Die relative Kunst der Unfuge (eBook)
Buchschmiede von Dataform Media GmbH (Verlag)
978-3-99139-509-6 (ISBN)
Peter Brandlmayr wurde 1970 in Bad Ischl geboren. Er absolvierte ein Geologiestudium an der Universität Innsbruck, danach das Kolleg für Fotografie an der Höheren Grafischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt in Wien. 1998 gründete er das Institut für Wissenschaft und Forschung (IWF), ein Experiment zwischen Kunst und Wissenschaft, Realität und Fiktion. 2005 Promotion Brandlmayr an der Universität Innsbruck zum Dr. phil.; 2013 gründete er das Pegasus-Institut für Pataphysik (PIP) sowie im Jahr 2019 das Institut für Müßiggang und Kontemplation (IMK). Er führte zahlreiche Ausstellungen, Installationen, Vorträge und Performances duch.
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(Natur)Wissenschaft und Ästhetik
(Natur)Wissenschaft und Ästhetik
Wie wir gesehen haben zeichnen sich historisch zwei grundsätzliche Zugänge zur Ästhetik ab, ein weiter gefasster allgemeinsinnlicher und ein enger gefasster, im Sinne einer Theorie des Schönen beziehungsweise einer Theorie der Kunst. Nun wollen wir Nachschau halten, ob eine exklusive Sichtweise des Ästhetischen im hantologischen Sinne tatsächlich angebracht sein kann. Hierbei möchten wir insbesondere einen Blick auf das Verhältnis von Naturwissenschaft und Ästhetik werfen, denn Wissenschaft und dabei insbesondere Naturwissenschaft wird heute allgemein jenseits ästhetischer Entscheidungen vorgestellt. Aber ist denn dies tatsächlich der Fall? Sind in der Wissenschaft wirklich allein Vernunft und Verstand am Werk?
Wenn überhaupt, so heißt es traditionell, wird Ästhetisches als unwichtiges Nebenprodukt von Wissenschaft bezeichnet. Dementsprechend lesen wir beim Evolutionsbiologen H. Walter Lack: „Botanische Illustrationen haben sehr wenig mit Kunst zu tun, sie zählen zum Gebiet der Naturwissenschaften, ästhetische Überlegungen sind gänzlich unangebracht, und Schönheit ist ein angenehmer, jedoch völlig irrelevanter Nebeneffekt.“99
Hinter dieser Skepsis der Schönheit und dem Ästhetischen im Generellen gegenüber verbergen sich eine Reihe von Problemen, die Wissenschaft mit der aisthesis, mit der Wahrnehmung und den Sinnen an sich hat. So spendete Galileo Galilei Kopernikus bekanntlich großes Lob, weil er dafür gesorgt habe, dass „die Vernunft die Oberhand über die Sinne gewinnt, gegen deren Augenschein er die Vernunft zur Königin seiner Überzeugungen machte.“100
Diese Feststellung ist ein erster Ausdruck davon, was sich später in der allgemeinen Tendenz, die menschliche Wahrnehmung aus dem Forschungsprozess herauszunehmen, niedergeschlagen hat.101 Apparate und Instrumente sollen die Wahrnehmung der Dinge übernehmen, um dem Urteil der Sinne nicht ausgeliefert zu sein. Denn die Sinne sind nicht nur unvollkommen, indem sie nur einen kleinen Ausschnitt der Weltwirklichkeit wahrnehmen können, sondern sie täuschen auch, indem schon in der Anlage der Sinne mit normativ ästhetischen Urteilen operiert wird. So werden rein physiologisch schon Symmetrien bevorzugt, werden Elemente weggelassen, andere verstärkt oder neue Elemente hinzugefügt, um leichter Ordnungen und Kategorien zur Orientierung erstellen zu können. Wahrnehmung ist eben nicht wertfrei, erkennt Symmetrisches schneller und bevorzugt, koppelt dieses mit Wohlgefallen und operiert mit Hilfe von prä-existenten Kategorien und Ordnungssystemen der Erfahrung und versucht diese zu bestätigen. Nachdem in der Wissenschaft hingegen allgemeingültige Aussagen jenseits des Vor-Urteils gesucht sind, ist die sinnliche Wahrnehmung innerhalb der Wissenschaft im Verlauf der letzten Jahrhunderte immer mehr zum Synonym für Subjektivität geworden, wogegen die apparative Messung, die ja vorerst vom Menschen unabhängig scheint, wirklich objektive Ergebnisse liefern soll, also Ergebnisse jenseits der höchst selektiven und somit verzerrenden Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen. Wissenschaft soll dementsprechend idealerweise mit Ästhetik nichts zu tun haben. Ästhetik ist mit dem uns heute geläufigen wissenschaftlichen Ethos kaum vereinbar, denn der Wissenschaftler soll neutral, sachlich, unabhängig sein, jenseits des eigenen Wohlbefindens, von Emotionen und persönlichen Macht- und Ruhmgelüsten. Frei von jeglichen Eitelkeiten soll damit auch der Stil von wissenschaftlichen Produkten sein, jenseits von Moden und Trends. Wissenschaft soll nicht nur im Wahrnehmen, sondern auch im Darstellen jenseits von ästhetischen Kategorien und Urteilen stehen.
Ergebnisse sollen in Publikationen allein durch ihren Inhalt überzeugen, unabhängig von der Form. Wissenschaft soll die Dinge zeigen, ganz so wie sie sind. Die Dinge sollen hier für sich selbst sprechen, sollen sich selbst abbilden.102
Dennoch, im Rückblick auf die Wissenschaftsgeschichte wird deutlich, dass sich das Erscheinungsbild der wissenschaftlichen Produkte – also Instrumente, Schreibweisen, Abbildungen und vieles mehr – mit der Zeit verändert hat. Unter diesem Einwand ist man vielleicht dann doch auch bereit, älteren Publikationen beispielsweise so etwas wie Stil zuzuschreiben. Rezente Produkte der Wissenschaft wird man dabei zumeist jedoch ausnehmen. Denn im Sinne des Fortschritts und der Verbesserung der wissenschaftlichen Vorgehensweise wird die Geschichte der Wissenschaft immer wieder als eine Unternehmung präsentiert, in der ein Weg zur zunehmenden Objektivierung beschritten wurde. Kann man denn einem Graphen oder einer elektronenmikroskopischen Fotografie heute wirklich noch einen Stil attestieren?
Im ersten Moment werden wir wahrscheinlich geneigt sein, auf diese Frage mit nein zu antworten. Doch man vergisst dabei, dass auch die, diesen Produkten zugrundeliegenden, Instrumente und die Vorstellungen von der, den Messungen zugrundeliegenden, Natur nicht ohne das Zutun des Menschen auftreten.103
Jedem Erzeugnis, auch dem einer Weltvorstellung, einer Theorie, eines Instruments oder einer spezifischen Darstellungsweise, liegt die Wahl eines bestimmten Designs zugrunde. 104 Insofern hat auch ein Graf einen Stil – eine spezifische Art und Weise etwas darzustellen – eine Maniera.105 Und diese Maniera trägt die Handschrift des Forschers beziehungsweise einer spezifischen Forschungskultur und ist damit geprägt von einer spezifischen Vorstellung davon, was Forschung ist, wie sie vorgehen kann/soll, welche spezifischen Vorannahmen bezüglich des Untersuchungsobjekts zu treffen sind, was ein Forschungsinstrument ist, wie ein solches aussehen soll und vielem mehr. Wir werden der Natur (beziehungsweise dem Untersuchungsobjekt) je nach der spezifischen Ausprägung dieser Vorannahmen in anderer Weise begegnen und wir werden sie, die Natur, in anderer Art und Weise in Abbildungen, in Texten, in Instrumenten oder Theorien darstellen. Forscher designen Instrumente, Theorien, Methoden etc..
Aussehen und Struktur letzterer hängen maßgeblich von den Vorstellungen von der Welt und der Position ab, die dem Menschen darin zukommt.106
Diese Vorstellungen prägen die Ästhetik der Wissenschaften, also die Art und Weise, wie in ihrem Rahmen wahrgenommen, festgestellt, beschrieben, systematisiert, dargestellt und eingefangen wird.
Die Fabrikation von Erkenntnis 107
“In order to see one has first to know what is essential and what is inessential; one must be able to distinguish the background from the image; one must know to what category does the object belong. Otherwise we look but do not see.”108
Unsere Wahrnehmung ist stets von Vorstellungen und Erfahrungen geleitet. Diese werden permanent überprüft, werden dabei aktualisiert, bestätigt, verändert und erhalten.109 So war Robert Koch, der Entdecker des Tuberkelbazillus, schon vor seiner Entdeckung davon überzeugt, dass Krankheiten durch krankheitserregende Bakterien ausgelöst werden.110 Für ihn ging es nur darum, Gewebeproben so zu behandeln, dass die Krankheitserreger sichtbar gemacht werden konnten. 111 Im Grunde versuchte er das (scheinbar) noch Unbekannte, von dem er aber eine Vorstellung besaß, so zu behandeln, damit dieses an die Modalitäten der menschlichen Sinne, an Sehgewohnheiten und Sehkonventionen angepasst ist. Die so gewonnenen, sinnlich wahrnehmbaren Phänomene zeigen streng genommen also nicht die Welt, wie sie ist, sondern nur so, wie wir sie wahrnehmen können. Die Welt muss an unseren physiologischen, psychologischen und kulturellen „Wahrnehmungsapparat“, und damit an präexistente Vorstellungen, Erfahrungen und Kategorien angeglichen werden, um wahr-genommen beziehungsweise für wahr genommen zu werden. 112
Das meiste, mit dem Wissenschaftler zu tun haben, ist dementsprechend vorstrukturiert, wenn nicht zur Gänze artifiziell.113 Die Substanzen im Labor sind genauso das Produkt menschlicher Erzeugung wie Messinstrumente, wissenschaftliche Artikel oder Theorien. 114 Die Produkte der Wissenschaft stellen „kontext-spezifische Konstruktionen dar, die durch die Situationsspezifität und Interessenstrukturen, aus denen sie erzeugt wurden, gezeichnet sind“,115 schreibt die Soziologin und Wissenschaftstheoretikerin Karin Knorr-Cetina und folgert daraus, „dass der Prozess der Wissenserzeugung nicht irrelevant für die Produkte ist, die wir erhalten.“116
Wissenschaftliche Produkte sind aber nicht nur entscheidungsimprägniert, sondern auch entscheidungsimprägnierend, da sie neue Probleme vorstrukturieren und deren Lösungen prädisponieren.117 Hierbei werden ständig Selektionen in Bezug auf das Erwünschte, Erhoffte und Erwartete getroffen. Dabei spielen nicht nur die eigenen Erwartungen, sondern auch jene von Kollegen beziehungsweise von einer ganzen...
Erscheint lt. Verlag | 23.5.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Technik |
ISBN-10 | 3-99139-509-6 / 3991395096 |
ISBN-13 | 978-3-99139-509-6 / 9783991395096 |
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