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Die Illusion der Vernunft (eBook)

Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten | Neuestes aus Hirnforschung und Psychologie
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2797-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Illusion der Vernunft -  Philipp Sterzer
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Wieso glauben Sie, dass Sie recht haben? Wir sind alle ein bisschen verrückt. Nicht nur die Menschen, die psychisch krank sind, sondern wir alle sind irrational. Der Neurologe, Psychiater und Hirnforscher Philipp Sterzer erklärt, warum das so ist und welche Schlüsse wir daraus ziehen können. Ein neuer Blick auf subjektives Erleben, soziales Bewusstsein und die Wahrnehmung der Welt.

Philipp Sterzer, Jahrgang 1970, studierte Medizin in München und Harvard. 2011 wurde er zum Professor für Psychiatrie und Neurowissenschaften an der Charité in Berlin berufen, 2022 wechselte er an die Universität Basel. Vor allem seine Arbeiten zur Veränderung von Wahrnehmungsprozessen bei Schizophrenie brachten ihm weltweit Anerkennung ein. 

Philipp Sterzer, Jahrgang 1970, studierte Medizin in München und Harvard. 2011 wurde er zum Professor für Psychiatrie und Neurowissenschaften an der Charité in Berlin berufen, 2022 wechselte er an die Universität Basel. Vor allem seine Arbeiten zur Veränderung von Wahrnehmungsprozessen bei Schizophrenie brachten ihm weltweit Anerkennung ein. 

Die Welt in unseren Köpfen


Die unglaubliche Erschaffung der Welt in sieben Tagen


Wie weit genau meine Faszination für das Phänomen zurückreicht, dass Menschen felsenfest von Dingen überzeugt sein können, die ganz klar und eindeutig falsch sind, kann ich nicht sagen. Aber es ist eine Faszination, die mich schon lange begleitet und die vermutlich dazu beigetragen hat, dass ich schließlich den Beruf eines neurowissenschaftlich forschenden Psychiaters ergriffen habe. Und es ist diese Faszination, die letztlich dazu geführt hat, dass dieses Buch entstanden ist.

Meine Erziehung war religiös geprägt. Ich wuchs mit den Geschichten aus der Bibel auf, und Religionslehrer und Pfarrer brachten mir bei, dass es wichtig sei, an Gott zu glauben. Folglich sollte man auch die Geschichten glauben, die in der Bibel stehen, denn sie waren ja das Wort Gottes. Doch die Wunder, die im Neuen Testament beschrieben waren, kamen mir komisch vor. Aber okay, Jesus war immerhin der Sohn Gottes. Die Möglichkeit mal vorausgesetzt, dass Gott überhaupt einen menschlichen, von einer Jungfrau geborenen Sohn haben konnte, bot die göttliche Abstammung vielleicht eine Erklärung dafür, dass Jesus Wasser in Wein verwandelte, unheilbar Kranke heilte, über Wasser ging, nach drei Tagen im Grab wieder lebendig wurde und dergleichen mehr. Noch größer aber waren die Herausforderungen, die das Alte Testament für die Vorstellungskraft des einigermaßen fantasiebegabten Jungen bereithielt, der ich den Erzählungen meiner Eltern zufolge war. Da war die Rede von Männern, die das Meer mit einer einzigen Handbewegung trockenlegen konnten, von Frauen, die zu Salzsäulen erstarrten, und von Schiffen, die weibliche und männliche Exemplare aller Tiere der Erde beherbergen konnten. (Alle? Wirklich alle? Was für gigantische Ausmaße dieses Schiff gehabt haben muss, und das vor ein paar Tausend Jahren!) All dies wurde aber noch getoppt von der Schöpfungsgeschichte, der zufolge Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen haben sollte, was sich genauso wenig wie die Geschichte von der Arche Noah mit den Darstellungen in meinen »Piper-Erklär-mir«-Sachbüchern auf einen Nenner bringen ließ.

Meine Eltern zeigten sich in diesen Fragen recht entspannt. Aber sie nahmen meine Bedenken ernst. Sie erklärten mir, dass man die Geschichten aus der Bibel nicht wörtlich nehmen dürfe, sie seien eher bildhaft zu verstehen – als Gleichnisse. Und außerdem seien sie ja schon Tausende von Jahren alt, man habe sich die Dinge damals eben anders vorgestellt. Deshalb müsse man das, was in der Bibel steht, im historischen Kontext sehen.

Einerseits leuchteten mir diese Erklärungen ein, sie entlasteten mich etwas. Andererseits aber weckte die Darstellung meiner Eltern doch Zweifel, denn immerhin handelte es sich bei der Bibel ja um das Wort Gottes, und zwar eines Gottes, der mir vom Pfarrer in der Kirche als allmächtig und allwissend angepriesen wurde. Wieso sollte dieser Gott – so meine kindliche Logik – vor zweitausend Jahren irgendwelche Geschichten erzählt haben, die man heute nicht mehr ernst nehmen kann? Aber gut, ich fand mich damit ab und versuchte, mich von der wortwörtlichen und damit vermutlich viel zu oberflächlichen Lesart der Bibel zu lösen und den tieferen spirituellen Sinn in den Geschichten zu erfassen.

Ich vermutete, dass es vielen Menschen, die christlich erzogen wurden, so ging wie mir, oder zumindest so ähnlich; dass es eben Teil der christlichen Glaubenspraxis war, die tieferen Botschaften und Weisheiten aus Texten herauszulesen, die – vordergründig betrachtet – wie Märchen anmuteten. Umso größer war (und ist auch heute noch) mein Staunen, als ich spätestens als junger Erwachsener feststellen musste, dass es durchaus eine große Zahl von Menschen auf dieser Welt gibt, die die Texte der Bibel und anderer altertümlicher Schriften tatsächlich für bare Münze nehmen. Menschen, die das offensichtliche Märchen – oder meinetwegen auch den Mythos – der Schöpfungsgeschichte allen Ernstes als Tatsachenbericht verstehen und all das, was die Wissenschaft über die Entstehung der Welt zu sagen hat, von schwarzen Löchern bis zur Evolutionstheorie, anscheinend für völligen Humbug halten. Wie stellen diese Leute sich das vor? Wie soll ein Gott in sieben Tagen die ganze Welt erschaffen haben? Und was ist mit der Wissenschaft? Können alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entstehung der Welt und des Lebens auf der Erde schlichtweg falsch sein? Wie wahrscheinlich ist es, dass die Wissenschaft in diesen Fragen komplett irrt? Oder dass alle Forschenden einer groß angelegten Verschwörung anhängen, deren Ziel es ist, die Menschen für blöd zu verkaufen?

Ein Bild der Welt in unserem Kopf


Das ist nur ein Beispiel für ein Phänomen, das in mir schon seit Langem immer wieder entweder Faszination oder tiefe Besorgnis oder beides gleichzeitig auslöst. Es ist das Phänomen, dass Menschen, aus welchen Gründen auch immer, ungeachtet der verfügbaren Fakten und gegen jede Wahrscheinlichkeit, mit unerschütterlicher Gewissheit auf ihren Überzeugungen beharren. Dass mich dieses Phänomen fasziniert, entspringt einer Art ethnologischen Neugier, es macht mich staunen, weckt mein Interesse und das Bedürfnis, es zu verstehen und erklären zu können. Fasziniert kann ich allerdings nur sein, wenn ich dabei die distanzierte Position eines unbeteiligten Beobachters einnehme. Aber, und das ist der Grund für meine Besorgnis, ich bin nun mal nicht unbeteiligt. Erstens, weil auch ich vermutlich Überzeugungen hege, die andere für falsch oder sogar absurd halten, und weil auch ich möglicherweise blind bin für manche Fakten, die gegen meine Überzeugungen sprechen. Und zweitens, weil ich Teil einer sozialen Gemeinschaft bin, die sich einen beschränkten Lebensraum mit begrenzten Ressourcen teilt und versucht, in diesem Lebensraum friedlich miteinander auszukommen.

Wie gut uns das als Gesellschaft gelingt, hängt entscheidend davon ab, welches Bild wir uns von der Wirklichkeit machen. Denn davon hängt wiederum ab, wie wir unser Zusammenleben gestalten: welche Regeln wir aufstellen, wie wir Entscheidungen treffen, die für uns als Gesellschaft, aber auch für jede Einzelne und jeden Einzelnen als Teil dieser Gesellschaft relevant sind. Um gemeinsame Lösungen für eine funktionierende Gesellschaft zu finden, müssen wir uns arrangieren und Kompromisse eingehen, wir müssen kooperieren. Solange wir alle derselben Meinung sind, gibt es kaum Probleme. Schwierig wird es zum einen dann, wenn Mitglieder einer Gemeinschaft unterschiedliche Interessen haben und diese durchsetzen wollen; und zum anderen, wenn sie sich nicht darüber einigen können, was wahr ist und was nicht.

Ob wir davon überzeugt sind, dass der Mensch von Gott erschaffen wurde, oder davon, dass er ein Produkt der Evolution ist, mag für unser Zusammenleben noch relativ unerheblich sein. Soll der eine doch ruhig das eine glauben und die andere etwas anderes, ist ja schließlich auch irgendwie Privatsache. (So könnte man zumindest denken, wenn man nicht um die lange Tradition der Menschheit wüsste, sich wegen Glaubensfragen gegenseitig zu bekriegen.) Aber jenseits vergleichsweise abstrakter Fragen wie der, ob es einen Gott gibt und wie die Welt oder der Mensch entstanden ist, gibt es zahlreiche Themen, die für die konkrete Gestaltung unseres Zusammenlebens im Hier und Jetzt von großer praktischer Bedeutung sind und über die man ganz offensichtlich sehr unterschiedlicher Überzeugung sein kann. Gibt es den Klimawandel, und wenn ja, ist er menschengemacht? Oder handelt es sich bei der Erderwärmung um eine gewöhnliche Temperaturschwankung, wie es sie immer schon gab und über die wir uns nicht weiter beunruhigen müssen, geschweige denn etwas dagegen unternehmen? Hat Bill Gates die Corona-Pandemie eingefädelt, oder waren es verantwortungslose (oder sogar böswillige) chinesische Wissenschaftler? Oder haben Pandemien wie diese ganz andere Ursachen, die mit der Art zusammenhängen, wie wir auf diesem Planeten zusammenleben, wie hoch die Bevölkerungsdichte mancherorts ist und wie wir Tiere halten?

Von unseren Antworten auf solche Fragen hängt für uns alle eine Menge ab. Wenn Menschen sich in solchen Fragen nicht einigen können, weil alle unbeirrbar an ihren Überzeugungen festhalten, und wenn daran dringend erforderliche Lösungen für die drängenden Probleme unserer Zeit scheitern, dann haben wir allen Grund zur Besorgnis.

Nun liegt natürlich die Vermutung nahe, dass wir Menschen eben gern glauben, was wir glauben wollen, und zwar ganz einfach deswegen, weil wir von Natur aus egoistisch und kurzsichtig sind. Wenn ich durch die Maßnahmen, die notwendig wären, um die Erderwärmung auch nur geringfügig abzubremsen, meinen Wohlstand in Gefahr sehe, dann glaube ich doch lieber mal, dass die Geschichte vom menschengemachten Klimawandel frei erfunden ist. Und wenn ich durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auf manche Freiheitsrechte verzichten muss und obendrein ständig zum lästigen Tragen einer medizinischen Maske genötigt werde, dann glaube ich doch lieber mal, dass Corona eine Farce ist, die Bill Gates inszeniert hat, um Kontrolle über die Menschheit zu gewinnen.

Aber so einfach ist es...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2022
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Neurologie
Technik
Schlagworte Gehirn • Gehirnforschung • Hirnforschung • Neurowissenschaften • Psychiatrie • Psychologie • Überzeugungen
ISBN-10 3-8437-2797-X / 384372797X
ISBN-13 978-3-8437-2797-6 / 9783843727976
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