Die geheime Welt der Vögel (eBook)
528 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2923-9 (ISBN)
Jennifer Ackerman ist preisgekrönte Autorin und schreibt seit über 25 Jahren über Wissenschafts- und Naturthemen, u.a. für The New York Times Magazine, Scientific American und National Geographic. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählen 'Die Genies der Lüfte' (Rowohlt 2017).
Jennifer Ackerman ist preisgekrönte Autorin und schreibt seit über 25 Jahren über Wissenschafts- und Naturthemen, u.a. für The New York Times Magazine, Scientific American und National Geographic. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählen "Die Genies der Lüfte" (Rowohlt 2017).
Einleitung
WENN DU EINEN VOGEL GESEHEN HAST
Säugetiere machen es auf diese Weise und Vögel auf jene«, so die prägnante Unterscheidung eines Wissenschaftlers zwischen dem Vogel- und dem Säugetiergehirn: Ein hochintelligenter Geist kann auf zwei Wegen entstehen.
Aber zur Lebensweise der Vögel gehört viel mehr als nur ein einzigartiges Verdrahtungsmuster im Gehirn. Es geht auch um Fliegen und Eier, Gefieder und Gesang. Da sind das züchtige Gefieder eines Bergdornschnabels und die extravaganten Schwanzfedern eines Hainparadiesschnäppers, der Sologesang des Graurücken-Leierschwanzes und die genau aufeinander abgestimmten Duette der Zeledonzaunkönige. Es gibt den Sturzflug, mit dem ein Fischadler ins Meer taucht, und den lautlosen, geduldigen Blick eines langbeinigen Fischreihers auf das dunkle Wasser.
Eines ist klar: Es gibt nicht »die« Lebensweise der Vögel, sondern eine atemberaubende Artenvielfalt mit unterschiedlichem Aussehen und unterschiedlichen Lebensgewohnheiten. Vögel unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht: in Gefieder, Gestalt, Gesang, Flug, ökologischen Nischen und Verhalten. Gerade das mögen wir so an ihnen. Biologen sind von dieser Vielfalt fasziniert. Ebenso gefesselt davon sind die Vogelfreunde. Dies veranlasst uns, Beobachtungslisten anzulegen, in ferne Winkel der Erde zu reisen und dort seltene Arten anzusehen, ins Auto zu springen und einen vom Sturm herangewehten Irrgast auszumachen oder geräuschvoll und pfeifend in den Wald zu gehen, um die scheue Grasmücke anzulocken.
Man braucht nur eine Weile Vögel beobachten, dann sieht man, dass einzelne Arten selbst die banalsten Dinge radikal unterschiedlich handhaben. Diese Vielfalt würdigen wir mit Begriffen, mit denen wir unsere eigenen extremen Verhaltensweisen beschreiben. Wir sind Eulen oder Lerchen, Schwäne oder hässliche Entlein, Falken oder Tauben, faule Eier oder Windeier. Wir sind Hühner, schräge Vögel oder stolz wie ein Pfau. Wir sind Lockvögel oder lahme Enten, Aasgeier oder plappernde Papageien. Wir gehen auf Gänsejagd oder legen Kuckuckseier. Wir sind flügge oder stehen vor einem leeren Nest. Wir fangen als früher Vögel den Wurm, sind Galgenvögel, Paradiesvögel, seltene Vögel, seltsame Vögel.
Oder, wie der Biologe E. O. Wilson einmal meinte: Wenn du einen Vogel gesehen hast, hast du nicht alle gesehen.
Für das Verhalten stimmen seine Worte sicher. Ein Beispiel ist die Drosseltöpferkrähe. In Australien sagt man, man könne sich leicht in diese Vögel verlieben – und das stimmt auch. Sie sind bewundernswert, charismatisch, gesellig, komisch: Auf einem schmalen Ast nebeneinander aufgereiht, sitzen sechs oder sieben rotäugige schwarze Klumpen aus schwarzen Federn und putzen sich gegenseitig – eine Perlenkette der Liebenswürdigkeit und Zuneigung. Die schwerfälligen Flieger gehen lieber zu Fuß und watscheln durch die trockenen Eukalyptuswälder, wobei sie den Kopf stolz nach vorn und hinten strecken wie Hühner. Sie pfeifen und kreischen und wedeln mit dem Schwanz wie junge Hunde. Sie spielen gerne Nachlaufen oder Weglaufen, kugeln übereinander, um in den Besitz eines Zweiges oder eines Stücks Baumrinde zu gelangen. In ihrer Größe ähneln sie einer Krähe, aber sie sind schlanker, schwarz mit eleganten weißen Flecken auf den Flügeln und gebogenem Schnabel. Drosseltöpferkrähen leben in stabilen Gruppen von vier bis 20 Vögeln zusammen, und man findet sie stets in Gruppen, Haufen oder Reihen. Wie in einer engen Familie tun sie alles gemeinsam: trinken, rasten, im Staub baden, spielen oder in weit auseinandergezogener Formation herumlaufen wie eine Fußballmannschaft, um sich neu entdecktes Futter zu teilen. Gemeinsam bauen sie große bizarre Nester aus Schlamm (oder aus Emu- oder Rinderdung) auf waagerechten Zweigen. Sie stehen auf einem Ast Schlange, warten, bis sie an der Reihe sind und ihr Stückchen abgerissene Rinde, Gras oder Fell abgeben und mit Schlamm am Rand des Nestes festkleben können. Gemeinsam brüten sie, halten Wache und füttern die Jungen. Zwischen den Mitgliedern einer solchen Familiengruppe liegt nur selten ein Abstand von mehr als eineinhalb bis zwei Metern. Einmal sah ich drei gerade flügge gewordene Vögel dicht gedrängt nebeneinander auf der Erde sitzen wie drei kluge Affen, die nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Aber die Drosseltöpferkrähen haben auch eine unangenehme Seite, insbesondere wenn sich das Wetter verschlechtert. Dann streiten und kämpfen die Gruppen schon mal gegeneinander. Größere Gruppen rotten sich gegen kleinere zusammen, fliegen auf sie zu und picken grimmig, werfen Eier aus Nestern und Nester von Bäumen. Sie gehen bekanntermaßen auf gewalttätige Raubzüge und machen die Nistbemühungen vieler anderer Gruppen zunichte. Einmal hat man beobachtet, wie ein Vogel ein Ei nach dem anderen mit dem Schnabel hochhob und auf den Boden warf. Am beunruhigendsten ist vielleicht, dass die Drosseltöpferkrähen in ihren Auseinandersetzungen etwas tun, was man – abgesehen von Menschen und Ameisen – nur von wenigen anderen Tieren kennt: Sie entführen gewaltsam die Jungen anderer Gruppen und versklaven sie.
DIESES BUCH HANDELT von dem breiten Spektrum erstaunlicher und manchmal beunruhigender Verhaltensweisen, die Vögel an den Tag legen. Es sind Tätigkeiten, die mit Sicherheit und manchmal auf geradezu verblüffende Weise die üblichen Vorstellungen davon, was bei Vögeln »normal« ist und was wir für ihre Fähigkeiten halten, auf den Kopf stellen.
In letzter Zeit haben Wissenschaftler einen neuen Blick auf Verhaltensweisen geworfen, die sie jahrelang übersehen und als Anomalien abgetan oder für undurchschaubare Rätsel gehalten hatten. Ihre Befunde bedeuteten das Ende der traditionellen Vorstellungen davon, wie Vögel ihr Leben führen, wie sie kommunizieren, auf Nahrungssuche gehen, balzen, sich paaren und überleben. Ebenso zeigen sie, welche bemerkenswerten Strategien und welche Intelligenz hinter solchen Tätigkeiten stecken. Es sind Fähigkeiten, die wir ausschließlich für die unseren oder zumindest für die alleinige Domäne weniger kluger Tiere gehalten hatten: Täuschung, Manipulation, Betrug, Kidnapping und Kindesmord, aber auch eine geniale Verständigung zwischen Arten, Kooperation, Zusammenhalt, Altruismus, Kultur und Spiel.
Manche derart außergewöhnlichen Verhaltensweisen sind ein Rätsel und scheinen an die Grenzen des – nun ja – Vogelseins zu gehen: Eine Vogelmutter tötet ihre eigenen kleinen Söhne, eine zweite versorgt selbstlos die Jungen anderer Vögel, als wären es die eigenen. Jungvögel widmen sich der Aufgabe, ihre Geschwister zu füttern, andere sind so von Konkurrenz besessen, dass sie ihre Nestkameraden erstechen. Manche Vögel schaffen großartige Kunstwerke, andere zerstören gezielt die Bauten anderer Vögel. Vögel wie die Drosseltöpferkrähe bringen ihre eigenen Widersprüche mit: Ein mörderischer Vogel spießt seine Beute auf Dornen oder in Astgabeln auf, singt aber so schön, dass Komponisten ganze Werke rund um seine Lieder erfunden haben.
Ein anderer steht in dem Ruf der Ernsthaftigkeit, ist aber geradezu spielsüchtig. Und wieder ein anderer arbeitet mit einer Spezies – den Menschen – zusammen, ist aber für eine andere Spezies ein grausamer Parasit. Manche Vögel überreichen Geschenke, manche stehlen. Sie tanzen und trommeln, malen Bilder oder bemalen sich selbst. Sie bauen Mauern aus Lärm, um Eindringlinge fernzuhalten, und locken Spielgefährten mit besonderen Rufen an – ja vielleicht liegen bei ihnen sogar das Geheimnis unserer eigenen Neigung zu spielerischem Handeln und die Anfänge der Evolution unseres Lachens.
UNSERE ERDE IST die Heimat von weit über 10 000 Vogelarten, viele davon haben erstaunliche, oftmals geradezu kindliche Namen. Da gibt es den Zickzackreiher und den Weißbauch-Lärmvogel, den Braunflügel-Mausvogel und den Nacktwangen-Spinnenjäger, die Atlantisralle, den Silbersinghabicht, den Rostkolibri, den Soldatenara oder auch den Wanderwasserläufer, ein gelbbeiniges Musterbild der Eleganz. Ich konnte ihm am Ufer einer winzigen Insel in der Kachemak Bay in Alaska beim Stochern nach Krebsen und Würmern zusehen. Der Namensbestandteil Wander- deutet darauf hin, dass er an langen Küstenabschnitten überall zu finden ist. Mit seinem schrillen Geschnatter warnt er andere Vögel, wenn sich der Beobachter zu nahe heranwagt. Es gibt Witwenvögel, Fächer- und Staffelschwänze, Breitrachen und Nashornvögel, aber auch das Ockerbrust-Laufhühnchen.
Vögel sind auf allen Kontinenten und in allen Lebensräumen zu Hause, sogar – wie der Kaninchenkauz oder der Gelbflankentodi – unter der Erde. Sie gehen in allem Möglichen ins Extrem, von Größe und Flugstil bis zur Farbe des Gefieders und zu den physiologischen Eigenschaften. Einmal konnte ich zusehen, wie ein Biologe einen Breitschwanzkolibri auf die Waage stellte: Der Vogel wog vier Gramm. Vergleichen wir das mit dem Kasuar, einem Riesen von 45 Kilo – fast das Zwölftausendfache des Kolibris. Er sieht eher aus wie ein Dinosaurier als wie ein heutiger Vogel, kann sich strecken und Früchte aus 1,80...
Erscheint lt. Verlag | 29.6.2023 |
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Übersetzer | Sebastian Vogel |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Amazonas • Australien • geniale Tiere • Insekten • Klimawandel • Kuriositäten • Storch • Vogelschwund • Wasserknappheit • Zugvögel |
ISBN-10 | 3-8437-2923-9 / 3843729239 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2923-9 / 9783843729239 |
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