Was ist die Welt und wenn ja, wie viele (eBook)
400 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12102-5 (ISBN)
Sean Carroll, geboren 1966, studierte Physik in Harvard und arbeitet in Pasadena als theoretischer Physiker zur Kosmologie, Gravitation und den Grundlagen der Quantenmechanik. Carroll hat mehrere Sachbuchbestseller veröffentlicht und ist als Vortragsredner und Podcaster sehr gefragt.
Sean Carroll, geboren 1966, studierte Physik in Harvard und arbeitet in Pasadena als theoretischer Physiker zur Kosmologie, Gravitation und den Grundlagen der Quantenmechanik. Carroll hat mehrere Sachbuchbestseller veröffentlicht und ist als Vortragsredner und Podcaster sehr gefragt.
Vorwort
Nur keine Angst!
Sie brauchen keinen Doktortitel in theoretischer Physik zu haben, um sich vor der Quantenmechanik zu fürchten. Aber weh tut sie nicht!
Seltsam – die Quantenmechanik ist die beste Theorie, die wir für die Welt des mikroskopisch Kleinen haben. Sie beschreibt, wie Atome und Elementarteilchen interagieren, und erlaubt, unglaublich präzise Voraussagen hinsichtlich der Ergebnisse von Experimenten zu treffen. Sie steht allerdings in dem Ruf, schwierig, geheimnisvoll, fast magisch zu sein – und ausgerechnet professionelle Physiker sollten sich mit einer solchen Theorie wohlfühlen? Sie führen ständig komplizierte Berechnungen von Quantenphänomenen durch und bauen riesige Anlagen zur Überprüfung der Voraussagen, die sich daraus ergeben. Das heißt aber doch, sie verstehen die Quantenmechanik – oder tun sie nur so?
Sie tun nicht nur so, aber sie sind sich selbst gegenüber auch nicht ganz ehrlich. Einerseits ist die Quantenmechanik das Herz und die Seele der modernen Physik. Astrophysiker, Teilchenphysiker, Atomphysiker, Laserphysiker – sie alle nutzen sie ständig, und sie nutzen sie sehr erfolgreich. Die Quantenmechanik ist keine esoterische Forschung. In der modernen Technologie ist sie allgegenwärtig: Halbleiter, Transistoren, Mikrochips, Laser und Computerspeicher würden ohne sie nicht funktionieren. Die Quantenmechanik ist außerdem notwendig, um die elementarsten Eigenschaften der Welt um uns herum zu verstehen. Die gesamte Chemie etwa ist angewandte Quantenmechanik. Auch um zu verstehen, wie die Sonne scheint oder warum Tische stabil sind, brauchen wir die Quantenmechanik.
Stellen Sie sich vor, Sie schließen die Augen und sehen nichts. Sie glauben vielleicht, das sei so, weil kein Licht in Ihre Augen fällt. Aber das ist nicht ganz richtig, denn jedes warme Objekt, also auch Ihr Körper, strahlt Infrarotlicht aus, das eine etwas größere Wellenlänge hat als sichtbares Licht. Wären unsere Augen für Infrarotlicht genauso reizempfindlich, wie sie es für sichtbares Licht sind, so wären wir schon von all dem Licht, das unsere Augäpfel abstrahlen, geblendet – auch bei geschlossenen Lidern. Aber glücklicherweise sind die Stäbchen und Zapfen, die in unseren Augen als Lichtrezeptoren fungieren, nur für sichtbares Licht empfindlich, nicht für Infrarot. Wie das? Die Antwort gibt letztlich die Quantenmechanik.
Die Quantenmechanik ist keine Magie. Sie ist die umfassendste und bestmögliche Erkenntnis der Wirklichkeit, die wir kennen. Ja, soweit wir heute wissen, ist die Quantenmechanik nicht nur eine Annäherung an die Wahrheit, sondern sie ist die Wahrheit. Das kann sich aufgrund von unerwarteten Versuchsergebnissen ändern, aber bisher haben wir keine Indizien dafür, dass wir mit solchen Überraschungen rechnen müssten. Die Entwicklung der Quantenmechanik in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, die mit den Namen Planck, Einstein, Bohr, Heisenberg, Schrödinger und Dirac verbunden ist, hat uns bis 1927 ein angemessenes Verständnis der Wirklichkeit hinterlassen, das sicherlich eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte ist. Wir haben allen Grund, stolz darauf zu sein.
Andererseits hatte Richard Feynman mit seinem denkwürdigen Diktum recht, er könne als sicher behaupten, dass niemand die Quantenmechanik verstünde. Wir nutzen sie, um neue Technologien zu entwickeln und die Ergebnisse von Experimenten vorauszusagen. Aber ehrliche Physiker geben zu, dass wir die Quantenmechanik nicht wirklich verstehen. Wir haben ein Rezept, das wir in bestimmten Situationen anwenden können und das verblüffend präzise, von den Daten glanzvoll bestätigte Voraussagen liefert. Aber wenn Sie wissen wollen, warum das so ist, dann müssen wir sagen: Wir wissen es nicht. Die Physiker neigen dazu, die Quantenmechanik nicht wie ein geliebtes Familienmitglied zu behandeln, für das sie sich persönlich interessieren, sondern wie einen geistlosen Roboter, auf den sie sich verlassen können, wenn sie bestimmte Aufgaben erledigen müssen.
Diese Einstellung der Fachleute schlägt sich in der Art und Weise nieder, wie die Quantenmechanik gegenüber der breiten Öffentlichkeit dargestellt wird. Wir gäben gerne ein vollständiges Bild der Natur, aber das können wir nicht, weil die Physiker sich nicht einig sind, was die Quantenmechanik sagt. Stattdessen betonen populärwissenschaftliche Darstellungen oft, dass die Quantenmechanik mysteriös sei, Rätsel aufgebe und nicht verstanden werden könne. Diese Botschaft widerspricht den Grundprinzipien der Naturwissenschaft, zu denen die Vorstellung gehört, dass die Welt prinzipiell verständlich sei. Wenn es um die Quantenmechanik geht, haben wir eine Art geistige Blockade, und um diese zu überwinden, brauchen wir ein wenig Quantentherapie.
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Wenn an Hochschulen Quantenmechanik gelehrt wird, dann wird den Studentinnen und Studenten eine Reihe von Gesetzen vermittelt. Einige davon sind Gesetze wie andere auch: Es gibt eine mathematische Beschreibung der Quantensysteme und eine Erklärung, wie sich diese Systeme zeitlich entwickeln. Daneben gibt es aber Gesetze, die in keiner anderen Theorie der Physik eine Entsprechung haben. Diese zusätzlichen Gesetze sagen uns, was geschieht, wenn wir ein Quantensystem beobachten, wobei sein Verhalten dann ganz anders ist, als wenn wir es nicht beobachten. Wie kann das sein?
Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, diese Differenz zu erklären. Entweder ist die Geschichte, die wir unseren Studenten erzählt haben, jämmerlich unvollständig, und wir müssen, wenn die Quantenmechanik eine vernünftige Theorie sein soll, verstehen, was eine »Beobachtung« oder »Messung« ist und warum sich das beobachtete oder gemessene Verhalten des Systems so sehr von seinem sonstigen unterscheidet. Oder die Quantenmechanik bricht vollkommen mit der Art und Weise, wie wir in der Physik bisher immer gedacht haben: Sie bricht mit einer Sichtweise, nach der die Welt objektiv und unabhängig davon existiert, wie wir sie wahrnehmen, und führt eine Sicht ein, nach welcher der Akt der Beobachtung irgendwie für das Wesen der Wirklichkeit entscheidend ist.
Was auch immer der Fall ist, die Lehrbücher sollten diesen Möglichkeiten nachgehen, und sie sollten zugeben, dass die Quantenmechanik zwar äußerst erfolgreich ist, dass wir sie aber keineswegs schon vollständig ausgearbeitet haben. Aber das tun sie nicht. Die meisten übergehen dieses Thema mit Schweigen und bleiben lieber in der Komfortzone des Physikers, der Gleichungen notiert und die Studenten auffordert, sie zu lösen.
Das ist beschämend. Aber es kommt noch schlimmer.
Angesichts dieser Situation könnte man meinen, die gesamte Physik hätte kein größeres Ziel, als die Quantenmechanik zu verstehen. Forschern in Quantenstiftungen flössen Millionen Dollars an Fördergeldern zu, und die wichtigsten Erkenntnisse würden mit Preisen und Prestige belohnt. Die hellsten Köpfe würden sich dem Problem widmen, die Universitäten würden sich um sie reißen und sie mit Superstar-Gehältern ködern, um sie von konkurrierenden Institutionen abzuwerben.
Leider ist dem nicht so. Nicht nur gilt das Bemühen, die Quantenmechanik zu verstehen, keineswegs als hochrangiges Spezialgebiet der modernen Physik, man betrachtet es auch in vielen Kreisen als wenig respektabel, wenn man es nicht gar verächtlich macht. In den meisten Fachbereichen für Physik arbeitet niemand an dem Problem, und diejenigen Forscher, die sich dafür entscheiden, werden mit Argwohn betrachtet. (Als ich vor kurzem einen Förderantrag schrieb, wurde mir empfohlen, mich auf die Darstellung meiner Arbeiten über die Schwerkraft und meine kosmologischen Forschungen zu konzentrieren, die als legitim angesehen werden; über mein Interesse an den Grundlagen der Quantenmechanik sollte ich lieber schweigen, da es Grund sein könnte, an meiner Seriosität zu zweifeln.) Es hat zwar in den letzten neunzig Jahren wichtige Fortschritte gegeben, aber in der Regel haben wir sie eigensinnigen Forschern zu verdanken, welche die Fragestellungen trotz der Einwände aller ihrer Kollegen für wichtig hielten, oder jungen Studenten, die es nicht besser wussten und sich später anderen Gebieten zuwandten.
In einer der Fabeln von Äsop erblickt ein Fuchs eine köstliche Weintraube. Er springt hoch, um sie zu erreichen, kommt aber nicht hoch genug. Verdrossen erklärt er, die Trauben seien wahrscheinlich sauer und eigentlich habe ihm sowieso nichts an ihnen gelegen....
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2021 |
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Übersetzer | Jens Hagestedt |
Zusatzinfo | mit vielen kleinen Abbildungen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Geschichte der Quantenmechanik • Kopenhagener Deutung • Moderne Physik • Quantenmechanik • Viele-Welten-Modell |
ISBN-10 | 3-608-12102-1 / 3608121021 |
ISBN-13 | 978-3-608-12102-5 / 9783608121025 |
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Größe: 6,8 MB
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