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Ansichten der Natur. Mit einem Essay von Heinrich Detering (eBook)

Humboldt, Alexander von - Pionierwerk der Wissenschaft - 14225
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
223 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962265-1 (ISBN)

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Ansichten der Natur. Mit einem Essay von Heinrich Detering -  Alexander Von Humboldt
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Alexander von Humboldts Ansichten der Natur, sie entstanden im Lauf eines halben Jahrhunderts, sind ein Pionierwerk der Wissenschaft wie der Literatur. Bewundert von Goethe und Darwin, entwickelt Humboldt vor unseren Augen sein Nature Writing: In poetischen und gelehrten, präzisen und packenden Darstellungen führt er uns kreuz und quer über den Planeten und durch die Erdzeitalter in eine ökologische Auffassung der Welt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Heinrich Detering, geb. 1959, lehrte deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen, hat literaturwissenschaftliche Bücher und Aufsätze sowie Gedichtbände und Essays veröffentlicht, nahm Gastprofessuren und Poetikdozenturen in aller Welt wahr und erhielt zahlreiche Auszeichnungen.

Heinrich Detering, geb. 1959, lehrte deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen, hat literaturwissenschaftliche Bücher und Aufsätze sowie Gedichtbände und Essays veröffentlicht, nahm Gastprofessuren und Poetikdozenturen in aller Welt wahr und erhielt zahlreiche Auszeichnungen.

[42]Über die Wasserfälle des Orinoco bei Atures und Maypures


In dem vorigen Abschnitte, welchen ich zum Gegenstand einer akademischen Vorlesung gemacht, habe ich die unermesslichen Ebenen geschildert, deren Naturcharakter durch klimatische Verhältnisse mannigfaltig modifiziert wird und die bald als pflanzenleere Räume (Wüsten), bald als Steppen oder weitgedehnte Grasfluren erscheinen. Mit den Llanos, im südlichen Teile des Neuen Kontinents, kontrastieren die furchtbaren Sandmeere, welche das Innere von Afrika einschließt, mit diesen die Steppen von Mittel-Asien, der Wohnsitz weltbestürmender Hirtenvölker, die einst, von Osten her gedrängt, Barbarei und Verwüstung über die Erde verbreitet haben.

Wenn ich damals (1806) es wagte, große Massen in ein Naturgemälde zu vereinigen, und eine öffentliche Versammlung mit Gegenständen zu unterhalten, deren Kolorit der trüben Stimmung unseres Gemüts entsprach, so werde ich jetzt, auf einen engeren Kreis von Erscheinungen eingeschränkt, das freundlichere Bild eines üppigen Pflanzenwuchses und schäumender Flusstäler entwerfen. Ich beschreibe zwei Naturszenen aus den Wildnissen der Guyana: Atures und Maypures,109 die weitberufenen,110 aber vor mir von wenigen Europäern besuchten Wasserfälle des Orinoco.

[43]Der Eindruck, welchen der Anblick der Natur in uns zurücklässt, wird minder durch die Eigentümlichkeit der Gegend als durch die Beleuchtung bestimmt, unter der Berg und Flur, bald bei ätherischer111 Himmelsbläue, bald im Schatten tiefschwebenden Gewölkes, erscheinen. Auf gleiche Weise wirken Naturschilderungen stärker oder schwächer auf uns ein, je nachdem sie mit den Bedürfnissen unserer Empfindung mehr oder minder in Einklang stehen. Denn in dem innersten, empfänglichen Sinne spiegelt lebendig und wahr sich die physische Welt. Was den Charakter einer Landschaft bezeichnet: Umriss der Gebirge, die in duftiger Ferne den Horizont begrenzen, das Dunkel der Tannenwälder, der Waldstrom, welcher tobend zwischen überhangende Klippen hinstürzt: alles steht in altem, geheimnisvollem Verkehr mit dem gemütlichen112 Leben des Menschen.

Auf diesem Verkehr beruht der edlere Teil des Genusses, den die Natur gewährt. Nirgends durchdringt sie uns mehr mit dem Gefühl ihrer Größe, nirgends spricht sie uns mächtiger an als in der Tropenwelt: unter dem »indischen Himmel«, wie man im frühen Mittelalter das Klima der heißen Zone benannte. Wenn ich es daher wage, diese Versammlung113 aufs Neue mit einer Schilderung jener Gegenden zu unterhalten, so darf ich hoffen, dass der eigentümliche Reiz derselben nicht ungefühlt bleiben wird. Die Erinnerung an ein fernes, reichbegabtes Land, der Anblick eines freien, [44]kraftvollen Pflanzenwuchses erfrischt und stärkt das Gemüt, wie, von der Gegenwart bedrängt,114 der emporstrebende Geist sich gern des Jugendalters der Menschheit und ihrer einfachen Größe erfreut.

Westliche Strömung und tropische Winde begünstigen die Fahrt durch den friedlichen Meeresarm, der das weite Tal zwischen dem Neuen Kontinent und dem westlichen Afrika erfüllt.115 Ehe noch die Küste aus der hochgewölbten Fläche hervortritt, bemerkt man ein Aufbrausen sich gegenseitig durchschneidender und überschäumender Wellen. Schiffer, welche der Gegend unkundig sind, würden die Nähe von Untiefen oder ein wunderbares Ausbrechen süßer Quellen wie mitten im Ozean zwischen den antillischen Inseln vermuten.

Der Granitküste der Guyana näher, erscheint die weite Mündung eines mächtigen Stromes, welcher wie ein uferloser See hervorbricht und rund umher den Ozean mit süßem Wasser überdeckt. Die grünen, aber auf den Untiefen milchweißen Wellen des Flusses kontrastieren mit der indigoblauen Farbe des Meeres, die jene Flusswellen in scharfen Umrissen begrenzt.

Der Name Orinoco, welchen die ersten Entdecker dem Flusse gegeben und der wahrscheinlich einer Sprachverwirrung116 seinen Ursprung verdankt, ist tief im Innern des Landes unbekannt. Im Zustande tierischer Rohheit [45]bezeichnen die Völker nur solche Gegenstände mit eigenen geographischen Namen, welche mit andern verwechselt werden können. Der Orinoco, der Amazonen- und Magdalenen-Strom werden schlechthin der Fluss, allenfalls der große Fluss, das große Wasser genannt: während die Uferbewohner die kleinsten Bäche durch besondere Namen unterscheiden.

Die Strömung, welche der Orinoco zwischen dem südamerikanischen Kontinent und der asphaltreichen Insel Trinidad erregt, ist so mächtig, dass Schiffe, die bei frischem Westwinde mit ausgespannten Segeln dagegen anstreben, sie kaum zu überwinden vermögen. Diese öde und gefürchtete Gegend wird die Trauerbucht (Golfo triste) genannt. Den Eingang bildet der Drachenschlund (boca del Drago). Hier erheben sich einzelne Klippen turmähnlich zwischen der tobenden Flut. Sie bezeichnen gleichsam den alten Felsdamm, welcher, von der Strömung durchbrochen, die Insel Trinidad mit der Küste Paria117 vereinigte.

Der Anblick dieser Gegend überzeugte zuerst den kühnen Weltentdecker Colón118 von der Existenz eines amerikanischen Kontinents. »Eine so ungeheure Masse süßen Wassers (schloss der naturkundige Mann) könnte sich nur bei großer Länge des Stromes sammeln. Das Land, welches diese Wasser liefere, müsse ein Kontinent und keine Insel sein.«119 Wie die Gefährten Alexanders, über den [46]schneebedeckten Paropanisus120 vordringend, nach Arrian121 in dem krokodilreichen Indus einen Teil des Nils zu erkennen glaubten, so wähnte Colón, der physiognomischen Ähnlichkeit aller Erzeugnisse des Palmen-Klimas unkundig, dass jener Neue Kontinent die östliche Küste des weit vorgestreckten Asiens sei. Milde Kühle der Abendluft, ätherische Reinheit des gestirnten Firmaments, Balsamduft der Blüten, welchen der Landwind zuführte: alles ließ ihn ahnden (so erzählt Herrera in den Decaden),122 dass er sich hier dem Garten von Eden, dem heiligen Wohnsitz des ersten Menschengeschlechts, genähert habe. Der Orinoco schien ihm einer von den vier Strömen, welche nach der ehrwürdigen Sage der Vorwelt von dem Paradiese herabkommen, um die mit Pflanzen neugeschmückte Erde zu wässern und zu teilen. Diese poetische Stelle aus Colóns Reisebericht, oder vielmehr aus einem Briefe an Ferdinand und Isabella123 aus Haiti (Oktober 1498), hat ein eigentümliches psychisches Interesse. Sie lehrt aufs Neue, dass die schaffende Phantasie des Dichters sich im Weltentdecker, wie in jeglicher Größe menschlicher Charaktere, ausspricht.

[47]Wenn man die Wassermenge betrachtet, die der Orinoco dem atlantischen Ozean zuführt, so entsteht die Frage: welcher der südamerikanischen Flüsse, ob der Orinoco, der Amazonen- oder La-Plata-Strom, der größte sei? Die Frage ist unbestimmt wie der Begriff von Größe selbst. Die weiteste Mündung hat der Rio de la Plata, dessen Breite 23 geogr. Meilen beträgt. Aber dieser Fluss ist, wie die englischen Flüsse, verhältnismäßig von einer geringeren Länge. Seine unbeträchtliche Tiefe wird schon bei der Stadt Buenos Aires der Schifffahrt hinderlich. Der Amazonenstrom ist der längste aller Flüsse. Von seinem Ursprung im See Lauricocha124 bis zu seinem Ausfluss beträgt sein Lauf 720 geogr. Meilen. Dagegen ist seine Breite in der Provinz Jaen de Bracamoros bei der Katarakte125 von Rentama, wo ich ihn unterhalb des pittoresken Gebirges Patachuma maß, kaum gleich der Breite unsers Rheines bei Mainz.

Wie der Orinoco bei seiner Mündung schmäler ist als der La-Plata- und Amazonen-Strom, so beträgt auch seine Länge, nach meinen astronomischen Beobachtungen, nur 280 geogr. Meilen. Dagegen fand ich tief im Innern der Guyana, 140 Meilen von der Mündung entfernt, bei hohem Wasserstande den Fluss noch über 16 200 Fuß breit. Sein periodisches Anschwellen erhebt dort den Wasserspiegel jährlich 28 bis 34 Fuß hoch über den Punkt des niedrigsten Standes. Zu einer genauen Vergleichung der ungeheuren Ströme, welche den südamerikanischen Kontinent durchschneiden, fehlt es bisher an hinlänglichen Materialien. Um dieselbe anzustellen, müsste man das Profil des Strombettes [48]und seine in jedem Teile so verschiedene Geschwindigkeit kennen.

Zeigt der Orinoco in dem Delta, welches seine vielfach geteilten, noch unerforschten Arme einschließen, in der Regelmäßigkeit seines Anschwellens und Sinkens, in der Menge und Größe seiner Krokodile mannigfaltige Ähnlichkeit mit dem Nilstrome, so sind beide auch darin einander analog, dass sie lange als brausende Waldströme zwischen Granit- und Syenit-Gebirgen sich durchwinden, bis sie, von baumlosen Ufern begrenzt, langsam, fast auf söhliger126 Fläche, hinfließen. Von dem berufenen Bergsee bei Gondar der abessinischen Gojam-Alpen,127 bis Syene und Elephantine hin, dringt ein Arm des Nils (der grüne, Bahr el-Azrek) durch die Gebirge von Schangalla und Sennaar.128 Ebenso entspringt der Orinoco an dem südlichen Abfalle der Bergkette, welche sich unter dem 4. und 5. Grade nördlicher Breite, von der französischen Guyana aus, westlich gegen die Andes von Neu-Granada129 vorstreckt. Die Quellen des Orinoco sind von keinem Europäer, ja von keinem Eingebornen, der mit den Europäern in Verkehr getreten ist, besucht worden.

Als wir im Sommer...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2024
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek
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Mitarbeit Kommentare: Heinrich Detering
Vorwort Heinrich Detering
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Naturwissenschaften
Technik
Schlagworte 19. Jahrhundert • Alexander von Humboldt • Aufgabe des Geschichtsschreibers • Aufklärung • Belletristik • Botanik • Dokument • Einführung • Entstehung Welt • Entwicklung Welt • Erdzeitalter • Erläuterungen • Essays • Evolution • Formationsphase der Geisteswissenschaften • Geisteswissenschaft • gelb • gelbe bücher • Geschichte der Pflanzen • Geschichtsbild • Geschichtsdenken • Geschichtsphilosophie • Geschichtstheorie • Geschichtswissenschaft • Grundlagen • Hermeneutik • Historische Sinnbildung • Historismus • Humanismus • Humboldt • Idealismus • Klassenlektüre • Klassische Belletristik • Klimatologie • Kolonialherrschaft • Lektüre • Literatur • Literatur Klassiker • Natur • Nature writing • Naturphilosophie • Ökologie • Originaltext • orschungsreisen • Pionierwerk • Planeten • Prosa • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Sattelzeit • Schriften zur Geschichtstheorie • Schullektüre • Studenten • Studentinnen • Studierende • Text • Textausgabe • Texte • universalbibliothek • Universität • Vorlesungen • Wissen • Wissenschaft • Wissenschaftliche Abhandlung
ISBN-10 3-15-962265-7 / 3159622657
ISBN-13 978-3-15-962265-1 / 9783159622651
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