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Der unentdeckte Kontinent (eBook)

Mein Leben und Forschen in der Welt der Baumkronen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
448 Seiten
Karl Blessing Verlag
978-3-641-26318-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der unentdeckte Kontinent - Meg Lowman
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Meg Lowman ist die weltweit führende Expertin für den Lebensraum der Baumkronen. Sie entwickelte eigene Techniken wie die »Skywalk«-Stege, die den von ihr so getauften »achten Kontinent« erschließen - das Blätterdach, in dem die Hälfte aller Spezies unseres Planeten lebt.

In ihrem neuen Buch schildert Lowman ihren Weg zum Erfolg auf einem von Männern dominierten wissenschaftlichen Gebiet, erzählt von den Menschen, die in und von den Wäldern leben, in denen sie arbeitet, und warnt vor dem rasanten Verschwinden des Lebensraums Wald. Vor allem aber lässt sie ihre Leser*innen an ihrer Entdeckung einer Welt teilhaben, die - verborgen über unseren Köpfen - auch heute noch voller Geheimnisse steckt.

Meg Lowman, geboren 1953 in New York, studierte an der Aberdeen University in Schottland und promovierte an der University of Sydney in Australien. Sie ist Biologin, Aktivistin und Autorin. Ihre Erforschung des Ökosystems Wald, insbesondere der Baumkronen, die sie seit über dreißig Jahren auf allen Kontinenten betreibt, gilt international als wissenschaftliche Pionierarbeit.

VORWORT


Wie man den ganzen Baum sieht
(und was das für den Wald bedeutet)


Stellen Sie sich vor, Sie gehen für einen Gesundheitscheck zum Arzt, und der untersucht ausschließlich Ihren großen Zeh. Am Ende erfahren Sie, dass Sie vollkommen gesund sind, dabei wurden Ihre Vitalfunktionen, Puls, Sehkraft oder irgendein anderer Körperteil gar nicht untersucht – sondern nur Ihr großer Zeh. Vielleicht haben Sie einen gebrochenen Arm oder Bluthochdruck und Kopfweh, aber da der Arzt nur die äußerste Extremität eines Ihrer beiden Füße bewertet hat, konnte er das eigentliche Problem gar nicht diagnostizieren. Wie fänden Sie das? Wahrscheinlich würden Sie zumindest einmal den Arzt wechseln.

Jahrhundertelang wurde die Gesundheit von Bäumen, auch die jener uralten Riesen, die haushoch in die Wolken aufragen, genau auf diese Weise begutachtet. Die Wissenschaftler untersuchten die verholzten Stämme auf Augenhöhe, sozusagen die »großen Zehen« ihrer Patienten, und schlossen daraus großzügig auf die Waldgesundheit, ohne die Hauptmasse des Baums, seine Krone, überhaupt in den Blick zu nehmen. Die einzige Gelegenheit, bei der Forstwissenschaftler einen ganzen Baum untersuchen konnten, war der Moment seiner Fällung – als wollte man die gesamte medizinische Geschichte eines Menschen von seinen sterblichen Überresten ablesen. Vor allem in tropischen Wäldern unterscheiden sich die unteren Etagen von den oberen Stockwerken wie Tag und Nacht. Bis auf den Boden dringt gerade einmal ein Prozent des Lichts vor, das auf die Krone scheint. Das Unterholz ist also dunkel, windstill und häufig feucht, während der obere Kronenraum von der Sonne versengt und von Hochwinden gepeitscht wird und zwischen den Regengüssen oft knochentrocken ist. Auf dem dunklen Waldboden tummeln sich ein paar schattenliebende Lebewesen, während die Krone eine üppige Lebensvielfalt beherbergt – Millionen Arten in allen erdenklichen Farben, Formen und Größen, die Blüten bestäuben, Blätter fressen und einander auch gegenseitig vertilgen.

Vor den 1980er-Jahren übersahen die Waldforscher unglaubliche 95 Prozent ihres Sujets; fast niemand beachtete die Baumkronen. Dann kam 1978 eine junge Botanikerin mit einer lebenslangen Leidenschaft für grüne Riesen und einer närrischen Liebe zu ihren Blättern dank eines Forschungsstipendiums über tropische Wälder nach Australien. Sie stammte aus der gemäßigten Klimazone und war in Bezug auf die Tropen völlig grün hinter den Ohren. Bei ihrem ersten Besuch in einem australischen Regenwald starrte sie in die schwindelerregendsten Bäume, die sie je gesehen hatte, und dachte: »Du heilige Scheiße, ich sehe noch nicht mal den Wipfel!« Diese völlig geplättete Botanikerin war ich.

Ich hatte eine grenzenlose Liebe zu Bäumen im Gepäck und plante, meine Zukunft darauf zu verwenden, ihre Geheimnisse zu lüften. Nach ein paar Missgeschicken war mir klar, dass ich, um den ganzen Wald zu verstehen, in seine obersten Etagen vordringen musste. Anfangs hoffte ich, dass ich die Baumwipfel einfach mit dem Fernglas zu mir herunterholen könnte. Doch nach vielen Überlegungen und einigem Herumprobieren fand ich eine Möglichkeit, mich selbst in dieses magische, unerforschte Wunderland aufzuschwingen, das von der sechsbeinigen Geschäftigkeit der Insektenwelt wimmelte und mehr Schattierungen von Grün enthielt, als ich es für möglich gehalten hatte. Ich nannte diese wunderbare neue Welt den »achten Kontinent«. Höhlenforscher steigen an einem Seil in die Tiefe, ich hingegen kletterte nach oben. Bergsteiger treiben Eisenhaken in Felswände, ich umschlang vorsichtig große Bäume, um nur ja keine Blätter zu beschädigen oder Tiere zu verschrecken. Und um meine Seile an den oberen Ästen zu befestigen, baute ich mir aus einer Eisenstange eine spezielle Schleuder. Meine Idee erwies sich als einfache, wenig kostspielige Technik, und sie war der Startschuss für meine Erkundung dieses »achten Kontinents«, einem komplexen Biodiversitäts-Hotspot, der nicht Hunderte oder Tausende Kilometer entfernt war wie der Meeresboden oder das Weltall, sondern praktisch griffbereit direkt über unseren Köpfen. Ich nannte mich eine »Arbornautin«.

Bei diesen ersten Ausflügen in die Blattkronen fand ich mich verzückt Auge in Auge mit Tieren, die ich mir nie hätte vorstellen können und die damals dem Rest der Welt völlig unbekannt waren. Ich staunte über einen hübschen Rüsselkäfer, der mit seiner schwarzen Schnauze Blätter aussaugte, über elegante, farbenfrohe Bestäuber, die durch blühende Ranken huschten, über riesige Nestfarne, die Ameisen ein Obdach boten, und über Abertausende meiner Lieblingsobjekte: Blätter. Auf meinem Weg vom Boden in den Wipfel blieb mir die Sprache weg angesichts der Veränderungen, die ich beobachtete. Das Laub im schattigen unteren Kronenraum war schwarzgrün, größer, schöner und, wie sich später herausstellte, langlebiger (dank der windstillen, geschützten und dunklen Umgebung nah am Waldboden). Die Blätter im hellen Sonnenlicht ganz oben waren klein, ledrig, gelbgrün und sehr robust. Wohin ich auch blickte, offenbarten die Wipfel Geheimnisse, die vom Boden aus nicht zu erahnen waren – glänzende Käfer fraßen junges (aber kein altes) Blattgewebe, Raupen operierten in Gangs, die ganze Äste vom jüngsten bis zum älteren Laub kahl fraßen, Vögel schnappten sich diese arglosen Larven, als bedienten sie sich an einer Salatbar, und plötzliche Regengüsse trieben alle diese wuselnden Geschöpfe auf der Suche nach Unterschlupf unter die nächsten Blätter oder in einen Spalt in der Rinde. In den folgenden Jahren sollte die Baumkronenforschung zu der Erkenntnis gelangen, dass mehr als die Hälfte aller landbewohnenden Tiere dreißig Meter oder noch höher über unseren Köpfen leben und nicht, wie man zuvor angenommen hatte, auf dem Boden. Bald stellte ich fest, dass die meisten Arten in den oberen Baumkronen der Wissenschaft unbekannt waren. Fast jede der über 60 000 Baumarten beherbergt einzigartige Lebensgesellschaften.

Bei der Konfrontation mit neuen Grenzen entwickeln Naturwissenschaftler neue Techniken und neue Geräte, um Lebensräume in Ruhe erforschen zu können. Die Erfindung des Drucklufttauchgeräts (Scuba) in den 1950er-Jahren eröffnete der Wissenschaft die außerordentliche Biodiversität der Korallenriffe. Die Mondlandung in den 1960er-Jahren war nur möglich, weil die NASA die Raketentriebwerke für Weltraumfahrten entwickelt hatte. Festtreibstoffe waren für die Astronauten das, was für Arbornauten meine einfache, selbst gebastelte Schleuder war – eigentlich keine Neuerfindung, sondern eine innovative Art und Weise, eine alte Technik einzusetzen. Und wie die Raumfahrt eine Generation von Astronauten hervorbrachte, schuf der Zugang in die Baumkronen neue Aussichten für Arbornaut:innen. Wenn Sie gerne auf Bäume klettern, aufgepasst: Es gibt einen Beruf für Sie! Ich war eine der ersten Baumerforscher:innen und wohl die einzige, die so verrückt war, auf allen Kontinenten geforscht zu haben (selbst in der Antarktis, auch wenn die Wipfel von Moos und Flechten dort nur wenige Zentimeter hoch sind, sodass man sich hinknien muss, statt zu klettern, um ihre winzigen Kronen zu erreichen). In vierzig Jahren habe ich Tausende Blätter markiert und ihre Lebensgeschichte verfolgt. Manche haben mehr als zwanzig Jahre überdauert trotz der beständigen Bedrohung durch Tiere (meist Insekten), die versuchten, sie zu fressen, zu zerreißen, zu durchtunneln oder sonst wie zu verunstalten. Und dass unser Ansatz in der Waldwissenschaft sich in so luftige Höhen verschoben hat, führte auch zu neuen Erkenntnissen über globale Zyklen wie Wasserkreislauf, Kohlenstoffbindung und Klimawandel.

Es sollte nicht überraschen (überrascht aber so manchen immer noch), dass die Gesundheit des Planeten direkt mit dem Wald zusammenhängt. Sein Kronendach produziert Sauerstoff, filtert Regenwasser, wandelt Sonnenlicht in Zucker um, reinigt unsere Luft, indem es CO2 absorbiert, und bietet der außerordentlichen genetischen Vielfalt aller erdbewohnenden Tiere Unterschlupf – und das sind noch lange nicht alle seine wichtigen Funktionen. Und anders als für Stromnetz und Wasseraufbereitungsanlagen brauchen wir für die Wartung dieser komplexen Waldindustrie, die unsere Erde gesund hält, keine teuren Steuern und Abgaben. Damit der Wald gut funktioniert, müssen wir ihn allerdings vor der Zerstörung durch den Menschen schützen. In den gut sechzig Jahren meines Lebens hat die Zerstörung des Amazonas-Regenwalds einen Kipppunkt überschritten; dass er sich restaurieren lässt, ist unwahrscheinlich. Länder wie Madagaskar, Äthiopien und die Philippinen haben fast keine primären Wälder mehr, aus denen sie Samen für künftige Bestände gewinnen könnten. Und noch bestehende Waldfragmente von Kalifornien über Indonesien bis Brasilien sind durch Brände, Dürre, Straßenbau und Abholzung stark bedroht. Wir müssen uns noch mehr beeilen, um die Geheimnisse der Baumwipfel zu entschlüsseln, bevor sie verschwinden; oder besser noch, wir müssen eine Möglichkeit finden, diese übrigen grünen Archen Noah zu bewahren. Als ich vor etwa fünfzig Jahren Gartenbäume untersuchte, gehörte »Klimawandel« noch nicht zu meinem Wortschatz, heute macht dieser Begriff es noch dringlicher, Naturräume und insbesondere Wälder zu verstehen und zu erhalten.

Ein Weg, mehr Bäume zu retten, besteht darin, mehr Menschen in ihre Wunder einzuweihen. Nachdem ich sichere Seiltechniken ausgearbeitet hatte, entwarf ich Laufstege durch das Kronendach, sogenannte Baumwipfelpfade oder -Walkways, und Plattformen, von denen aus ganze Gruppen die Baumkronen untersuchen können, wo vorher nur einzelne Beobachter an einem...

Erscheint lt. Verlag 23.5.2022
Übersetzer Elsbeth Ranke
Sprache deutsch
Original-Titel The Arbornaut
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Technik
Schlagworte 2022 • Abholzung • Achter Kontinent • Arbornautin • Biologie • Biosphäre • Blätterdach • Botanik • Canopy Meg • Canopy Walks • eBooks • grüne Lunge • Naturschutz • Neuerscheinung • Urwälder
ISBN-10 3-641-26318-2 / 3641263182
ISBN-13 978-3-641-26318-8 / 9783641263188
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