Das tut man nicht! (eBook)
Buchschmiede von Dataform Media GmbH (Verlag)
978-3-99139-562-1 (ISBN)
EINLEITUNG
„Innerhalb der Regeln ist man frei,
aber das eigene Weltbild darf nicht angekratzt werden.“ 3
Über Architektur schreiben ist wie Eintauchen in ein historisches Feld, das die großen Denker, Philosophen und Architekten aufgespannt und so trefflich bedient haben. Man fragt sich unwillkürlich: Was kann man beitragen, was nicht schon gesagt oder geschrieben wurde? Von Vitruv und Palladio, von Schinkel, Semper bis Wagner, von Loos bis Frank: bis heute haben kluge Köpfe sich im Kleinen wie im Großen mit Architektur und Baukunst beschäftigt und großartige Gedanken und Ideen eingebracht, Lehrmeinungen und ganze Dogmen erschaffen, wie Architektur beschaffen sein sollte, wie Architekten entwerfen, handeln und denken sollten.
Mit dem Studium der Schriften „der alten Herren“ eröffnet sich ein wahrer Erkenntnisschatz an architektonischem Wissen, philosophischem Gedankengut, aber auch an alltäglichen Bau- und gesellschaftlichen Problemen, die heute noch gültig sind4. Es scheint, als ob bereits um 1900 im Grunde alles gesagt wurde und dass im Laufe der vergangenen 120 Jahre wenig Schöpferisches, Erkenntnis- und Lehrreiches dazu gekommen ist, das zu einer lebenswerten menschlichen Architektur beitragen könnte. Dies scheint auch für andere Kunstbereiche wie die bildenden Künste, die Pädagogik oder die Musik zu gelten.
Das Thema Moral und Ethik ist in der Architektur nicht maßgebend und wird nur marginal diskutiert.5 Schaut man genauer hin, erkennt man zwei Seiten der Medaille: Die Moral wird zu Propagandazwecken missbraucht. Wenn es etwas zu erkämpfen oder abzuwehren gilt, wird die Moral als Abwertung, als Mittel für Kampf und Propaganda eingesetzt. „Moral ist immer gekoppelt mit einem Vernichtungswillen.“6, erkannte schon Bert Hellinger, der Begründer der Familienaufstellung. Diesen Vernichtungswillen hat man in den Anfangsjahren des „neuen Bauens“ gesehen, als es diesen neuen Baustil durchzusetzen galt. Und man erkennt ihn auch heute, wenn das vertraute Weltbild des Architekten gestört wird und die Existenz der modernen Architektur als bedroht angesehen wird. Als Beispiel seien die heftigen Diskussionen um Rekonstruktionen von zerstörten Bauwerken in Deutschland angeführt. Dort werden die gleichen „Schlagworte“ verwendet, um zu diskreditieren und abzuwerten.7
Auf der anderen Seite gibt es das Bemühen um eine „gute“ lebenswerte Architektur für die Erfüllung individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse. Es entstanden neben dem Lehrfach der Architekturtheorie in den letzten Jahren Forschungszweige der Soziologie und Philosophie, die sich speziell mit Architektur beschäftigen. Martin Düchs studierte Architektur und Philosophie in München und beschäftigte sich in seiner Dissertation8 mit der moralischen Verantwortung des Architekten und dessen Handeln, das moralisch verpflichtend zu einem guten Leben führen und beitragen soll. Er beruft sich darin auch auf eine eudaimonistische9 Dimension der Ethik in der Architektur. Düchs vernachlässigt aber die Wurzel moralischer Leitsätze, die Entstehung der bestehenden Denkgewohnheiten der in der Architektur beschäftigten Individuen und Gruppen. Er betonte selbst, dass in seinem Buch „…weder eine eigenständige Architekturtheorie entwickelt noch detaillierte architekturoder kunsthistorische Äußerungen gemacht werden.“10
Meine Arbeit ist also hinsichtlich Düchs Arbeit weiterführend oder vertiefend. Es wird hier die Frage gestellt, warum und wie diese Denkstile entstanden sind und warum sie noch heute umfassend wirken und in alle Gestaltungsbereiche der Architektur hineinreichen. Auch die Universitäten als Hochkultur der Bildung und der Forschung sind nicht davor gefeit, sondern Teil des Denkkollektivs und ein wesentlicher Gestalter der Architektur, ein Staffel-träger des Gedankengutes der Moderne, und damit Vermittler der Moral und des Ethos der Architekten, die die Welt gestalten und formen. In den Lehrveranstaltungen und Seminaren wird nicht nur das „Handwerk“ des modernen Bauens, sondern auch die bereits 100 Jahre alten Wertehaltungen vermittelt, die anzunehmen eine moralische, aber auch eine faktische Pflicht jedes Studenten ist, ohne die es kein positives Absolvieren des Studiums geben kann. Die Universitäten setzen Handlungsspielräume, bauen Spiel- und Handlungsfelder auf, innerhalb derer sich die Studenten zwar frei bewegen können, aber bereits in den ersten Semestern die Toleranzgrenzen und „die Bande des Spielfeldes“ erspüren und akzeptieren müssen. Auch der Leit-gedanke des „Anything goes“, der seit der Postmoderne jede Beliebigkeit der Formgebung scheinbar moralisch erlaubt, kann über die verborgenen Leit-linien und Grundsätze der Moderne nicht hinwegtäuschen.
An der TU Graz, wie an vielen anderen Universitäten, wird das Studienfach der Architektur mit geringem Bezug zur Historie gelehrt.11 Jeder Studienanfänger kann im ersten Semester diese Ablehnung und Verneinung historischer Bezüge und Stilmittel erkennen. Ein großes „Das tut man nicht!“ wird jedem Studenten bewusst und unbewusst mitgeteilt und als Lehrmeinung und Dogma präsentiert. Das ist allerdings so tief verankert, so verinnerlicht, dass selbst honorige und kompetente Lehrer an der Universität es nicht wahrnehmen. Ein ganzes Regelwerk moralischer Verhaltens- und Denk-weisen ist aufgespannt, Wege des Denkens und Entwerfens sind „vorgezeichnet“. Studenten werden auf eingeengten Bahnen durch das Studium geführt, haben diesen Moralkanon ungefragt zu übernehmen und tun dies einerseits als jugendliches und eingeübten Verhalten aus dem Gymnasium kommend und andererseits, weil es ihnen als absolutes Wertesystem angeboten und nicht hinterfragt wird und auch gar nicht hinterfragt werden kann und darf.12
Diese Arbeit möchte bestimmende Faktoren von „moralisch guter“ Architektur aufzeigen und hinterfragen, die nach 120 Jahren der Moderne immer noch wirken und präsent sind. Die als dogmatische, ja religiös anmutende Verhaltenskodizes13 entstehen und Handlungsspielräume definieren, die trotz aller folgenden Stilvarianten der Moderne noch immer bestehen und Menschen im Architekturberuf anleiten, das „gewissenhaft Richtige“ zu tun.
Die moderne Architektur musste sich Anfang des 19 Jahrhunderts ihre Daseinsberechtigung mit viel Propaganda und Kränkung erkämpfen, zahlte dafür aber einen hohen Preis mit der Ablehnung und Verdrängung der traditionellen Architektur und ihrer jahrtausendalten Wurzeln. Dieser Sieg über die traditionelle Architektur verlangt nach wie vor einen ständigen Aufwand an Rechtfertigung und Selbstbestätigung, aber auch eine immerwährenden Suche nach sich selbst. Frieden kann allerdings nur erreicht werden, wenn im Sinne der Familienaufstellungen nach Hellinger das Verdrängte wieder hereingenommen und angesehen wird.
Die eingeübten Verhaltenskodizes der modernen Architektur sollen mit diesem Buch der stillschweigenden Übereinkunft und Denkgewohnheit entzogen, wieder in das Blickfeld der Architekten gerückt und somit auch wieder diskutierbar werden.
Da diese Arbeit zu einem Teil eine philosophische Betrachtung ist, wird auf eine detaillierte Differenzierung von Stil- oder Epochenbezeichnungen verzichtet und der Begriff „Moderne“ als Über- und Arbeitsbegriff verwendet.14 Als Stilmittel werden die Metapher der 10 Gebote Moses15 und die „umgekehrte Psychologie“16 genommen, um auf etwas provozierende und ironische Art die Wirkmechanismen herauszuarbeiten und zu verdeutlichen.
3 Fußmann 1991, 85.
4 Dieses Wissen wird in der Moderne für obsolet erklärt und an Universitäten nicht mehr gelehrt. Es gibt auch kein Bemühen um einen modernen Zugang dazu.
5 Ein aktuelles Thema ist, ob Architekten für diktatorische Regierungen planen sollten. Z.B. Herzog & de Meuron, Nationalstadion von Peking (2008) oder Zaha Hadid, Galaxy Soho in Peking (2013)
6 Hellinger 2005 Ein langer Weg, 150.
7 Aschenbeck 2016, 27. „Die deutschen Architekturdebatten seit 1900 sind systemimmanente Diskussionen, die sich in einem vorgegebenen Rahmen bewegen – bis heute. In den 1950er, 1960er, 1970er Jahren wurde Architektur so verstanden, wie sie in den Jahren nach 1900 konstituiert wurde.“
8 Düchs, Martin: Architektur für ein gutes Leben. Über Verantwortung, Ethik, und Moral des Architekten, Dissertation LMU München, 2011. Erscheinen als gleichnamiges Buch, Münster 2011.
9 Eudaimonie ist ein Begriff der antiken Philosophie. […] in philosophischen Texten bezeichnet es eine gelungene Lebensführung nach den Anforderungen und Grundsätzen einer philosophischen Ethik und den damit verbundenen ausgeglichenen Gemütszustand. Gewöhnlich wird es mit „Glück“ oder...
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Technik |
ISBN-10 | 3-99139-562-2 / 3991395622 |
ISBN-13 | 978-3-99139-562-1 / 9783991395621 |
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