Was macht das Quark im Apfelkuchen? (eBook)
448 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44077-6 (ISBN)
Harry Cliff ist Teilchenphysiker an der Universität Cambridge und arbeitet am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung, bei Genf. Er war sieben Jahre Kurator am Science Museum in London und tritt regelmäßig im Fernsehen und Radio auf. Sein TED-Talk >Have We Reached the End of Physics?< wurde knapp drei Millionen Mal gesehen.
Harry Cliff ist Teilchenphysiker an der Universität Cambridge und arbeitet am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung, bei Genf. Er war sieben Jahre Kurator am Science Museum in London und tritt regelmäßig im Fernsehen und Radio auf. Sein TED-Talk ›Have We Reached the End of Physics?‹ wurde knapp drei Millionen Mal gesehen.
Vorwort
An einem frostigen Morgen im März 2010 steuerte ich meinen Wagen auf ein umzäuntes Gelände in den Außenbezirken der französischen Gemeinde Ferney-Voltaire. Ein an das stählerne Eingangstor geschraubtes Schild verkündete:
CERN SITE 8
ACCÈS RÉSERVÉ AUX PERSONNES AUTORISÉES (ZUTRITT NUR FÜR BEFUGTE)
Ungeschickt lehnte ich mich über den Beifahrersitz meines Rechtslenkers hinweg aus dem Fenster und zog meinen Sicherheitsausweis über das Lesegerät. Das Tor öffnete sich nicht. Hmmm … hatte ich die Sicherheitsüberprüfung nicht bestanden? Hinter mir bildete sich bereits eine Autoschlange, weshalb ich zunehmend hektisch wieder und wieder meine Karte über den Scanner zog. Nichts. Gerade wollte ich aussteigen, um in meinem ungelenken Schulfranzösisch mit dem Wachpersonal zu verhandeln, als sich zu meiner großen Erleichterung knirschend das Tor öffnete.
Ich parkte hinter der großen Versuchshalle mit Blick auf den Maschendrahtzaun, der das Gelände von der Startbahn des Genfer Flughafens trennt. Als ich ausstieg, bildete mein Atem in der kalten Luft Wölkchen, und ich nahm den seltsam süßlichen Geruch der Parfumfabrik war, der aus dem nahe gelegenen Schweizer Meyrin herüberzog. Die Hände tief in die Jackentaschen gebohrt, machte ich mich auf zum Gebäude 3894 – hinter diesem prosaischen Namen verbirgt sich ein einstöckiger Stahlcontainer für die frühmorgendlichen Meetings.
Im Innern saßen bereits die meisten Teilnehmer dicht gedrängt um den langen Tisch. Einige plauderten mit ihren Nachbarn auf Englisch, Französisch, Deutsch oder Italienisch; andere nippten an einem Kaffee oder beugten sich über ihren Laptop. Ich fand einen Platz in der zweiten Stuhlreihe hinter dem Tisch und hoffte, dass mich hier niemand ansprechen würde.
Rund hundert Meter unter unseren Füßen befand sich ein ringförmiger Betontunnel, so lang, dass er um eine ganze Stadt herumreichen würde. In ihm erwachte gerade die größte und mächtigste Maschine zum Leben, die je gebaut wurde: der Large Hadron Collider (LHC, Großer Hadronen-Speicherring). In wenigen Tagen wollten Forscher in dem Teilchenbeschleuniger subatomare Teilchen mit derartiger Wucht aufeinanderschießen, dass sich für einen kurzen Augenblick Zustände ergeben, wie sie unmittelbar nach dem Urknall geherrscht haben.
Diese winzigen, aber katastrophalen Zusammenstöße würden dabei von vier riesigen Teilchendetektoren aufgezeichnet werden: Auf dem LHC-Ring mit einigen Kilometern Abstand verteilt, stehen diese gewaltigen Maschinen in unterirdischen Höhlen, in die problemlos ganze Kirchen passen würden. Einer dieser Detektoren befand sich direkt unter uns – er trägt den Namen »Large Hadron Collider beauty Experiment« (LHCb) – 6000 Tonnen Stahl, Aluminium, Silikon und Glasfaserkabel, wie ein Sprinter im Starterblock eingerastet, bereit für den Einsatz.
Und er hatte lange auf seinen Augenblick gewartet. Einige meiner Kollegen hatten ihr gesamtes Arbeitsleben damit verbracht, diesen Moment Wirklichkeit werden zu lassen. Zwanzig Jahre Planung, Finanzierungsverhandlungen, minutiöses Entwerfen, Testen und Konstruieren hatten zu einem der technisch fortschrittlichsten Teilchendetektoren geführt, die je gebaut worden waren. In den kommenden Tagen sollte das Ergebnis all dieser Bemühungen endlich einer Probe unterzogen werden, wenn die Ingenieure des LHC zum ersten Mal Teilchen im Ring beschleunigen und innerhalb des Detektors zur Kollision bringen wollten.
Wenige Wochen zuvor war ich als 24-jähriger Doktorand im zweiten Jahr nach Genf gekommen, um den ersten von zwei dreimonatigen Arbeitsaufenthalten zu beginnen. Mein neues Zuhause war das CERN, die Europäischen Organisation für Kernforschung, mit dem größten und fortschrittlichsten Teilchenlabor der Welt. Inzwischen fand ich mich immer besser in diesem Labyrinth aus Bürogebäuden, Werkstätten und Laboren zurecht, die auf dem weitläufigen CERN-Gelände verteilt waren. Ich hatte gegen Februar-Schneestürme angekämpft und erfahren müssen, dass man in der Schweiz eine Standpauke vom Nachbarn riskiert, wenn man nach 22 Uhr noch die Toilettenspülung benutzt. Auch mit meinen neuen Aufgaben beim LHCb war ich inzwischen recht gut vertraut – ich trug die Verantwortung für eines der Subsysteme, die alle einwandfrei würden funktionieren müssen. Sollte auch nur eines versagen, könnten sich die so lang erwarteten Daten als unbrauchbar erweisen.
Eineinhalb Jahre zuvor hatte ich den LHCb zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen. Mein Betreuer Uli, ein deutscher Postdoc-Forscher, der Vollzeit am CERN arbeitete, hatte mir durch die komplizierte Prozedur geholfen, ohne die man dem Detektor nicht nahe kommen kann. Nachdem ich einen Badge an meiner Kleidung befestigt hatte, der die Strahlung maß, der ich während meines Aufenthalts unter Tage ausgesetzt war, musste ich einen eher launischen Iris-Scanner davon überzeugen, mich eine Reihe leuchtend grüner, als Luftschleusen konstruierter Türen passieren zu lassen. Dann schaukelte mich ein kleiner Metallfahrstuhl die 105 Meter hinunter in den »pit«, die »Grube«, wie die etwas bedrohliche, hier allgemein gebräuchliche Bezeichnung lautet.
Hinter den Aufzugtüren öffnete sich eine seltsame unterirdische Welt voll surrender Maschinen mit in den Primärfarben bemalten Metallgerüsten und dem Betontunnel, durch den kilometerlange Kabel und Röhren führten. Noch eine Reihe Sicherheitstüren, dieses Mal leuchtend gelb und beklebt mit Warnhinweisen zu gefährlicher Strahlung, dann ein enger Durchgang durch eine 12 Meter dicke Schutzmauer, und mit einem Mal standen wir in einer enormen Betonkaverne.
Das Erste, was einen beeindruckt, ist die schiere Größe. Der LHCb ist gewaltig: 10 Meter hoch und 21 Meter lang, womit er die gesamte Breite der Kaverne ausfüllt. Auf den ersten Blick versteht man kaum, was man da vor sich hat. Die Sicht wird durch grün und gelb gestrichene Treppen, Stahlplattformen und Gerüste versperrt, die zum einen die Anlage stützen, zum anderen den Zugang zu wichtigen Bauteilen des Detektors ermöglichen. Freien Blick hat man allerdings auf fast keines von ihnen. Über die Wände des Tunnels verlaufen im Zickzack Kabel, die entweder dem Detektor Strom zuführen oder die Sturzflut an Daten abtransportieren, die von Millionen winziger, ungemein präzise konstruierter Sensoren erzeugt werden. Der LHCb kann für Tausende subatomarer Teilchen zugleich aufzeichnen, welche Wege sie nach den Kollisionen haarscharf unter Lichtgeschwindigkeit nehmen, mit einer Genauigkeit von wenigen Tausendsteln eines Millimeters. Und das in Intervallen von Millionen Bruchteilen einer Sekunde.
Doch das Bemerkenswerteste am LHCb ist die Art und Weise, wie er errichtet wurde. Wie alle vier großen LHC-Detektoren an dem Ring entstand er durch eine Kooperation, die einem modernen Babel glich: Jede Komponente wurde in einem internationalen Zusammenspiel von Physikern und Ingenieuren an Dutzenden Universitäten rund um die Erde entwickelt und konstruiert, von Rio de Janeiro bis nach Nowosibirsk. Dann wurden die Teile in das riesige Loch im Boden unter Genf geliefert, um zu einem einzigen, unglaublich komplexen Instrument zusammengesetzt zu werden. Die Tatsache, dass diese vier Riesen überhaupt laufen, wirkt für mich noch heute wie ein Wunder.
Meine Kollegen in Cambridge hatten die letzten zehn Jahre damit verbracht, die Elektronik zu entwerfen, zu bauen und zu testen, mit der die Daten dieses Subdetektoren verarbeitet werden, dessen Aufgabe es ist, die unterschiedlichen Teilchenarten bei der Kollision auseinanderzuhalten. Mein Job wiederum bei all dem war, sicherzustellen, dass die Software zur Überwachung dieser Elektronik ihren Dienst ohne Absturz oder sonstige Fehler tut, sobald die Maschine läuft. Zwar war ich nur ein kleines Rädchen in dieser gigantischen Maschinerie, doch war ich mir sehr bewusst, dass zwanzig Jahre Anstrengung von Hunderten Physikern aus siebzig Ländern und 65 Millionen Euro Investitionen aus mehr als einem Dutzend nationaler Finanzierungstöpfe auch davon abhingen, dass ich meinen Job gut erledigte. Ich wollte nicht derjenige sein, der in letzter Minute alles ruinierte.
Das Geplauder im Konferenzraum verstummte abrupt, als der Projektleiter des ersten Rundlaufs die Sitzung eröffnete. Ich sah mich nach meinen Kolleginnen und Kollegen um. Viele von ihnen sahen aus, als hätten sie in den letzten Tagen nicht viel Schlaf bekommen. Mir war klar, dass nun die wichtigsten Tage in meiner bisherigen Karriere vor mir...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2022 |
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Übersetzer | Jörn Pinnow |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Albert Einstein • Astrophysik • Atom • Atomspaltung • Big Bang • CERN • Eine kurze Geschichte der Zeit • Harald Lesch • Heino Falcke • Kosmologie • Licht im Dunkeln • mai thi nguyen-kim • Materie • Moleküle • Naturwissenschaft • Physik • pop science • Popular science • Schwarze Löcher • Ska • Sonne • Sonnensystem • Square Kilometre Array • Stephen Hawking • Sterne • Teleskop • Universum • Urknall • Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-423-44077-5 / 3423440775 |
ISBN-13 | 978-3-423-44077-6 / 9783423440776 |
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