Bewusstsein erklären (eBook)
317 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77018-4 (ISBN)
Bewusstsein erklären - was heißt das und wie geht das? Die zentrale Idee von Wolfgang Prinz, die in diesem Buch vorgestellt wird, versteht Bewusstsein als eine soziale Institution, die auf Selbstrepräsentation beruht. Bewusstsein erklären heißt deshalb, das mentale Selbst erklären. Die Diskussion richtet sich zum einen auf die Begründung und Ausarbeitung der Idee selbst, zum anderen auf die Charakterisierung der sozialen Interaktionsprozesse, die sie realisieren. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie das Zusammenspiel von kognitiven Mechanismen und sozialen Praktiken Selbstrepräsentation und also Bewusstsein hervorbringen kann.
<p>Wolfgang Prinz, geboren 1942, ist emeritierter Direktor am Max- Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig sowie Honorarprofessor an den Universitäten München und Leipzig. Er wurde u. a. mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Oswald-Külpe-Preis ausgezeichnet.</p>
8Einleitung
Bewusstsein erklären – im Ernst? Ist das nicht ein Unternehmen, an dem sich schon viele verhoben haben? Soll man es nicht lieber bleiben lassen?
Ja und nein. Einerseits scheint vieles gegen einen weiteren Versuch zu sprechen, weil die Kette der enttäuschten Erwartungen schon ziemlich lang ist, die die Versprechungen der Bewusstseinserklärungsindustrie der vergangenen Jahrzehnte generiert haben. Andererseits kann aber auch einiges dafür sprechen – dann nämlich, wenn es darum geht, neue Überlegungen ins Spiel zu bringen, die in der bisherigen Diskussion noch keine Rolle gespielt haben und deshalb vielleicht Hoffnungen auf neue Perspektiven, neue Fragen und neue Antworten begründen können.
Enttäuschungen und Hoffnungen – Dass die Geschichte der modernen Bewusstseinsforschung eine Geschichte von Enttäuschungen ist, ist schwer von der Hand zu weisen. Besonders enttäuschend ist vielleicht, dass ausgerechnet die Psychologie die Erklärung von Bewusstsein weitgehend aus ihrem Programm gestrichen hat. Sie erkennt Bewusstseinserscheinungen zwar als wichtige und interessante Phänomene an und beschreibt ihre gesetzmäßigen Zusammenhänge, aber sie hat es in großen Teilen aufgegeben, sich ein theoretisches Bild davon zu machen, um was für Phänomene es sich dabei eigentlich handelt und wie sie zustande kommen. Mit dieser Strategie haben Pioniere wie Gustav Theodor Fechner und Wilhelm Wundt im 19.Jahrhundert die experimentelle Psychologie begründet. Weitgehender Verzicht auf Theorie war der Preis, den sie für die empirische Erforschung des Bewusstseins zu zahlen bereit waren. Einige Jahrzehnte später erklärte dann der positivistisch eingefärbte Behaviorismus, der weite Teile der Psychologie durcheinanderwirbelte, auch die experimentelle Bewusstseinsforschung zu einem Irrweg und ersetzte sie durch experimentelle Verhaltensforschung. Auch wenn die Zeiten des Behaviorismus längst vorbei sind, hat der antimetaphysische und bewusstseinsskeptische Affekt, der mit dieser Bewegung verbunden war, im kollektiven Gedächtnis der Psychologie tiefe Spuren hinterlassen und wirkt 9immer noch nach. Heute sind Bewusstseinserscheinungen zwar wieder Gegenstand empirischer Forschung, aber psychologische Bewusstseinstheorien, die diesen Namen verdient hätten, gibt es kaum.
Während die Psychologie kneift, prescht die Hirnforschung seit geraumer Zeit vor und offeriert ein reichhaltiges Angebot an Erklärungen, die das Vakuum füllen könnten, das der Rückzug der Psychologie eröffnet hat. Aber auch hier macht sich nach anfänglicher Begeisterung Enttäuschung breit, weil sich zeigt, dass die Erklärungsangebote oft weniger hergeben, als sie versprechen. Im Mittelpunkt steht hier der Versuch, Bewusstseinserscheinungen dadurch zu erklären, dass man ihre neuronalen Korrelate identifiziert – jene neuronalen Strukturen und Prozesse also, die mit ihnen verbunden sind und ihnen zugrunde liegen. Gewiss ist nichts gegen die Idee einzuwenden, dass Bewusstseinserscheinungen auf neuronalen Strukturen und Prozessen beruhen, ohne die es sie nicht gäbe und sie nicht wären, was und wie sie sind. Das heißt aber nicht, dass sie allein durch die Identifikation und die nähere Charakterisierung dieser Korrelate auch zufriedenstellend erklärt werden können. Wirklich zufriedenstellend können Erklärungen nämlich nur dann sein, wenn sie über die bloße Konstatierung von korrelativen Beziehungen hinausgehen und verständlich machen, wie es kommt, dass diese Beziehungen genau so beschaffen sind, wie sie es sind, und dass die neuronalen Korrelate genau diejenigen Eigenschaften hervorbringen, die Bewusstseinserscheinungen auszeichnen.
Wieder andere Enttäuschungen bereitet die Philosophie. Was es mit dem Bewusstsein auf sich hat und welche Rolle es in der Welt spielt, ist natürlich seit jeher ein zentrales Thema in Metaphysik und Erkenntnistheorie. Philosophen bedienen sich phänomenanalytischer und sprachanalytischer Methoden, um Vokabularien und Sprachregelungen zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Bewusstseinserscheinungen und ihr Zusammenhang mit physischen Vorgängen in Körper und Welt widerspruchsfrei und kohärent beschreiben lassen. Aber auch diese Ansätze helfen denen, die Erklärungen suchen, nicht wirklich weiter. In methodischer Hinsicht enttäuscht, dass der philosophische Diskurs in erster Linie auf Eindeutigkeit, Widerspruchsfreiheit und argumentative Kohärenz des Sprachgebrauchs zielt und erst in zweiter Linie die Beschaffenheit 10der Tatsachen selbst in den Blick nimmt, die in diesem Sprachgebrauch verhandelt werden. In inhaltlicher Hinsicht enttäuscht, dass Philosophen sich oft schwertun mit dem biologisch-funktionalistischen Denken, das für die Kognitions- und Neurowissenschaften den selbstverständlichen und geradezu alternativlosen Rahmen für die empirische und theoretische Erforschung von Bewusstseinserscheinungen bildet.
Sind wir also im Tal der Enttäuschungen gefangen und müssen resignieren? Nicht unbedingt. Auch in scheinbar ausweglosen Situationen kann ein neuer Versuch lohnend sein, wenn es Gründe für die Annahme gibt, dass der Vorrat an Ideen, die das Potential haben, das Unternehmen voranzubringen, noch nicht ausgeschöpft ist. Deshalb müssen wir, wenn wir neue Hoffnungen begründen wollen, zweierlei leisten: neue Ideen ins Spiel bringen und zeigen, dass sie die Erklärung von Bewusstsein auf neue und interessante Weise voranbringen können.
Worum es geht – Ebendies setzt sich das Projekt zum Ziel, das in diesem Buch zur Sprache kommt. Es will aber nicht als ein interdisziplinäres Universalprojekt verstanden sein, das es darauf anlegt, Ideen unterschiedlicher disziplinärer Provenienz zusammenzuführen. Stattdessen betreibt es sein Geschäft in erster Linie aus der speziellen Perspektive der theoretischen Psychologie und mit dem selektiven Blick auf Ideenangebote, den diese Perspektive vermittelt. Dabei zielt es nicht darauf ab, um jeden Preis eine theoretische Novitätenschau zu inszenieren. Einige der Ideen, die wir ausführlich untersuchen, mögen zwar in gewissem Sinne neu sein, aber für die meisten gilt, dass sie eigentlich nichts weiter als neue Fassungen alter Ideen sind, die (aus guten oder schlechten Gründen) in Vergessenheit geraten sind. Entscheidend für das Projekt ist nicht, ob die Ideen selbst neu sind, sondern ob sie auf neue und interessante Weise für die Erklärung von Bewusstseinserscheinungen ins Spiel gebracht werden können. Die Hoffnungen, die mit dem Projekt verbunden sind, sind im Grunde genommen in der Überzeugung verankert, dass es sich lohnt, das nachzuholen, was die Psychologie bisher versäumt hat – nämlich die Mittel genuin psychologischer Theoriebildung für die Erklärung von Subjektivität und Bewusstsein zum Einsatz zu bringen.
Was heißt das und wohin führt dieser Weg? Auch wenn es ge11wiss viele unterschiedliche Vorstellungen darüber gab und gibt, was als genuin psychologische Theoriebildung und Erklärung gelten kann, lassen sich doch zwei zentrale Merkmale angeben, über die breiter Konsens besteht: Funktionalismus und Repräsentationalismus. Funktionalismus charakterisiert, was zu erklären ist, nämlich psychische Funktionen wie zum Beispiel Wahrnehmungen, Erinnerungen, Handlungen oder sonstige kognitive oder volitive Leistungen. Repräsentationalismus charakterisiert dagegen, wie die Realisierung dieser Funktionen erklärt werden kann, nämlich durch (im weiten Sinne) repräsentationale Strukturen und Prozesse, die in informationsverarbeitenden Architekturen implementiert sind.
Bemerkenswert an dieser Kopplung von Funktionalismus und Repräsentationalismus ist die doppelte Richtung der ihr innewohnenden Erklärungskraft. Sie erlaubt es nämlich nicht nur, Eigenschaften psychischer Funktionen auf Operationen zugrunde liegender repräsentationaler Mechanismen zurückzuführen, sondern auch umgekehrt Eigenschaften dieser Mechanismen aus Lern- und Entwicklungsprozessen abzuleiten, die auf die Optimierung der Realisierung von Funktionen zielen. Im Grunde genommen macht das dialektische Zusammenspiel dieser gegenläufigen Erklärungen die besondere Pointe dieser Kopplung aus: in kurzfristiger Perspektive erklären repräsentationale Prozesse, wie die Realisierung von Funktionen zustande kommt, und zugleich erklären in langfristiger Perspektive funktionale Anforderungen, wie die Beschaffenheit der...
Erscheint lt. Verlag | 16.8.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Technik | |
Schlagworte | Hirnforschung • Nuerowissenschaft • Selbst • STW 2359 • STW2359 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2359 |
ISBN-10 | 3-518-77018-7 / 3518770187 |
ISBN-13 | 978-3-518-77018-4 / 9783518770184 |
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