Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn (eBook)
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01547-0 (ISBN)
Lisa Feldman Barrett (Jg. 1963), ist Professorin für Psychologie an der Northeastern University und lehrt darüberhinaus an der Harvard Medical School und am Massachusetts General Hospital in den Bereichen Psychiatrie und Radiologie. Gemeinsam mit dem Stanford-Professor und Psychologen James Gross gründete sie die Society for Affective Science, die sich der Förderung der Grundlagen- und angewandten Forschung zum Thema Emotionen und Affekt widmet. Darüberhinaus ist sie Mitbegründerin und Chefredakteurin der Zeitschrift Emotion Review. Lisa Feldman Barrett lebt in Boston.
Lisa Feldman Barrett (Jg. 1963), ist Professorin für Psychologie an der Northeastern University und lehrt darüberhinaus an der Harvard Medical School und am Massachusetts General Hospital in den Bereichen Psychiatrie und Radiologie. Gemeinsam mit dem Stanford-Professor und Psychologen James Gross gründete sie die Society for Affective Science, die sich der Förderung der Grundlagen- und angewandten Forschung zum Thema Emotionen und Affekt widmet. Darüberhinaus ist sie Mitbegründerin und Chefredakteurin der Zeitschrift Emotion Review. Lisa Feldman Barrett lebt in Boston. Elisabeth Liebl übersetzt aus dem Französischen, Englischen und Italienischen. U.a. übertrug sie Malala Yousafzai, Amaryllis Fox, Tiziano Terzani und Bob Woodward ins Deutsche.
Die halbe Lektion Ihr Gehirn ist nicht zum Denken da
Vor langer, langer Zeit wurde die Erde von Geschöpfen beherrscht, die kein Gehirn hatten. Und das ist keine politische Aussage, sondern eine biologische Feststellung.
Eines dieser Geschöpfe war der Amphioxus. Wenn Sie je ein solches Geschöpf zu Gesicht bekämen, würden Sie es vermutlich für einen Wurm halten, bis Sie die kiemenähnlichen Schlitze auf beiden Seiten des Körpers entdecken. Amphioxi oder Lanzettfischchen bevölkerten die Ozeane vor 550 Millionen Jahren.[1] Sie führten ein recht einfaches Leben. Dank einer simplen «Antriebstechnik» konnten sie sich im Wasser bewegen. Auch ihre Nahrungsaufnahme ging unkompliziert vonstatten: Sie verankerten sich am Meeresboden wie Grashalme und filterten und verdauten alle winzigen Organismen, die ihnen ins Maul trieben. Geschmack oder Geruch waren dabei nebensächlich, denn die Amphioxi besaßen noch keine Sinnesorgane, wie Sie sie haben. Sie hatten keine Augen, nur ein paar Zellen, die Helligkeitsveränderungen registrierten. Und sie konnten nicht hören. Ihr rudimentäres Nervensystem bestand aus einem Klecks Zellen, den man noch nicht als Gehirn bezeichnen konnte.[2] Ein Lanzettfischchen war, so ließe sich überspitzt sagen, ein Magen an einem Stock.
Und doch sind die Amphioxi entfernte Verwandte von uns, die noch heute existieren. Wenn Sie einen modernen Amphioxus betrachten, dann sehen Sie ein Geschöpf, das Ihrem winzigen Altvorderen, der damals die Ozeane bevölkerte, sehr ähnlich ist.[3]
Die heutigen Lanzettfischchen sind nicht unsere direkten Vorfahren, aber wir haben einen gemeinsamen Ahnherrn, der den heutigen Amphioxi vermutlich sehr ähnlich war.
Können Sie sich vorstellen, dass ein winziges, wurmähnliches Geschöpf von fünf Zentimetern Länge, das durch den prähistorischen Ozean trieb, eine entscheidende Rolle bei der evolutionären Entwicklung des Menschen spielte? Zugegeben, ganz einfach ist das nicht. Wir haben so vieles, was der urzeitliche Amphioxus nicht hatte: mehrere Hundert Knochen, eine ganze Reihe innerer Organe, ein paar Gliedmaßen, eine Nase, ein charmantes Lächeln und vor allem – ein Gehirn. Der Amphioxus brauchte kein Gehirn. Seine «Sinneszellen» standen in enger Verbindung zu den Zellen, die seine Bewegung steuerten. Er konnte also auf die Signale seiner notdürftigen Sinnesausstattung reagieren, ohne dass er viel hätte verarbeiten müssen. Sie hingegen haben ein hochkomplexes, leistungsstarkes Gehirn, das so unterschiedliche geistige Zustände hervorbringt wie Gedanken, Emotionen, Erinnerungen und Träume – ein reiches Innenleben, das letztlich Ihr Dasein bedeutsam und unverwechselbar macht.
Warum aber hat sich ein Gehirn wie das Ihre überhaupt herausgebildet?[4] Die naheliegendste Antwort wäre: um zu denken. Man nimmt automatisch an, dass sich Gehirne in aufsteigender Ordnung entwickelt haben, von den niederen Tieren hin zu den höheren, und natürlich steht das komplexeste von allen, das denkende Gehirn des Menschen, an der Spitze. Schließlich ist das Denken die Superkraft des Menschen, nicht wahr? Nun, die naheliegendste Antwort ist leider falsch. Die Vorstellung, dass unser Gehirn sich entwickelt hat, um das Denken zu ermöglichen, ist tatsächlich Grundlage vieler Missverständnisse über unser Geistesleben. Sobald Sie diese lieb gewonnene Idee aufgeben, haben Sie den ersten Schritt getan, um zu verstehen, wie Ihr Gehirn tatsächlich funktioniert, was seine wichtigste Aufgabe ist – und welche Art Geschöpf Sie in Wirklichkeit sind.
Vor 500 Millionen Jahren, als der kleine Amphioxus und andere einfach strukturierte Geschöpfe in aller Beschaulichkeit der Nahrungsaufnahme am Meeresboden nachgingen, trat die Erde in eine entwicklungsgeschichtliche Periode ein, die Wissenschaftler das Kambrium nennen. In dieser Zeit erweiterte eine neue Verhaltensweise das Bühnenrepertoire der Evolution: das Jagen. Irgendwo, irgendwie fing ein Geschöpf an, die Präsenz eines anderen zu erspüren und sich dieses gezielt einzuverleiben. Tiere hatten sich auch schon früher verspeist, doch nun hatte das Ganze plötzlich mehr System. Zum Jagen war zwar noch kein Gehirn erforderlich, aber dieses zielgerichtete Verhalten war ein wichtiger Schritt darauf zu.
Das Auftreten von Räubern im Kambrium machte die Welt zu einem umkämpften und gefährlichen Ort. Sowohl die Jäger als auch die Beutetiere durchliefen bestimmte Entwicklungen, sodass ihre Sinne mehr Informationen aus der Umwelt aufnehmen konnten. Vermochten die Amphioxi lediglich hell und dunkel zu unterscheiden, so konnten die neu entstehenden Tierarten tatsächlich sehen. Wo die Amphioxi nur eine simple Hautwahrnehmung besaßen, konnten die jüngeren Tierarten ihre Bewegung im Wasser umfassender wahrnehmen. Ihr Tastsinn erlaubte ihnen, Objekte durch Schwingungen wahrzunehmen. Haie nutzen diese Art der Wahrnehmung auch heute noch, um ihre Beutetiere zu lokalisieren.
Mit Entwicklung der Sinnesorgane wurde die Frage: «Kann man das dunkle Etwas in der Ferne essen, oder frisst es eher mich?», lebensentscheidend. Geschöpfe, die ihre Umgebung besser wahrnehmen konnten, hatten einen Überlebensvorteil. Der Amphioxus mochte seine Umwelt beherrschen, aber er konnte nicht spüren, dass er eine Umwelt hatte. Diese neuen Tiere waren dazu in der Lage und taten es.
Jäger und Gejagte erhielten einen zusätzlichen Entwicklungsschub durch eine weitere neue Fähigkeit: Sie konnten sich geschickter bewegen. Der Amphioxus, dessen Nerven für Wahrnehmung und Bewegung zusammengeschaltet waren, beherrschte nur sehr grundlegende Bewegungen. Wenn nicht mehr genug Futter in seine Mundöffnung strömte, schlängelte er sich einfach in zufälligen Bewegungen weiter, um sich woanders neu zu verankern. Jeder bedrohlich wirkende Schatten ließ ihn die Flucht ergreifen. In der neuen Jägerwelt entwickelten alle Tiere bessere motorische Systeme, die ihnen erlaubten, sich schneller und geschickter fortzubewegen. Sie konnten sich schneller und gezielter auf etwas zubewegen (zum Beispiel Nahrung) oder von etwas weg (zum Beispiel einer Bedrohung). Wie das genau aussah, hing im Wesentlichen von ihrer Umwelt ab.
Sobald sie fähig waren, Dinge auch von Weitem wahrzunehmen und sich gezielter zu bewegen, begünstigte die Evolution jene Arten, die diese Aufgaben besonders gut meisterten. Waren sie bei der Jagd auf ein Beutetier zu langsam, schnappte es ihnen ein anderer weg. Verbrauchten sie bei der Flucht vor einer potenziellen Bedrohung, die keine war, unnötig Energie, verschwendeten sie Ressourcen, die sie vielleicht später benötigten. Effizient mit der eigenen Energie umzugehen war der Schlüssel zum Überleben.
Am besten stellen Sie sich die Frage der Energieeffizienz so vor, als würden Sie ein Haushaltsbuch führen: Dabei notieren Sie, wie viel Geld hereinkommt und wie viel ausgegeben wird. Für Ihren Körper heißt das, dass Sie Ressourcen wie Wasser, Salz und Glukose eintragen und festhalten, wie viel Sie davon aufnehmen oder verbrauchen. Mit jeder Aktivität, die Ressourcen verbraucht, wie Schwimmen oder Laufen, verbuchen Sie etwas von Ihrem Budget als Auszahlung. Was Ihre Ressourcen auffüllt, wie Essen oder Schlafen, ist gleichsam eine Einzahlung. Das ist eine vereinfachte Erklärung, aber sie macht deutlich, dass der Körper biologische Ressourcen braucht und verbraucht. Alles, was Sie tun (oder nicht tun), ist auch eine wirtschaftliche Entscheidung – darüber, was Sie ausgeben beziehungsweise was Sie lieber sparen.
Der beste Weg, solvent zu bleiben, ist – wie Sie vermutlich aus persönlicher Erfahrung wissen –, Überraschungen zu vermeiden. Also Ihren finanziellen Bedarf zu kennen, bevor er auftritt, und sicherzustellen, dass Sie die Ressourcen haben, um ihn zu decken. Das Gleiche gilt für Ihr körperliches Budget. Die kleinen Geschöpfe des Kambriums brauchten einen energieeffizienten Weg zum Überleben, wenn ein hungriger Räuber in der Nähe war. Sollten sie abwarten, ob das gierige Biest auch wirklich auf sie losging, und erst dann erstarren oder sich verstecken? Oder sollten sie im Voraus mit einer möglichen Attacke rechnen und ihren Körper rechtzeitig auf Flucht einstellen?
Ihr Gehirn steuert die Buchhaltung für Ihren Körper, was Wasser, Salz, Glukose und viele andere biologische Ressourcen angeht. Wissenschaftler nennen diesen Budgetierungsprozess Allostase.
Wenn es um das Körperbudget geht, ist Vorsicht besser als Nachsicht. Ein Geschöpf, das fluchtbereit war, bevor das Raubtier zuschlug, würde den nächsten Tag eher erleben als eines, das wartete, bis es wirklich angegriffen wurde. Alle, die gute Voraussagen trafen (meistens jedenfalls) oder nicht tödliche Fehler machten, aus denen sie lernten, hatten es gut. Jene, die falsche Voraussagen machten, Bedrohungen nicht erkannten oder Dinge für eine Bedrohung hielten, die keine waren, hatten es schwerer. Sie erforschten ihre Umgebung weniger, fanden weniger Nahrung und pflanzten sich seltener fort.
Der wissenschaftliche Begriff für die Körperbuchführung ist Allostase.[5] Dabei werden die Bedürfnisse des Körpers selbsttätig vorausgesehen, bevor sie auftreten. Die Lebewesen des Kambriums erneuerten und verbrauchten Tag für Tag Ressourcen, indem sie ihre Sinne nutzten und sich bewegten. Die Allostase sorgte dafür, dass der Körper – meistens jedenfalls – im Gleichgewicht blieb. Sie durften durchaus etwas verbrauchen, wenn sie dafür sorgten, dass die Vorräte rechtzeitig...
Erscheint lt. Verlag | 13.6.2023 |
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Übersetzer | Elisabeth Liebl |
Zusatzinfo | Zahlr. s/w-Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Bewusstsein • Disziplin • Emotionen • Evolution • Freier Wille • Gedächtnis • Gehirnentwicklung • Gehirnforschung • Hirnforschung • Hirnfunktion • Hirnstamm • Kognitionswissenschaft • Kognitive Wissenschaft • Limbisches System • menschliche Emotionen • moderne Hirnforschung • Neocortex • Neurologie • Neuronen • Neurowissenschaften • Persönlichkeitspsychologie • Realität • Reptiliengehirn • Ryan Holiday • Selbstwahrnehmung • Verhaltensforschung • Verstand • Wahrnehmung |
ISBN-10 | 3-644-01547-3 / 3644015473 |
ISBN-13 | 978-3-644-01547-0 / 9783644015470 |
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