden konnten.
Negativ ausgedrückt: Es war äußerst schwierig zu erkennen, wie diese Rolle von einem ausgrenzenden Humanismus hätte wahrgenommen werden können, solange das Universum nach Auffassung der Menschen verzaubert war, wir Menschen also als Wesen galten, die in einem Reich voller Geister – und zum Teil böser Geister – lebten. In dieser Hinsicht hat die Naturwissenschaft durch ihr Mitwirken bei der Entzauberung der Welt natürlich dazu beigetragen, dem ausgrenzenden Humanismus den Weg zu bahnen. Eine entscheidende Bedingung dafür war ein neues Sensorium für das Ich und dessen Stellung im Kosmos. Es galt nicht mehr als offen, porös und einer Welt der Geister und magischen Kräfte ungeschützt ausgeliefert, sondern als sozusagen »abgepuffert«. Aber um das abgepufferte Selbst hervorzubringen, war mehr nötig als Entzauberung. Es bedurfte darüber hinaus eines Vertrauens in die eigenen sittlichen Gestaltungskräfte.
Aber ist es denn nicht so, daß die nichttheistischen ethischen Systeme der heidnischen Antike das Rüstzeug dafür enthielten? Das ist nach meiner Überzeugung nur ganz rudimentär der Fall. Zunächst einmal wird der Mensch auch von einigen dieser Auffassungen in eine umfassendere spirituelle oder kosmische Ordnung gestellt. Das gilt beispielsweise für den Platonismus und den Stoizismus. Sie hatten zwar nicht unbedingt etwas mit Magie und Waldgeistern zu tun, aber sie widersetzten sich der Entzauberung und der mechanistischen Auffassung des Universums auf je eigene Weise. Nach meiner Auffassung vertraten sie keinen wirklich ausgrenzenden Humanismus. Das würde ich sogar im Hinblick auf Aristoteles...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2010 |
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Übersetzer | Joachim Schulte |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Secular Age, 2007 |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Areligiosität • A Secular Age deutsch • Berggruen-Preis 2016 • Bruno-Kreisky-Preis 2010 • Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch • Geschichte • John-W.-Kluge-Preis 2015 • Moderne • Säkularisierung • Zeitfragen |
ISBN-10 | 3-518-74040-7 / 3518740407 |
ISBN-13 | 978-3-518-74040-8 / 9783518740408 |
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