Kleinformate im Umbruch (eBook)
257 Seiten
Walter de Gruyter GmbH & Co.KG (Verlag)
978-3-11-100357-3 (ISBN)
Gerade in Krisenmomenten treten kleine Formen und Formate in stabilisierender oder mobilisierender Funktion auf. In der Zwischenkriegszeit erscheinen sie innerhalb verschiedener medialer Konstellationen - wie etwa in Zeitungen, Flugschriften oder Lehrmaterialien - und eröffnen politische sowie ästhetische Gestaltungsmöglichkeiten, die der Band in fokussierten Materialanalysen und Fallstudien praxeologisch sowie interdisziplinär untersucht.
I Mobilisieren
„Die Arbeiterkorrespondenz schlug wie eine Bombe ein“. Alltagskrisen und Intervention im Kleinformat
1 Unrecht im Kleinformat
Wenn der Kommerzienrat X bei einer Autofahrt eine Hautabschürfung davonträgt, dann bringt die Presse eine lange Schmonze mit ausführlichen Details und Mitteilungen über das Befinden des Herrn X. Eine Spalte weiter kann man dann in demselben Teil der Zeitung lesen, daß beim Ausschachten vier Arbeiter verschüttet wurden, daß einer Arbeiterin in der Maschine zwischen den Walzen der Arm zerquetscht wurde und daß ein Bauhandwerker vom Gerüst stürzte. Diese Meldungen übermittelt in vielen Orten die Polizei der Presse. Dann heißt es kurz: „Die täglichen Betriebsunfälle“. Aehnlich wie im Kriege der Grenadier Y zu einer Zeile in der Verlustliste zusammengeschossen wurde, so nimmt die bürgerliche Öffentlichkeit vom tödlichen Unfall eines Proletariers durch eine zweizeilige Polizeinotiz Kenntnis.1
Mit dieser Kritik weist der kommunistische Redakteur und Landtagsabgeordnete Paul Böttcher im Jahr 1927 der bürgerlichen Presse der Weimarer Republik einen Klassenstandpunkt zu, der sich weniger in inhaltlichen Positionierungen ausdrückt als in einer Disparatheit der Formatierungen: ‚Lange Schmonzen‘ über triviale Geschicke und Befindlichkeiten der unternehmerischen Lokalprominenz stehen in Kontrast zu Ein- oder Zweizeilern über schwere Todes- und Unglücksfälle von Arbeiter:innen. Die Relation der Formate zueinander bildet ein Missverhältnis ab, in dem die Zuteilung von Groß- und Kleinformaten sinnbildlich für soziale Verhältnisse wird: Im Kleinformat wird im Sinne Foucaults das ‚Schicksal der Infamen‘ – der des Gedenkens nicht Würdigen – vermerkt, das nicht von den Journalist:innen der Zeitungen recherchiert, sondern den Polizeimeldungen entnommen wurde, sodass sie Spuren nur in der „Begegnung mit der Macht“ hinterlassen.2 Über die soziale Zuweisung von Groß- und Kleinformaten hinaus besteht das Missverhältnis nach Böttchers Kritik aber auch im Verhältnis von Format und Inhalt; in allzu knapper Form wird hier von schwersten, teils tödlichen Unfällen berichtet. Wenn die Arbeiter:innen gleich dem Grenadier „zu einer Zeile zusammengeschossen“ werden, wird die Formatierung zum Gewaltakt. Die Geringschätzung und Missachtung von Sicherheit und Leben der Arbeiter:innen im Betrieb wiederholt sich gewissermaßen durch die Wahl eines Kleinformats, in dem menschliche Erfahrungen und Mitgefühl sowie die Ergründung von Ursachen und die Formulierung von Kritik keinen Raum haben.
Indem Böttcher zudem die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs aufruft, rückt er den industriellen Arbeitsalltag der Weimarer Republik in den Diskurs einer massiven Krise ein. Dieser Krisenhaftigkeit verdankt der Arbeitsalltag seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert seine politische Relevanz und sie wird in der Weimarer Republik zum zentralen Thema für die „Gegen-Berichterstattung“3 in der kommunistischen Presse, um die es im Folgenden gehen wird. Denn das Eingangszitat findet sich in Böttchers Schrift Der Arbeiter-Korrespondent. Winke und Aufgaben für Berichterstatter der proletarischen Presse und stellt das Negativ für ein Pressekonzept dar, in dem schreibende Arbeiter:innen, Angestellte und Arbeitslose ihre Zeitungen selbst in großer Zahl mit Berichten über Vorkommnisse aus ihrem Alltag versorgen. Im Gestus der Enthüllung, der Anklage oder Intervention wurden auf diese Art Missstände angeprangert und zur politischen Opposition animiert. Dabei kommt das Kleinformat auch hier als vermeintlich gewaltvolles Mittel zum Einsatz, schlagen die Korrespondenzen in der Selbstbeschreibung doch ‚wie Bomben‘4 in den kritisierten Betrieben ein.
Im Zeitraum von 1924 bis 1933 erschienen diese Arbeiterkorrespondenzen täglich und in zunehmender Anzahl in verschiedenen kommunistischen Tageszeitungen, insbesondere in der Roten Fahne; sie stellen ein umfangreiches, vielseitiges und bislang wenig untersuchtes Korpus dar. Die existierende Literatur nimmt in erster Linie kulturpolitische Einordnungen der Bewegung innerhalb der Pressepolitik der KPD vor, gibt einen Überblick über die Entstehung, Organisation und Entwicklung im Laufe der Weimarer Republik5 oder betrachtet die Arbeiterkorrespondenzbewegung als Ausgangspunkt für das literarische Schaffen späterer Romanautoren, wie Hans Marchwitza, Ludwig Turek oder Willi Bredel.6 Während zur Bewegung selbst somit einige (ältere) Arbeiten vorliegen, sind die Arbeiterkorrespondenzen als Texte bisher kaum Gegenstand der Untersuchungen geworden.7 Stärker als der partei- und pressestrukturelle Kontext sollen daher im Folgenden die Korrespondenzen selbst im Zentrum stehen, die im Betriebsteil der Roten Fahne erschienen sind und regelmäßig auch über Reaktionen auf vormals erschienene Artikel berichten. Diese Schilderungen von tatsächlichen, angestrebten oder auch nur behaupteten Wirkungen des eigenen Schreibens lassen sich als Vorstellung im Sinne der Präsentation oder Imagination eines Möglichkeitsraums für Interventionen verstehen. Die Korrespondenzen zeigen so Handlungsspielräume in einem Arbeitsalltag auf, der sonst zu großen Teilen fremdbestimmt war. Dies tun sie insbesondere mit den Mitteln und Möglichkeiten des Kleinformats, mit dem sie zugleich die Krisen im Alltag enthüllen und mittels Intervention hervorbringen wollen.
2 Die Arbeiterkorrespondenzen der Roten Fahne
Die Arbeiterkorrespondenzbewegung war in der Sowjetunion bereits seit einigen Jahren etabliert,8 als am 28. Dezember 1924 die ‚Gründung‘ der deutschen Arbeiterkorrespondenzbewegung stattfand. An diesem Tag trafen sich 68 nebenberufliche Mitarbeiter:innen der Roten Fahne zur ersten Konferenz der Arbeiterkorrespondent:innen und verabschiedeten eine Resolution über ihre künftigen Aufgaben, die am 30. Dezember 1924 in der Roten Fahne veröffentlicht wurde.9 Als Voraussetzung für die Etablierung der Arbeiterkorrespondenzbewegung gilt die Umstrukturierung der KPD im selben Jahr, die auf den Rückgang ihrer Mitgliedszahlen und einen Funktionärsmangel unter anderem mit der Verstärkung der Agitprop reagierte und dazu den Umbau ihres Pressewesens und den Anstoß der Arbeiterkorrespondenzbewegung vornahm.10 Neben zahlreichen Wochenzeitungen, Illustrierten, Betriebs- und Branchenzeitungen verfügte die KPD während der Weimarer Republik über 28 bis 37 Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage von 500.000 Exemplaren, welche nun in weiten Teilen zentralisiert, jedoch durch die Arbeiterkorrespondenzen auch stärker regional verankert wurden.11
In den ersten Jahren erhielt die Arbeiterkorrespondenzbewegung nur langsamen, aber stetigen Zulauf,12 bis sie in den Jahren 1928 und 1929 sprunghaft anwuchs. So ist für 1928 die Rede von 267 Korrespondent:innen aus 170 verschiedenen Betrieben und etwa 1.000 in der Roten Fahne veröffentlichten Berichten, 1929 seien etwa 2.700 Korrespondenzen erschienen und 1.200 Verfasser:innen aus 336 Betrieben verzeichnet worden.13 In der zweiten Hälfte der Weimarer Republik erschienen Berichte von Arbeiterkorrespondent:innen in verschiedenen kommunistischen Regionalzeitungen, etwa in Hamburg, Chemnitz, Leipzig, Solingen, Essen und Düsseldorf,14 sodass es eine umfangreiche Mitwirkung von vorwiegend kommunistischen Arbeiter:innen15 an ihrer Presse gab.
Mit Abstand am häufigsten sind die Korrespondenzen in der Roten Fahne erschienen, die zugleich Parteizeitung der KPD sowie Regionalzeitung für den Großraum Berlin war. Sie erschien mit einigen Unterbrechungen von 1918/19 bis 1933 täglich und erreichte Auflagen von etwa 70.000 Exemplaren.16 Als Partei- und Regionalzeitung sollte Die Rote Fahne eine Vielzahl von Funktionen erfüllen und verschiedenste Adressat:innen ansprechen: Einerseits galt es, innerparteiliche Veröffentlichungen und Mitteilungen an Parteimitglieder und Funktionäre zu publizieren, andererseits sollte Die Rote Fahne als regionale Tageszeitung mit lokalspezifischer Berichterstattung, Inseraten, Veranstaltungskalendern und themen- beziehungsweise adressatenspezifischen Beilagen ein sehr heterogenes Publikum aus Sympathisant:innen, Indifferenten, Frauen, Jugendlichen, Sportler:innen usw. ansprechen und für die Partei gewinnen.17 Christa Hempel-Küter formuliert:
[N]och mehr als für eine ‚Parteipresse‘ mußte für eine ‚Volkspresse‘ Allgemeinverständlichkeit gefordert werden. […] Als erstes sollten die Tageszeitungen deshalb von allen theoretischen Erörterungen und parteiinternen Kontroversen entlastet werden – nicht nur, damit die Zeitungen so von einem breiteren Publikum gelesen und versanden werden konnten, sondern vor allem auch deshalb, damit Raum für Artikel aus dem...
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2023 |
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Reihe/Serie | ISSN |
ISSN | |
Minima | Minima |
Zusatzinfo | 20 b/w and 10 col. ill., 5 b/w tbl. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Kleinformate und -formen • Krise und Kritik • Praxeologie • Zwischenkriegszeit |
ISBN-10 | 3-11-100357-4 / 3111003574 |
ISBN-13 | 978-3-11-100357-3 / 9783111003573 |
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