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Welche Leben soll man retten? (eBook)

Eine Ethik für medizinische Hilfskonflikte
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
261 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76842-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Welche Leben soll man retten? -  Annette Dufner
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Annette Dufner befasst sich in ihrem Buch mit dem medizinethischen Dilemma der Verteilungsgerechtigkeit. Im Fokus stehen dabei Situationen, in denen Patient*innen um begrenzte Ressourcen konkurrieren und nicht allen geholfen werden kann, wie es zuletzt auch im Zusammenhang mit dem Corona-Virus zu beobachten war. Derartige Hilfskonflikte sind gekennzeichnet durch ein elementares Spannungsverhältnis zwischen den Geboten der Fairness und der Effizienz. Dufner zeigt, wie diese gegenläufigen Gebote ins Verhältnis gesetzt werden können und was eine solche Position für die Medizin etwa bei der Verteilung von Spenderorganen oder in Triage-Situationen bedeutet.



<p>Annette Dufner ist Professorin für Ethik und Medizinethik an der Universität Bonn.</p>

251. Personenzahlvergleiche in Konfliktfällen


Dieses Kapitel befasst sich mit der Frage, wie mit Situationen umzugehen ist, in denen man entweder eine bestimmte Person (A) oder eine Gruppe anderer Personen (B,C,D,…) retten kann, nicht aber alle betroffenen Personen gleichermaßen. Der paradigmatische Fall, der dazu diskutiert werden soll, geht davon aus, dass mit einer bestimmten Dosis eines Medikaments entweder eine einzelne Person oder eine Gruppe von fünf anderen Personen gerettet werden kann, aber nicht alle sechs Personen gemeinsam. Der Grund für diese Einschränkung besteht schlicht in der von den jeweiligen Betroffenen benötigten Medikamentenmenge. Um das Leben der Einzelperson zu retten, wäre die gesamte vorhandene Ration notwendig, während jede der fünf anderen Personen nur ein Fünftel der Menge benötigen würde. Dieser Fall wurde ursprünglich von Philippa Foot in die Diskussion eingeführt[1]  und 10 Jahre später von John Taurek erneut aufgegriffen.[2]  Er illustriert auf zugespitzte Weise die grundlegenden Probleme, die angesichts möglicher Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen auftreten können.

Taurek, von dem lediglich ein einziger, dafür aber sehr einflussreicher Aufsatz bekannt ist, diskutiert den Fall besonders ausführlich. Er nennt den Einzelnen in seinem Aufsatz David. Zwar führt er mit dieser Namensnennung zunächst eine Fallvariante ein, in der der Entscheider David kennt und mag (und wohl deshalb seinen Namen weiß),[3]  der sprachlichen Einfachheit wegen soll im Folgenden aber ganz grundsätzlich von David-Fällen die Rede sein, ohne dabei anzunehmen, dass der Entscheider die Einzelperson persönlich kennt. Der Ausgangsfall dieser Untersuchung ist damit ein Fall, in dem aus Sicht des Entscheiders keine personenbezogenen, moralisch relevanten Unterschiede zwischen den Betroffenen be26stehen, sodass der Fokus der Untersuchung ausschließlich auf der unterschiedlichen Anzahl an Personen in den beiden betroffenen Gruppen liegen kann.

Obwohl dieser Fall in der dargestellten Form hypothetisch ist, können solche Fälle durchaus eintreten, und zwar insbesondere immer dann, wenn mit begrenzten Ressourcen die Rettung mehrerer Menschen sichergestellt werden soll. Bei den Ressourcen muss es sich nicht um Medikamente handeln, es kann beispielsweise auch um Zeit, Geld, menschliche Spenderorgane oder Rettungsboote gehen. Ein medizinethisches Beispiel, in dem die notwendige Ressource menschliche Spenderorgane sind, wäre der Fall von Patienten mit mehrfachem Organbedarf. Wenn mehrere Spenderorgane verfügbar sind, mit denen man einer Person mit mehrfachem Organbedarf helfen kann, könnten die betreffenden Organe alternativ dafür genutzt werden, mehreren anderen Personen auf der Warteliste zu helfen, die jeweils nur ein Organ benötigen. Man hätte dann mit denselben Ressourcen mehrere Menschen statt nur eine Person gerettet.

Solche Szenarien stellen insbesondere deshalb eine grundlegende Herausforderung an das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen dar, weil dabei die effiziente Nutzung von Ressourcen zum Zweck der Rettung von Menschenleben und das Prinzip der Chancengleichheit miteinander in Konflikt geraten. Würde man die Gruppe retten, so hätte man den effizientesten Gebrauch der begrenzten Ressourcen umgesetzt und die größtmögliche Anzahl an Menschenleben gerettet. Allerdings gilt auch das Folgende: Sollte man sich dazu entschließen, die Gruppe zu retten – weil es sich hierbei um die größere Anzahl an Menschen handelt –, so würde man Personen wie David aufgrund ihrer größeren Bedürftigkeit von vornherein keinerlei Chance einräumen.

Demgegenüber steht insbesondere die Möglichkeit, in solchen Fällen allen Betroffenen die gleiche Chance einzuräumen. Wie John Taurek in seinem Aufsatz vorschlägt, könnte dies beispielsweise dadurch geschehen, dass man eine Münze wirft. Was zunächst merkwürdig anmuten mag – wer möchte schon mittels eines profanen Münzwurfs über Menschenleben entscheiden –, hat einen durchdachten Grund: So würde ein Münzwurf nämlich tatsächlich allen Betroffenen die gleiche Überlebenschance einräumen – eine Möglichkeit, die im Allgemeinen durchaus dem Ge27rechtigkeitsempfinden der Menschen entspricht. Der Vorschlag, das Problem mittels Münzwurf zu lösen, basiert also auf einem der einflussreichsten Gerechtigkeitsprinzipien überhaupt: dem Prinzip der Chancengleichheit.

Man steht in David-Fällen also vor der Wahl, möglichst vielen Menschen zu helfen oder allen Betroffenen die gleichen Überlebenschancen einzuräumen. Beide Prinzipien entsprechen im Allgemeinen dem Gerechtigkeitsempfinden, können hier aber nicht gleichermaßen vollumfänglich berücksichtigt werden. Die nun folgende Untersuchung soll zunächst einige Rahmenbedingungen des Problems klären, um anschließend die zum genaueren Verständnis notwendige Unterscheidung eines personen-relativen und eines personen-neutralen Begriffs des Guten als Handlungsgründe implizierende moralische Größe zu diskutieren.

1.1 David oder der Fünfer-Gruppe helfen?


Vor dem Einstieg in die Diskussion ist es sinnvoll, den geschilderten David-Fall von einigen anderen berühmten Problemfällen aus der philosophischen Literatur abzugrenzen und deren Unterschiede aufzuzeigen. Ein Szenario dieser Art stellt der sogenannte Trolley-Fall dar, der ebenfalls von Philippa Foot in die Debatte eingeführt wurde.[4]  Dieser Fall stipuliert, man befinde sich in der Nähe einer Eisenbahnweiche und könne mittels Umlegen eines Hebels verhindern, dass ein heranrasender führerloser Zug eine Gruppe von fünf ahnungslosen Menschen überrollt – allerdings sitzt auf dem anderen Gleis, auf das man den Zug dadurch umleiten würde, ebenfalls eine ahnungslose Person, aber eben nur eine.

Dieser Fall ähnelt durchaus dem hier diskutierten David-Fall, mit dem Unterschied, dass hier ein aktiver Eingriff in eine Kausalkette getätigt werden müsste, die dann relativ unmittelbar den Tod einer Person zur Folge hätte. Dieser Umstand ist im klassischen David-Fall nicht gegeben. In diesem Fall würde der Tod einer oder mehrerer Personen nicht auf unmittelbare Weise durch eine ak28tive Handlung herbeigeführt. Stattdessen wäre der Tod der Person oder der Personen die Folge einer Unterlassung, diese zu retten. Der Trolley-Fall provoziert also unter anderem Fragen zur moralischen Abgrenzung von aktiven Handlungen und Unterlassungen, die im David-Fall, bei dem es nur um Tode durch Unterlassungen geht, keine Rolle spielen.

Ein weiterer einschlägiger Fall, in dem ein Menschenleben mehreren anderen gegenübersteht, der vom David-Szenario abgegrenzt werden sollte, ist der notorische Fall des »übergewichtigen Mannes« von Judith Jarvis Thomson.[5]  Der äußerst übergewichtige Mann, um den es geht, könnte von einer Brücke gestürzt werden, um mit seinem Körper einen Zug zu blockieren, der andernfalls mehrere ahnungslose Menschen überrollen würde. Der Gedanke, jemanden von einer Brücke in den Tod zu stoßen, erzeugt selbstverständlich großen intuitiven und moralischen Widerstand – und zwar auch dann noch, wenn durch diese Handlung mehrere andere Personen gerettet werden könnten. Verortet wird das Problem in diesem Fall klassischerweise bei der Instrumentalisierung, die die Tötung des übergewichtigen Mannes darstellen würde. Der Tod des Mannes wäre demnach ein Mittel zur Rettung der anderen. Man müsste ihn zum bloßen Mittel für anderweitige Zwecke machen, um die anderen Personen zu retten. Auch dieser Umstand ist im David-Fall nicht gegeben. Der Tod von David ist kein Mittel zum Zweck der Rettung der anderen. Das Mittel zum Zweck der Rettung der anderen ist vielmehr das Medikament.

Fragen der gerechten Allokation medizinischer Hilfsmaßnahmen bei begrenzten Ressourcen sind strukturell gesehen...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften
Wirtschaft
Schlagworte Bioethik • Medizinethik • Organspende • STW 2345 • STW2345 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2345 • Triage
ISBN-10 3-518-76842-5 / 3518768425
ISBN-13 978-3-518-76842-6 / 9783518768426
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