Erlebnispädagogik mit dem Pferd (eBook)
214 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61716-6 (ISBN)
Marianne Gäng (1934 - 2019) war Dipl. Soz.-Päd., Ausbildungsleitung für Reitpädagogik und Reittherapie, Gründerin und Präsidentin der Schweizer Gruppe Therapeutisches Reiten (SG-TR), Rodersdorf (Schweiz). Barbara Gäng ist Sozialpädagogin mit M. A. Behinderung und Partizipation FHNW, Absolventin der Therapiehund-Ausbildung (CH), Lehrgangsleiterin bei SG-TR und seit 2019 Vorsitzende der Fachinstanz HPR / TR.
Marianne Gäng (1934 - 2019) war Dipl. Soz.-Päd., Ausbildungsleitung für Reitpädagogik und Reittherapie, Gründerin und Präsidentin der Schweizer Gruppe Therapeutisches Reiten (SG-TR), Rodersdorf (Schweiz). Barbara Gäng ist Sozialpädagogin mit M. A. Behinderung und Partizipation FHNW, Absolventin der Therapiehund-Ausbildung (CH), Lehrgangsleiterin bei SG-TR und seit 2019 Vorsitzende der Fachinstanz HPR / TR.
Wanderreiten. Erlebnispädagogische Aktivitäten im Kinderhof Campemoor
Von Eberhard Laug
Das Heim – Die Kinder – Die Pferde
Der Kinderhof Campemoor ist eine stationäre psychotherapeutische Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung für „Mädchen und Jungen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in ihrer Ursprungsfamilie leben können“, heißt es in der Konzeption. Als Problemstellungen sind genannt: „Erziehungsschwierigkeiten, Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Folgen sexuellen Missbrauchs, Sprach- und/oder Körperbehinderungen, Schulprobleme, emotionale Störungen, postpsychiatrische Nachbetreuung, Eltern-Kind-Konflikte“.
Der Kinderhof Campemoor liegt etwa 25 Kilometer nördlich von Osnabrück im „Großen Moor“ zwischen den Ausläufern des Wiehengebirges und den Dammer Bergen. Hier wurde eine kleine landwirtschaftliche Hofanlage mit Stallungen und Nebengebäuden zu einem Kinderhof umgestaltet. Das Hauptgebäude und die beiden massiven Nebengebäude umschließen einen gepflasterten Innenhof. An die Gebäude schließen sich die Stallungen, ein Reitplatz sowie weitläufige Weiden und Wiesen an. Das Grundstück mit seinem alten Baumbestand, einem Zier- und Gemüsegarten, dazu sein ländliches Umfeld, bietet die idealen Voraussetzungen für freies, zugleich aber risikoarmes Spiel und den Einsatz erlebnispädagogischer Maßnahmen. Touren zu Fuß, mit dem Fahrrad und dem Pferd durch das weitläufige Moorgebiet helfen, um bei den weitgehend aus städtischem Milieu stammenden Kindern Raum zu schaffen für neue Lebensstrukturen. Seit die Diplom-Sozialpädagogin und Diplom-Reitpädagogin Gudrun Struck Anfang der 1980er Jahre den Kinderhof Campemoor gegründet hat, ist er außerdem geprägt durch den Einsatz von Pferden in der Arbeit mit den Kindern.
Die Kinder und Jugendlichen, die auf dem Kinderhof Campemoor leben, haben schwerwiegende Entwicklungsverzögerungen zu bewältigen. Auffälligste Störungen sind: Ausfälle in einzelnen Bereichen der Wahrnehmung, autistische Tendenzen und Hyperaktivität, starke Aggressionen und Schwierigkeiten, sich in soziale Gemeinschaften einzufügen. Deswegen war von Anfang an das Heilpädagogische Reiten ein therapeutischer Schwerpunkt im Kinderhof Campemoor. Zeitweise gehörten Hühner, Enten und Ziegen, immer Katzen, Hunde und eine Herde Islandpferde sowie ein Reitplatz zur Einrichtung. Die Anlagen für die Reittherapie wurden um ein Reitlabyrinth ergänzt. Zudem wurde eine ehemalige Scheune in einer gemeinsamen Aktion mit den Kindern und Jugendlichen so umgestaltet, dass sie als „Indoor-Arena“ die Möglichkeit bot, auch wetterunabhängig mit den Pferden zu arbeiten. Im Laufe der Zeit wurden auf diesem Hof unterschiedliche Methoden des Therapeutischen Reitens entwickelt, getestet und den Erfordernissen, die die besondere Klientel im Kinderhof Campemoor verlangt, angepasst.
Wanderreiten als pädagogische Maßnahme gehörte zu den ersten Angeboten im Kinderhof Campemoor. Schon unter dem Aspekt der gemeinsamen Unternehmung und gemeinsamer Erlebnisse ist dieser Ansatz plausibel und entspricht als „tiergestützte Abenteuerpädagogik“ aktuellen Vorstellungen zur Förderung der hier lebenden Kinder und Jugendlichen. Aus diesem Grundansatz entstehen immer wieder Aktionen, die über das Leben und Arbeiten mit den Pferden neue Erlebnisse und Kontakte zu anderen gesellschaftlichen Bereichen entstehen lassen.
Über die Region hinaus bekannt geworden ist die Aktion „Reiten und Fußball“ (s. S. 59 – 63), die einen neuen Weg zeigte, Kinder und Jugendliche aus dem Kinderhof in örtliche Vereine zu integrieren. Auch die schulische Integration (s. S. 53 – 58) gehört zu den Hauptzielen der Arbeit im Kinderhof Campemoor, weil auch sie eine Voraussetzung ist für die Integration in die Gesellschaft.
Das Therapeutische Reiten im Kinderhof Campemoor ist aufgebaut auf der Definition der Schweizer Gruppe Therapeutisches Reiten (SGTR). Darüber hinaus ist es darauf ausgerichtet, alle Bewohnerinnen und Bewohner auf die Teilnahme an Wanderritten vorzubereiten, um innere Gelöstheit mit neuen Erfahrungen zu kombinieren. Die Lösung emotionaler Spannungen führt dabei zur Offenheit auch für neue soziale Erfahrungen. Therapeutisches Reiten bedeutet hier:
■Stärkung des Selbstbewusstseins und des Selbstwertgefühls beim Reiter, der „die Zügel in der Hand hat“, zugleich aber
■Akzeptanz von Fremdbestimmung,
■Aufbau von Frustrationstoleranz,
■Wiederaufbau von verlorenem Vertrauen,
■Wahrnehmungsförderung,
■Harmonisierung der Psychomotorik,
■Vermittlung von Grenzen und Grenzerfahrungen,
■Soziales Training,
■Steigerung von Konzentration und Ausdauer.
Die dabei eingesetzten Islandpferde leben in robuster Gruppenhaltung mit viel Auslauf und großen Weideflächen direkt am Kinderhof in einem großzügig angelegten Offenstall. Dadurch gehören sie zum häuslichen Umfeld der Kinder und Jugendlichen. Der selbstverständliche tägliche Umgang mit den Pferden und die Beobachtung ihres Herdenverhaltens helfen mit, ohne Erwartungs- und Leistungsdruck neue Beziehungserfahrungen zu sammeln. Der stufenweise Kontaktaufbau führt dazu, dass insbesondere beziehungsgestörte Kinder wieder oder erstmals mit ihrer Umwelt oder mit Partnern angemessen kommunizieren.
Die artgerechte Haltung und der tägliche Kontakt der Bewohner des Kinderhofs mit den Pferden ermöglichen die ständige Förderung von Beziehungen zu den Pferden. Die Beobachtung des natürlichen Verhaltens im Herdenverband, Rangordnungskämpfe, die nach festgelegten Ritualen und Regeln verlaufen, gegenseitige Fellpflege, auch der gemeinsame Weidewechsel und die Futtersuche bieten vielfältige Anregungen, das natürliche Leben in einer Arten-Gemeinschaft ohne erhobenen Zeigefinger und losgelöste Moralappelle kennenzulernen. Der Herdenverband, der gutmütige Grundcharakter und die Nervenstärke der Isländer bieten darüber hinaus die Voraussetzung, auch Reitanfänger zu Ausritten mitnehmen zu können: Die Herde bleibt zusammen, weil die Pferde daran gewöhnt sind, miteinander in einer festgelegten Reihenfolge durch die Landschaft zu ziehen.
Alle im Kinderhof Campemoor lebenden Kinder und Jugendlichen nehmen an mindestens einem oder zwei Nachmittagen in der Woche am regelmäßigen Reitprogramm teil. Dazu kommen besondere Unternehmungen am Wochenende und die Möglichkeit der reittherapeutischen Intensivbetreuung, die unter anderem mit Lernförderprogrammen kombiniert werden.
Erlebnis und Persönlichkeit
Die Erlebnispädagogik hat ihre historischen Wurzeln in der Reformpädagogik und in der Jugendbewegung der Jahrhundertwende. Ihr Ziel ist es, ganzheitliches Lernen durch Kopf, Herz und Hand zu ermöglichen. Dabei geht sie von der Erfahrung aus, dass „Erlebnisse … im Persönlichkeitsprofil prägende und richtungsweisende Akzente setzen“ (Rieder 1992, 11). Je bedeutender die Wirkung eines Erlebnis-ses ist, desto stärker wirkt es handlungsleitend für die Zukunft; denn „außergewöhnliche Erlebnisse stimulieren die Emotionen und Persönlichkeitsentwicklung“ (Rieder 1992, 14). Von dieser Erkenntnis ging auch Kurt Hahn aus, als er sogenannte Kursschulen gründe-te, um Jugendliche für Einsätze im Rettungs-, Bergwacht- und Seenotdienst auszubilden. Durch körperliches Training, Expeditionen, Projekte und Übungen in Erster Hilfe sollte sowohl die körperlich-seelisch-geistige Einheit des Menschen als auch seine Beziehung zum Mitmenschen und zur Natur entfaltet werden. An diese Idee knüpfen die erlebnispädagogischen Outward-Bound-Einrichtungen unmit-telbar an. Sie fanden großen Anklang im Jugendstrafvollzug. Dort wurden für die Jugendlichen Hochgebirgswanderungen, alpine Klettertouren, Kajakwanderungen, Floßfahrten, Wildwassertouren, Segeltörns und Überlebenstraining in der Wildnis angeboten, um Grenzsituationen zu schaffen, die gemeinsam durchgehalten werden müssen. Das Meistern solcher Grenzsituationen baut das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl auf. Es fördert die Bereitschaft, sich auf akti-ves Erleben einzulassen, sowie eine realistische Selbst- und Fremdeinschätzung und die Entfaltung sozialer Kompetenzen. Ziel ist es, ein eigenständiges und verantwortungsbewusstes Handeln zu entwickeln und die Fähigkeit, selbstbewusster auf...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2023 |
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Reihe/Serie | mensch & tier |
Co-Autor | Eberhard Laug, Susanne Ortelli-Jurklies, Bernhard Pflug, Henrike Struck, Kathrin Schäffer, Elisabeth Groll, Barbara Ritz, Dagmar Schwab, Erhard P. Müller, Ulrike Wintermeyer, Almut Schulz, Ingrid Hatz, Elvi Lange, Dorothee Wintersohle, Angela Knoerr, Liliane Wydler, Marianne Gäng, Sabine Boehm |
Zusatzinfo | 81 Abb. |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Technik | |
Schlagworte | Behinderung • heilpädagogisches Reiten • Hippotherapie • Integrative Erlebnispädagogik • Kinder- und Jugendhilfe • Mensch-Tier-Beziehung • Partizipation • pferdegestütze Interventionen • Pferdegestützt • Reitpädagogik • Reittherapie • Sozialpädagogik • Therapeutisches Reiten • tiergestützt • Wanderreiten |
ISBN-10 | 3-497-61716-4 / 3497617164 |
ISBN-13 | 978-3-497-61716-6 / 9783497617166 |
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