»Die Gott suchen, denen wird das Herz aufleben.«
Psalm 69,33
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Der Sängerstamm
| VON DER SUCHE DES HERZENS
Die Alten wussten, wie man die »Sänger« findet. An den reißenden Stellen der Gebirgsflüsse – so berichten die, deren Familien von jeher in der Tradition des Geigenbaus verwurzelt waren – standen ihre Väter und lauschten dem Aneinanderschlagen der Stämme, die sie täglich durch die Fluten hinab ins Tal flößten. Einige der Stämme begannen im Wasser zu schwingen, zu singen, zu klingen. Unter den vielen Stämmen erkannten die Meister so jene besonderen »Sängerstämme« für den Bau ihrer Geigen.
Jahrhunderte zuvor hatten die winzigen Keimlinge der heute mächtigen Stämme im kargen Boden des Bergwalds nach Wasser gesucht und waren im Laufe der Zeit zu stattlichen Bäumen herangewachsen. Für den Geigenbauer ist der enge Baumbestand in den Hochlagen eine Gnade, denn er lässt die Grünastkronen der aufrechten Bergfichten erst sehr weit oben beginnen. So formen die Bäume ihre astfreien, gut vierzig oder fünfzig Meter hohen, stolzen Stämme. Für die akustischen Resonanzplatten im Musikinstrumentenbau ist ihr Holz allen anderen natürlichen Materialien weit überlegen.
Was hier über zwei oder drei Jahrhunderte hinweg langsam wuchs, hat nichts mit den üblichen weitjährigen Fichten gemein, die in den Niederungen wachsen. Diese sind schnell in die Höhe geschossen, und ihre Zellwände sind darum nicht belastbar. Im milden Klima haben sie breite Jahresringe und bis spät in den Herbst hinein ihr schweres Spätholz gebildet. Ihre Zellen sind dickwandig und kurzfaserig. Der hohe Spätholzanteil verdirbt den Klang, und ihre Äste reichen im Stamm bis weit nach unten. Da findet das Charisma der Geige – ihr Klang – keine Substanz.
Ganz anders ist es mit den Giganten der Gebirge, von denen ich nun schreiben will. Diese Bergfichten werfen im Laufe ihres langsamen Wachstums ihre unteren Äste ab. In den dunklen Bergwäldern strecken sie ihre Grünastkronen nach oben, dem Licht entgegen. Ihre unteren Äste sterben ab, denn ihre Nadeln erreichen nicht mehr das Licht. Doch dadurch wächst im lang gestreckten Stamm die für den Geigenbau notwendige astfreie Substanz heran. Auch wenn der Boden und das raue Klima knapp unterhalb der Baumgrenze für die Bergfichten zur harten Herausforderung werden – dem Klang wird es zum Segen. Denn durch die »Krise« des mageren Bodens sie eine große Festigkeit. In dieser Substanz liegt die Berufung zum Klang.
| Im Steilhang des Windbruchs
Wann immer man sich im Gebirgswald auf die Suche nach solchen »Sängerstämmen« macht, entwickeln sich unvergessliche Abenteuer. Wie oft klopfte ich mit der stumpfen Seite der Axt die einzelnen Stämme an, spürte ihr Schwingen, hörte ihren Klang. Das Herz des Geigenbauers lebt auf, wenn er mit all seinen Sinnen nach dem Holz für die eigenen Geigen sucht.
Vor vielen Jahren – es war kurz nach meiner Lehrzeit in Mittenwald – brach ich mit einem Geigenbauerfreund in den Stuibenwald der Garmischer Alpen auf. Es war ein dunkler, bewölkter, kalter Wintertag. Nach vielen Stunden anstrengenden Bergmarsches mussten wir am Ende die gebahnten Wege verlassen und konnten uns nur noch durch kniehohen Schnee zu jenem Ort durchkämpfen, von dem wir bis dahin nur gerüchteweise gehört hatten: Es war ein Windbruch. Ein Teil des Hanges an der Baumgrenze war von einem starken Sturm heimgesucht worden. Als wir schließlich völlig erschöpft dort oben ankamen, waren wir schockiert. Unzählige gewaltige Fichten – gut bis zu siebzig Zentimeter im Durchmesser, dreißig bis vierzig Meter lang – lagen entwurzelt oder gebrochen kreuz und quer im Steilhang des Windbruchs. Doch dann riss die Wolkendecke auf, und die Sonne warf ihr Licht auf die weißlichen Stammquerschnitte, die jetzt offen und erhellt vor uns lagen. Der Verlauf der Jahresringe war überwältigend. Euphorisch boxten Andreas und ich uns gegenseitig an die Schulter: Dieser Wuchs, diese Regelmäßigkeit, die Feinheit ihrer Jahre! Da wurden Klangholzqualitäten beleuchtet, wie wir sie selten zuvor gesehen hatten. Sorgfältig inspizierten wir alles und traten dann beflügelt den Heimweg an. Wir stürzten uns wie junge Gämsen regelrecht den Berg hinunter, um möglichst noch am Abend des gleichen Tages das Forstamt zu erreichen und uns diesen Fund zu sichern. Als wir schmutzig, verschwitzt und überglücklich dort ankamen, wollte der Revierbeamte nicht glauben, dass wir tatsächlich zu dieser Jahreszeit dort oben gewesen waren. Wir hatten uns nicht erlaubt, die Schneeschmelze abzuwarten, denn natürlich hatten auch andere Geigenbauer von diesem Windbruch erfahren. Wir mussten also schneller sein. Wir waren besorgt, dass uns dieses außergewöhnliche Klangholz hätte abspenstig gemacht werden können, wenn wir auf die Schneeschmelze gewartet hätten.
| Der Glockenschlag
Wir erhielten die Erlaubnis, in dem Windbruch Stämme zu schneiden. Wenige Tage später waren wir wieder mit Rucksäcken und Proviant, diesmal aber auch mit einer Kettensäge und zwei »Zappis« (das sind spezielle Holzfällerwerkzeuge mit langen Haken, die es erlauben, die Baumstämme zu führen) auf dem Weg nach oben. Angesichts der überwältigenden Ausmaße der Stämme kamen wir uns vor wie zwei Blattläuse auf einem Berg von Mikadostäben. Außer der Säge hatten wir keine weiteren Hilfsmittel, keine Seilwinden, keine Flaschenzüge. Wir waren blutige Anfänger, aber fest entschlossen, unter all diesen Stämmen das beste Holz zu gewinnen. Beim Sägen mussten wir äußerst wachsam und überlegt vorgehen, denn es bestand natürlich stets die Gefahr, dass sich die gigantischen Mikadostäbe unkontrolliert in Bewegung setzten und uns, befreit von der Last eines anderen Stammes, wie ein Katapult entgegenschleuderten. Unsere Arbeitsweise war leichtsinnig und gefährlich. Das muss man rückblickend sagen.
Die freigelegten Stücke mussten nun in einem zweiten Schritt auf den gut zweihundert Meter tiefer gelegenen Ziehweg gebracht werden. Auch dafür fehlte uns das Werkzeug. So legten wir uns auf den Rücken und stemmten mit äußerster Beinkraft gegen die freigesägten Stammabschnitte, bis diese ins Rollen kamen. Sie sollten über den felsigen Berghang hinabstürzen und sich in einer günstig gelegenen Felsspalte unten verkeilen und so zum Liegen kommen. Der erste Stammabschnitt, wenngleich gut eine viertel Tonne schwer, erwies sich als zu klein. Er ließ uns vor Schreck erstarren, denn er sprang über die Felsspalte hinaus, die wir ihm zugedacht hatten, und stürzte in weiten Sprüngen ins Tal. (Glücklicherweise kam niemand zu Schaden.) Wir erkannten, dass wir größere Abschnitte sägen mussten, denn nur diese würden sich vor Erreichen des Ziehweges in jener Felsspalte verkeilen. Es gelang, und die Stämme türmten sich bald zwischen den beiden Felsen auf. Von dort konnten wir sie auf den Ziehweg rollen.
Die Art, wie die Stammabschnitte den Steilhang bis zu jener Spalte hinabstürzten, erwies sich als eine faszinierende akustische Erfahrung. Naturgemäß schlugen sie in großen Sprüngen immer wieder auf den Felsplatten auf. Die kraftvollen Töne, die das auslöste, hallten durch das ganze Tal. Zu unserem Erstaunen waren die Klangunterschiede aber überaus groß. Einer der drei Stämme – wir hatten vielleicht acht oder zehn je knapp zwei Meter lange Stammabschnitte ein und derselben Fichte zurechtgesägt – klang bei jedem Aufprall wie ein Glockenschlag. Es war ein Schall, der nicht mehr ausschwingen wollte, klar und frei und hell im Ton. Die Abschnitte der beiden anderen Stämme gaben beim Aufprall nur einen dumpfen, hölzernen Ton ab. Nicht so dieser eine Stamm – er war ein Sänger! Da begriffen wir, was die Vätergenerationen gemeint hatten, wenn sie im Geigenbau von jeher die Stämme in »Sänger« und »Nichtsänger« zu unterscheiden gewusst hatten. Als wir die Stämme dann über den Ziehweg rollten, bestätigte sich diese klangliche Erfahrung. Die Stammabschnitte des Sängers rauschten! Bei ihnen entstand während des Rollens auf dem Schotterweg ein satter, rauschender Ton! Die Nichtsänger dagegen blieben fast stumm.
Alles in allem hatten wir wohl gut zwölf Stunden gearbeitet, waren zu Tode erschöpft und doch zugleich überglücklich. Die Stammabschnitte waren an ihre Stelle gebracht und mit unserm Zeichen versehen. Damit gehörten sie uns. Nach der Schneeschmelze, in zwei oder drei Monaten, würden wir unseren gewaltigen Fund ins Tal hinabfahren, um ihn in das Sammelbecken des Sägewerkes zu flößen.
| Die Suche des Herzens
Ein großartiges Klangholz findet sich nicht nebenbei. Unsere Suche ist mir damals zu einem Gleichnis für eine viel umfassendere Suche geworden. Wenn schon ein guter Geigenklang diese Mühen und Wege verlangt, wie könnte dann der Klang unseres Lebens weniger verlangen? Es ist der Weg der wahren Pilgerschaft. Hat nicht Gott uns darum ein Herz gegeben, damit wir ihn suchen? Und wird nicht gerade diese Suche die Dinge unseres Lebens von Grund auf verändern? In einem Psalmwort heißt es: »Denen, die Gott suchen, wird das Herz aufleben« (69,33). Es ist bemerkenswert, dass dieses Wort nicht vom Finden, sondern vom Suchen spricht! Was dem Klang meiner Geigen das Holz ist, das ist meinem Leben der suchende und hörende Glaube.
Das Leben ist kein Weg im Flachland, wo die Dinge schnell wachsen und einfach zu finden sind, sondern es geht durch die Brüche, Widrigkeiten und Unwegsamkeiten hindurch. Eines ist allen Wegen der Gottessuche gleich: Ein leidenschaftsloser Geist ist der...