Neue Arbeitswelt in der Steuerberatung (eBook)
220 Seiten
Schäffer-Poeschel Verlag
978-3-7910-6230-3 (ISBN)
Ralf Haase ist Organisationsdesigner für agile Teams und Unternehmen sowie Leiter der Personalabteilung der AIOS Tax AG Steuerberatungsgesellschaft, Berlin.
Ralf Haase Ralf Haase ist Organisationsdesigner für agile Teams und Unternehmen sowie Leiter der Personalabteilung der AIOS Tax AG Steuerberatungsgesellschaft, Berlin.
1.1 Eine gute Theorie ist eine praktische Sache
Haben Sie schon mal versucht, ohne Mathematik eine Zahlenaufgabe zu lösen? Mathematik untersucht abstrakte Strukturen mittels der Logik auf ihre Eigenschaften und Muster. Sie dient als Werkzeug zur Lösung von eigentlich zu schweren Aufgaben und ist somit eine Abkürzung dafür. Genau so kann man auch die Systemtheorie verstehen, nämlich als Werkzeug für das Erklären sehr komplexer Phänomene in sozialen Organisationen, zu denen auch Unternehmen gehören. Somit kann diese, vor allem von dem deutschen Soziologen Niklas Luhmann beeinflusste Denkschule als Fundament für das Organisationsdesign und die Führung von dynamikrobusten Unternehmen dienen. Aber eine Theorie ist keine Methode – sie ist ein Werkzeug, das erst bei der Anwendung durch einen mitdenkenden Menschen zur Wirkung kommt. Man kann sie auch als Abkürzung verstehen, die schneller zu Ergebnissen führt. Mit Mathematik kann man Zusammenhänge in der Musik beschreiben. Aber man kann mit ihr nicht komponieren. So ähnlich verhält sich das auch mit der Systemtheorie und sozialen Systemen: Man kann mit ihr die Wirkmechanismen, Zusammenhänge und Unterschiede in kollaborativen Gruppen von Menschen beschreiben und erklären. Aber eine Handlungsanleitung sucht man darin vergebens. Vielleicht weil die Systemtheorie nicht handlungsleitend ist, wirkt sie nicht besonders anschlussfähig, aber der Effekt, dass auftretende Phänomene in Organisationen damit erklärbar werden, lässt meist die Lösung dabei schon offensichtlich zutage treten.
»Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie«, diese Erkenntnis hat Kurt Lewin geäußert und damit viele Menschen inspiriert. Und wenn man genauer darüber nachdenkt, was ohne Theorie alles in unserem Alltag unmöglich wäre, erschließt sich dieses Zitat auch ganz von allein: Eine Wettervorhersage ist deshalb einigermaßen zuverlässig, weil sich Meteorologen einer Theorie bedienen. Wie wir beobachten, kommt es oft dann doch etwas anders, aber die Grundtendenz stimmt schon. Das liegt daran, dass die Theorie die Komplexität der Realität in ein reduziertes Muster packt. Bestimmte Wirkfaktoren, die zwar relevant, aber für das Verstehen des Gesamtzusammenhangs von untergeordneter Bedeutung sind, werden weggelassen. Wie bei der physikalischen Beschreibung der Fallgeschwindigkeit. Auf einen fallenden Körper wirken zwar Luftwiderstand, Windverhältnisse und weitere Faktoren, die aber ignoriert werden können, ohne das Naturgesetz unverständlich zu machen. Natürlich kann man sich auch über Versuch und Irrtum an eine Erkenntnis herantasten, begeht aber damit einen viel schwereren Weg. Mit einer Theorie wird eine zielführende Erkenntnis wesentlich wahrscheinlicher.
Trotzdem hat die Theorie im Alltag keinen guten Stand. »Grau ist alle Theorie« heißt es oft. Und es wird ihr die Praxis als wirksameres Gegenstück entgegengehalten. Dabei sind Theorie und Praxis gar keine Antagonisten, sondern beide sind untrennbare Bestandteile menschlichen Handelns. Die Theorie unterstützt die praktische Umsetzung, reduziert Verschwendung bei »Try and Error«. Theorien wurden aus den praktischen Erkenntnissen heraus entwickelt, um bei Wiederholung der Lösung von Problemen bereits bekannte Grundlagen so zu beschreiben, dass Muster erkennbar sind. Wichtig dabei ist natürlich auch, dass man nicht ausschließlich blind theoriegläubig unterwegs ist, sondern stets mitdenkt, dass die Theorie ein Werkzeug ist, um die Komplexität zu reduzieren. Andererseits aber auch nicht bei jeder Ausnahme, die eine volatile, unsichere und mehrdeutige Situation mit sich bringen kann, die Theorie infrage stellt. Das Gesetz des freien Falles zweifelt auch keiner mehr an, nur weil in der Praxis ein Körper langsamer fällt, als es die Theorie beschreibt. Letzteres ist für die meisten gebildeten Menschen eine Selbstverständlichkeit. Im Hinblick auf die Einordnung von Phänomenen in Unternehmen, die, wie später im Buch noch beschrieben wird, als soziale Systeme zu betrachten sind, hat sich eine solche Denkweise noch nicht durchgesetzt. Das hängt wohl auch mit der menschlichen Neigung zusammen, zunächst mit dem von Daniel Kahneman beschriebenen schnellen Denken (System 1) zu agieren.2
Und so liegt die Annahme auf der Hand, dass wirksame Führung, passendes Organisationsdesign und gute Kollaborationsstrukturen mit Theorie wahrscheinlicher werden als ohne. Auf den Streit, welche Theorie dafür am besten geeignet ist, möchte ich in diesem Buch nicht näher eingehen, und zwar aus einem ganz praktischen Grund: Egal, ob man der Analyse und Erklärung von Phänomenen der Zusammenarbeit und Führung das Viable System Model (VSM), die Komplexitätstheorie, die Lehren von Deming oder die luhmannsche Systemtheorie3 zugrunde legt, kommt man immer zu relativ ähnlichen Ergebnissen und Konsequenzen im Denken und damit zu Impulsen für praktische Veränderungen in Unternehmen. Wenn man mit einer solchen Denkgrundlage auf Unternehmen blickt, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass man nicht Opfer, sondern Nutzer der Komplexität wird und damit sein Unternehmen zu einem dynamischen Höchstleister macht. Und da ich mich selbst mit der Systemtheorie am besten auskenne und weil sie sehr präzise, unmissverständlich und deutlich ist, wird sich dieses Buch weitgehend auf die Grundlage der Forschungsergebnisse von Niklas Luhmann beziehen. Die Begrifflichkeiten, die benutzt werden, sind besonders klar und geben damit wenig Raum für Spekulationen oder Missverständnisse.
Ohne eine brauchbare theoretische Grundlage ist gutes Organisationsdesign schwierig. »Eine gute Theorie ist das Praktischste, was es gibt«, sagte auch der deutsche Physiker Gustav Robert Kirchhoff. Das war weit vor dem Wirken von Niklas Luhmann, dessen Systemtheorie uns aktuell wertvolle Denkwerkzeuge zur Unternehmensentwicklung für die heutige und zukünftige Wertschöpfung liefert. »In der Enge globaler Märkte wird Überraschung zur wirksamen Waffe: Wer seinen Konkurrenten auf dem falschen Fuß erwischt, gewinnt«, sagt Gerhard Wohland in seinem Buch »Denkwerkzeuge der Höchstleister«. Diese Unternehmen, die er Höchstleister nennt, erzeugen die damit verbundene Dynamik oder nehmen sie in Gebrauch. Es geht in den aktuellen und zukünftigen Wirtschaftsräumen nicht mehr darum, Methoden, Prozesse oder Technologien, also Wissen, präzise und konsequent anzuwenden, sondern Talente der Mitarbeitenden, also das Können, zu erkennen und zur Wirkung zu bringen. Nicht das »Wie« ist entscheidend, sondern wer ein Problem lösen kann und dafür die richtigen Ideen hat.
In der heutigen Zeit beeinflussen Dynamik und Überraschung immer größere Teile der Wertschöpfung, wodurch die klassische BWL nicht mehr als universelles Werkzeug zur Unternehmensführung geeignet ist. Denn die BWL kennt nur Kausalitäten, Wenn-dann-Beziehungen von organisatorischen Operationen, die wiederkehrende und bekannte Probleme kennzeichnen. Damit lassen sich Prozesse steuern, die im systemtheoretischen Kontext »blaue Probleme« genannt werden. Für den dynamischen, auch als »rot« bezeichneten Teil der Wertschöpfung ist sie jedoch blind und kann mit Überraschungen nicht adäquat umgehen. Dazu mehr im Kapitel 4.1 dieses Buches.
Die aus dem tayloristischen Industriezeitalter stammende wissenschaftliche Basis des Wirtschaftens beruht auf konsequentem Einhalten von Regeln und absolutem Fokus auf effektiven Umgang mit Ressourcen. Konsequenz kann bei Überraschungen zur Falle werden, weil man sich dadurch leicht in eine Sackgasse manövriert, an deren Ende kein Kunde mehr zufrieden ist, und Effizienz endet bei dynamischen Märkten in der Reaktionsunfähigkeit, weil fehlende Redundanzen keinen Handlungsspielraum ermöglichen. In der Praxis der Steuerberatung zeigt sich die Falle des Taylorismus beispielsweise, wenn Kanzleien versuchen, komplexe Steuerfälle mit standardisierten, effizienzorientierten Prozessen zu bearbeiten. Das tayloristische Modell, das auf Spezialisierung und Routinen beruht, kann bei unvorhergesehenen oder individuellen Mandantenanforderungen an seine Grenzen stoßen. In einer Welt, die durch individuelle Kundenwünsche und schnelle technologische Veränderungen geprägt ist, erfordert erfolgreiche Wertschöpfung ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und kreative Problemlösungen.
Ein Beispiel wäre eine Steuerberatungskanzlei, die sich auf standardisierte Prozesse verlässt, um Steuererklärungen zu erstellen. Diese starren Prozesse mögen in der Vergangenheit gut funktioniert haben, als die steuerlichen Gesetze stabil waren und die Anforderungen der Mandanten vorhersehbar. In der heutigen VUCA-Welt (volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig) sind jedoch Flexibilität und Kreativität erforderlich, um auf die individuellen Bedürfnisse der Mandanten einzugehen und komplexe steuerrechtliche Herausforderungen zu bewältigen. Stellen wir uns vor, eine Kanzlei wird mit einer Situation konfrontiert, in der ein Mandant eine komplexe internationale Steuerstruktur hat, die schnelle und maßgeschneiderte Lösungen erfordert. Wenn die Kanzlei in ihren tayloristischen Methoden verhaftet bleibt, wird sie wahrscheinlich nicht in der Lage sein, eine adäquate Lösung zu finden. Die benötigte Flexibilität fehlt, und die Mitarbeiter sind möglicherweise nicht darin geschult oder ermächtigt, über den Tellerrand hinaus zu denken und kreative Lösungen zu entwickeln. Die Konsequenz wäre, dass der Mandant unzufrieden ist, weil seine spezifischen Bedürfnisse nicht erfüllt werden, und die Kanzlei könnte aufgrund ihrer Inflexibilität und langsamen Reaktionsfähigkeit Marktanteile verlieren. Das Festhalten an einem veralteten, starren Ansatz in einem sich schnell...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2024 |
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Verlagsort | Freiburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Wirtschaft ► Betriebswirtschaft / Management ► Unternehmensführung / Management |
Schlagworte | future leadership • Kanzleimangement • new work • Organisationsentwicklung • Ralf Haase • Ralf Haase • Steuerberatung • Steuerkanzleien • Unternehmenskultur |
ISBN-10 | 3-7910-6230-1 / 3791062301 |
ISBN-13 | 978-3-7910-6230-3 / 9783791062303 |
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