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Betrachtungen zur Schwulenfrage (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
600 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76314-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Betrachtungen zur Schwulenfrage - Didier Eribon
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Als Didier Eribons Betrachtungen zur Schwulenfrage 1999 in Frankreich erschienen, wurde das als Ereignis gefeiert. Schnell etabliert sich das Buch als Klassiker und Gründungsdokument der Queer Studies. Eribon legt darin eine neue Analyse der Bildung von Minderheitenidentitäten vor, an deren Anfang die Beleidigung steht. Es geht um die Macht der Sprache und der Stigmatisierung, um die Gewalt verletzender Worte im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft und der Mechanismen ihrer Reproduktion. Nun liegt das Werk erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Eribons Analyse setzt ein mit einer fulminanten »Sozialanthropologie« der gelebten Erfahrung, in der zentrale Etappen der Konstitution einer homosexuellen Identität nachgezeichnet werden. Auf sie folgt eine historische Rekonstruktion der literarischen und intellektuellen Dissidenz sowie der »homosexuellen« Rede - von den Oxforder Hellenisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts über Oscar Wilde und Marcel Proust bis zu André Gide im 20. Jahrhundert. Die Untersuchung mündet in einer Neuinterpretation von Michel Foucaults philosophischem Denken über Sexualität, Macht und Widerstand. In der brillanten Verknüpfung von Soziologie, Literatur und Philosophie bietet dieses große Buch mehr denn je Werkzeuge für all jene, die über Differenz und Emanzipation nachdenken wollen.



Didier Eribon, geboren 1953 in Reims, ist ein franz&ouml;sischer Soziologe, Autor und Philosoph. Sein im Original 2009 erschienenes Buch <em>R&uuml;ckkehr nach Reims</em> (st 5313) machte ihn 2016 auch im deutschsprachigen Raum ber&uuml;hmt. Der autofiktionale Essay wurde als literarisches Ereignis und als Schl&uuml;sseltext zum Aufstieg des Rechtspopulismus rezipiert.

Vorwort zur neuen Ausgabe (2012)


Es ist nicht leicht, einem neuen Leserkreis ein Buch vorzustellen, das bereits eine ziemlich lange »Karriere« hinter sich hat. Ich habe 1995 mit seiner Niederschrift begonnen; sie wurde 1999 abgeschlossen und veröffentlicht. Ich erinnere mich noch der Energie – besser gesagt: der Begeisterung –, die mich damals beseelte, als ich tagsüber las, nachts schrieb … Ich empfand mich zutiefst als Mitglied einer internationalen Bewegung zur Erneuerung des Denkens, einer Bewegung, die in politischen Strömungen wurzelte, die sich zum Ziel gesetzt hatten, Fragen aufzuwerfen – oder vielmehr: sie nochmals und in neuen Begriffen zu stellen –, die mit Gender und Sexualität zu tun haben, um gegen die Normen aufzubegehren, die in diesen Bereichen herrschen, und die Gewalt zu bekämpfen, die diese Normativität mit sich bringt.

Ich hoffe, dass die Leidenschaftlichkeit, ja Fieberhaftigkeit, von denen diese Seiten geprägt waren, inzwischen noch nicht ganz erloschen sind, und dass sie sich auch den Lesern von heute mitteilen, als wäre das Werk gerade erst erschienen. Abgesehen von einigen Streichungen und Zusätzen habe ich in dieser Neuausgabe im Übrigen nur überwiegend geringfügige – wenn auch recht zahlreiche – Änderungen vorgenommen, so sehr bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass diese vor etwa fünfzehn Jahren entwickelten »Betrachtungen« in einem stark gewandelten Kontext ihre Relevanz und Triftigkeit im Wesentlichen bewahrt haben.

Wenn ich zusammenfassen sollte, worum es mir damals ging, könnte ich es so formulieren: In diesem ersten einer Reihe von Werken wollte ich versuchen, die Einwirkung sozialer Verdikte – wie sie durch die Normen, die im Gender- und Sexualitätsbereich gelten, von vornherein gefällt werden – auf die Konstitution der Existenzen und Subjektivitäten zu untersuchen und zu beschreiben, vermittels welcher Mechanismen diese Einwirkung sich vollzieht und wieweit dieses Räderwerk blockiert werden könnte. Deswegen schreibe ich dem Phänomen der Beleidigung, der beleidigenden Äußerung, und allgemeiner: der Logik stigmatisierender und herabsetzender Kategorisierungen, eine so große Bedeutung zu. Die Macht der Beleidigung rührt daher, dass sie von der gesamten Gesellschaftsordnung – hier: der gesamten Sexualordnung – gestützt wird und darauf abzielt, in einer hierarchisch aufgebauten Struktur Plätze anzuweisen, und das auch erwirkt. Daher der Gedanke, dass die Verhaltensweisen und Strömungen, die gegen die Macht der Norm anzugehen beabsichtigen, keinesfalls ohne Gegendiskurse und Gegenpraktiken auskommen, die sich niemals völlig außerhalb dessen situieren können, was sie bekämpfen und wogegen sie Widerstand zu leisten versuchen.

Diese Gegendiskurse und Gegenpraktiken entspringen niemals dem Nichts: Sie sind einer Geschichte, sind Büchern und Ideen, Lebensstilen und Existenzweisen, kurz: einer Kultur oder Gegenkultur, eingeschrieben. Daher beziehen sich die Minderheiten, die Dissidenten bei ihrem Versuch, die Gegenwart zu transformieren, die Zukunft ins Auge zu fassen, unweigerlich auf eine mehr oder weniger nahe Vergangenheit, die Modelle und Vorstellungen zur Verfügung stellt, Wörter und Affekte, und die der Fähigkeit zu handeln und dem Willen zur Autonomie Stützpunkte liefert, deren sie zu ihrer Entwicklung bedürfen. Man bekennt sich zu Vorgängern und lässt sich von ihrem Beispiel anleiten. Indem man sich auf diese Weise ermöglicht, seine persönliche Erfahrung in einen Rahmen zu stellen, der sie verständlich macht, indem man also seiner Existenz eine Bedeutung verleiht, die sich in dem verankert, was anderen zu schaffen gelang, bringt man es dazu, seine eigene Existenz zu konstruieren oder zumindest zusammenzubasteln, so gut es eben geht.

Ich weiß wohl, dass Joan Scott in einem berühmten Artikel eben diese »Evidenz der Erfahrung« in Frage gestellt hat, die sehr oft dazu führt, sich in diesem oder jenem Aspekt einer Vergangenheit wiederzuerkennen, deren kulturelle Gesamtkonfigurationen wir nicht kennen. Dieselben Worte, dieselben Gebärden, dieselben kennzeichnenden Merkmale können in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen annehmen und also nur verstanden werden, wenn man sie wieder in ihre historischen »Orte« einschreibt. »Es sind nicht die Individuen, die Erfahrungen haben, sondern Subjekte werden durch Erfahrungen konstituiert.«1

Ein »Subjekt« ist also immer durch die Gesellschaftsordnung produziert, die die Erfahrungen der Individuen in einem gegebenen Augenblick der Geschichte organisiert. Daher läuft die Versuchung, im Tun und Treiben der Vergangenheit sich selbst wiederzufinden, Gefahr, die Realität der komplexen Systeme auszublenden, die die Erfahrungen jener Epoche steuerten. Sie erwecken heute in uns ein Gefühl von Vertrautheit – dabei müssten wir doch allererst die sozialen, ideologischen, sexuellen Mechanismen auf den Prüfstand stellen, die ihnen ihre Bedeutung verliehen und die »Subjekte« produzierten, die sie ausagierten. Ein »Subjekt« wird stets produziert in »Unterordnung« unter eine Ordnung, unter Regeln, Normen, Gesetze … Das gilt für alle »Subjekte«. »Subjekt« sein und einem System von Zwängen unterliegen ist ein und dasselbe.2 Aber dies gilt noch mehr für »Subjekte«, denen in der Sozial- und Sexualordnung ein »untergeordneter« Platz zugewiesen ist, namentlich für Schwule und Lesben.3 Bei der Lektüre von Proust beispielsweise hätten wir uns zu fragen: Was lehrt uns diese Beschreibung der Homosexualität über die Gesellschaft jener Zeit, über die Art und Weise, in der die Kategorien »Gender« und »Sexualität« geformt wurden, über die Beziehungen zwischen Personen desselben Geschlechts, darüber, wie sie je nach sozialem Milieu wahrgenommen und erfahren wurden, usw.? Und was über die Verflechtung jedes dieser Aspekte mit umfassenderen Realitäten? Kurz, wir hätten uns die wesentliche Frage zu stellen: Wenn wir uns spontan mit diesen Kategorien identifizieren, ratifizieren wir dann nicht ihre »Evidenz«, fixieren und verdinglichen wir sie nicht, statt sie der Kritik zu unterziehen? Naturalisieren wir sie nicht, statt sie zu historisieren?

Ließe sich aber bei der Untersuchung der Prozesse der Produktion von »Subjekten«, das heißt ihrer »Unterwerfung«, nicht doch von jenem Gefühl einer Evidenz ausgehen, das zu beweisen tendiert, dass die Systeme der Sexualordnung trotz all der über ein Jahrhundert hinweg eingetretenen historischen Transformationen eine gewisse Kontinuität bewahrt haben? In Die männliche Herrschaft stellt Pierre Bourdieu sich in Bezug auf Frauen die Frage: Wie kommt es, dass Herrschaftsstrukturen ganze Epochen fast unbeschädigt überdauerten trotz aller Veränderungen, die die Beziehungen zwischen den Geschlechtern umgewälzt haben?4 Lässt sich diese Frage nicht auch analog zur Homosexualität stellen? Gewiss, seit Prousts Zeiten hat sich die Situation beträchtlich geändert, sofern sich überhaupt für irgendeine Epoche von einer Situation im Singular sprechen lässt. In großartigen Arbeiten sind die unterschiedlichen Existenzweisen von »Homosexualität« zu diesem oder jenem Zeitpunkt des 19. und des 20. Jahrhunderts untersucht worden, und es wurde gezeigt, was jede von ihnen einzigartig, unvergleichlich macht. Aus all diesen Beiträgen zur Erkenntnis der Vergangenheit geht hervor, dass der Begriff »Homosexualität« jünger ist, als man glaubt, und dass er selbst für die jüngst vergangenen Perioden zu umfassend, zu massiv, zu normativ ist, als dass er den vielfältigen, heterogenen Erfahrungen gerecht werden könnte … Die Gestalten, die »Homosexualität« annimmt, sind den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten stets spezifisch; die Identitäten sind pluralisch, instabil, lassen sich von einfachen, eindeutigen Definitionen nicht einfangen. All das ist unbestreitbar. Und es liegt mir selbstverständlich fern, den Wert und die Bedeutung dieser historischen, soziologischen oder theoretischen Forschungen in Abrede zu stellen. Nichtsdestotrotz: Diejenigen, die das eigene Geschlecht lieben oder allgemeiner: die den Gender- und Sexualitätsnormen zuwiderhandeln, unterliegen einer besonderen Form sozialer Gewalt, und die Wahrnehmungsschemata und mentalen Strukturen, die dieser sicherlich weitgehend auf die androzentrische Sicht der Welt zurückzuführenden Gewalt zugrunde liegen, sind jedenfalls in der westlichen Welt überall fast dieselben,...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2019
Übersetzer Achim Russer, Bernd Schwibs
Sprache deutsch
Original-Titel Réflexions sur la question gay
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Wirtschaft
Schlagworte gay • Homosexualität • Réflexions sur la question gay deutsch • Reims
ISBN-10 3-518-76314-8 / 3518763148
ISBN-13 978-3-518-76314-8 / 9783518763148
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