Pferdgestützte systemische Pädagogik (eBook)
196 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61422-6 (ISBN)
Dipl.-Sozialpäd. Imke Urmoneit ist Systemische Familientherapeutin, Supervisorin, Organisationsberaterin und Reit- und Voltigierpädagogin in eigener Praxis für systemische Beratung und Supervision in Lörrach. Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter <a class="blue" target="_blank" href="http://www.systemische-praxis-loerrach.de">www.systemische-praxis-loerrach.de.
2 Systemische Grundhaltungen
Allen Konzepten der Pädagogik und Beratung liegt das Ziel zugrunde, Entwicklungsprozesse von Menschen zu unterstützen. Die gemeinsame Basis aller Konzepte bilden ein werteorientiertes Menschenbild, das Wissen über den Ablauf der menschlichen Entwicklung, das Erkennen von Abweichungen von „normalen“ Entwicklungsschritten und die bewusste Gestaltung fachlich begründeter Interventionen. Viele Konzepte der Beratung und Pädagogik sind mit therapeutischen Konzepten – insbesondere der Psychoanalyse (psychoanalytische Pädagogik), der Verhaltenstherapie (verhaltensmodifikatorische pädagogische Konzepte) oder der systemischen Therapie – eng verbunden.
Die systemische Pädagogik und Beratung zeichnet sich dadurch aus, dass dem Klienten ein hohes Maß an Eigenverantwortung für seinen Entwicklungsprozess zugesprochen wird. Ihm wird die Lösungskompetenz zugetraut und auch zugemutet. Die Pädagogin ist sich bewusst, dass eine direkte Einflussnahme nicht möglich ist und sie Konzepte einer „richtigen“ Entwicklung nicht anerziehen oder antrainieren kann. Damit liegt der Fokus klar auf einer individuell angepassten Begleitung, die sich am Auftrag und der Lebensrealität des Klienten sowie an der Reflexion der Auswirkungen des gezeigten Verhaltens orientiert.
Die systemische Arbeitsweise basiert stark auf einer inneren Haltung und Prozessorientierung und sehr viel weniger auf standardisierten Vorgehensweisen oder dem isolierten Einüben von Fähigkeiten bzw. dem Minimieren von unangemessenen Verhaltensweisen. Der Spielraum der Einflussnahme liegt für die Pädagogin in der Gestaltung einer angemessenen Rahmung der Zusammenarbeit. Sie trägt, wie in den nächsten Kapiteln aufgezeigt wird, die Verantwortung für die Steuerung des Prozesses, sodass sich für den Klienten Entwicklungsoptionen und Herausforderungen ergeben. Anders als in analytisch ausgerichteten Konzepten liegt der Fokus der systemischen Arbeitsweise nicht auf der Ergründung der Ursachen eines Problems, sondern auf einer klaren Ausrichtung an den Ressourcen des Klienten und der Suche nach einer Lösung.
Der Pädagogin ist bewusst, dass sich das Sogewordensein des Klienten immer auf dem Hintergrund der Dynamik seines sozialen Bezugssystems abspielt. Somit muss bei der Erarbeitung von Veränderungsschritten mit dem Klienten immer auch die Veränderungsakzeptanz des Bezugssystems in den Blick genommen werden. Das Ziel in der systemischen Pädagogik liegt nicht in erster Linie darin, Erziehungsaufgaben zu übernehmen oder Defizite der Eltern zu kompensieren, sondern darin, das Familiensystem zu unterstützen, diese Aufgaben immer besser aus eigener Kraft zu bewältigen. Dabei bildet die Handlungsorientierung, d. h. die konkrete Umsetzung von Ideen in Handlung und die anschließende Reflexion der gemachten Erfahrungen, einen wesentlichen Baustein.
Eines der zentralen Elemente systemischer Konzepte ist das zugrundeliegende Menschenbild. Kröger definiert in seinem Konzept der sachorientierten Partnerschaft das Ziel von Erziehung als
„Hinführung des Kindes zu einer emotional ausgeglichenen Persönlichkeit, die in sachgerechter Selbsteinschätzung mit einer sozial angemessenen, sicheren Selbststeuerung ihr Handeln verantwortungsvoll gestaltet“ (2005, 38).
Antonius Kröger war es wichtig, Kindern die Aufgabe der Selbststeuerung nur dann abzunehmen, wenn sie selbst aufgrund ihres Entwicklungsstandes nicht dazu in der Lage waren. Diese Grundhaltung knüpft an das Menschenbild und die Vorstellung von übergeordneten Entwicklungszielen in systemischen Konzepten an (Satir 2018). Übergeordnete Entwicklungsziele in der pferdegestützten systemischen Pädagogik sind:
● sich selbst wertschätzen und achten
● Emotionen und Gedanken angemessen ausdrücken
● mit den eigenen Kompetenzen und Grenzen vertraut sein
● sich auf sich selbst und auf andere einstimmen
● den Aufmerksamkeitsfokus mit anderen teilen
● Situationen des eigenen Verhaltens reflektieren
● Selbststeuerung und Verantwortung übernehmen
● sich wirksam um eigene Ziele bemühen
● sich Unterstützung organisieren
● Risiken auf sich nehmen und Veränderung gestalten
● Unterschiede klar benennen
● Rollen ohne Machtmissbrauch übernehmen
● Konsistenzgefühl (Gefühl der Stimmigkeit) aufbauen
Im Konzept der bezogenen Individuation formuliert Stierlin (2003) die Entwicklung einer Balance zwischen Sorge für sich (Autonomie) und Sorge für das Zugehörigkeitssystem (Bezogenheit) auf der Grundlage der Selbstregulation als zentrales Ziel. Das Erreichen dieser Balance erfolgt in einem offenen, demokratischen Dialog über die Beziehung zu sich selbst und zum anderen.
„Sie müssen sich verständlich ausdrücken, müssen mit dem Gegenüber einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus teilen und sich dabei so auf seine Wellenlänge – das heißt auf seine Intentionen, auf seine Kommunikationsbedürfnisse und -möglichkeiten – einstimmen, dass darin auch die Emotionen zu einem ihnen angemessenen Ausdruck und einer zugleich verständlichen Sprache finden können. Und um Konflikte erfolgreich angehen und bewältigen zu können, müssen die Dialogpartner Unterschiede, die hinsichtlich des behandelten Anliegens einen Unterschied machen, so klar wie möglich benennen – ohne sich doch in einem unversöhnlichen Entweder-Oder von Positionen und Ansprüchen festzubeißen und sich in einen eskalierenden Kampf um Wahrheit und Deutungsmacht zu verstricken“ (Stierlin 2003, 76).
Mit Klienten wird in der pferdegestützten systemischen Pädagogik daran gearbeitet, welche konkreten Fähigkeiten sie noch entwickeln müssen, damit sie ihrem Ziel und in Abstimmung mit ihrem sozialen Bezugssystem näher kommen. Dafür müssen sie die eigene Kraft kennen und darauf vertrauen, die Schwierigkeiten aus sich selbst heraus zu bewältigen (Aarts 2011).
Autopoiese, Autonomie und Zirkularität
Die Theorie der Autopoiese besagt, dass lebende Systeme dem Prozess der Selbstorganisation unterliegen.
„Zentral ist im Autopoiesekonzept der Begriff der Autonomie. Lebende Systeme erzeugen, regulieren und erhalten sich selbst. Es gibt keine Möglichkeit, von außen zielgerichtet auf die Prozesse zuzgreifen“ (Schweitzer et al. 2016, 113).
Durch die Verknüpfung aktueller Reize mit Erfahrungen generiert der Organismus neue Informationen in autonomer Weise. Das Ergebnis der Verknüpfung wird ihm nicht von außen zugeführt. Lädt die Pädagogin ein Kind erstmals ein, auf das Pferd zu steigen, wird das Kind seine Beobachtungen mit seinen Erfahrungen und Fähigkeiten verknüpfen. So erarbeitet es sich eine in sich selbst erzeugte Information darüber, ob es ihm sinnvoll erscheint, der Einladung nachzukommen. Seine Entscheidung richtet das Kind an den Grundbedürfnissen und insbesondere dem Wunsch nach Dazugehörigkeit (Bezogenheit) und Individuation (Autonomie) aus. Diese Prozesse laufen nicht linear im Sinne von Ursache und voraussagbarer Wirkung ab, sondern zirkulär im Sinne von Wechselwirkungsprozessen. Eine Ursache führt zu einer nicht vorhersagbaren Wirkung und die Wirkung wirkt wiederum auf die Ursache in nicht vorhersagbarer Weise zurück. Dieser Vorgang gestaltet sich nicht kreisförmig, sondern an allen Stellen als ein rückbezüglicher Prozess vieler Verknüpfungspunkte.
Jedes Verhalten ist Ausdruck für ein Bedürfnis, Zeichen einer Ressource und ein Lösungsversuch. Ohne ausreichende Achtung vor dem Lebensweg und der geleisteten Selbstorganisation wird eine motivierte Mitarbeit nicht erfolgen. Nicht selten wird eine gewählte Lösung im Laufe der Zeit zum Problem. Jedoch ist auch „eine Lösung, die zum Problem wird“ ein kompetenter, in der Vergangenheit als sinnvoll erlebter Lösungsversuch.
Mit dieser Sichtweise ist nicht die Idee verbunden, jedes Verhalten gut zu heißen. Weiterentwicklung basiert nicht allein auf Achtung, sondern es bedarf auch der Grenzsetzung und des wertschätzenden Hinterfragens der Auswirkungen der gewählten Lösung. Die Pädagogin lädt den Klienten durch ihre Intervention zielgerichtet ein, eine andere Perspektive einzunehmen oder eine neue Verhaltensweise zu erproben. Darüber, ob die Einladung angenommen wird, entscheidet der Klient in autonomer Weise.
„Ein Mensch vermag einen anderen nicht einen Deut zu ändern. Das muss der andere selber tun. Ein Partner kann ihm wohl behilflich sein, aber zu ändern vermag er den anderen nicht“ (Kröger 2005, 37).
Die Idee, Ergebnisse von Interventionen oder Entwicklungsprozessen vorausplanen zu können, erweist sich als Illusion. Vorhersagbar sind Veränderungen von Lebewesen nur, wenn Macht ausgeübt und Selbstbestimmung unterbunden wird. In der Regel steigen Lebewesen dann durch äußere Anpassungsleistungen wie Flucht, Erstarren oder Kampf aus dem Kontakt aus. Dies fördert die Entwicklung im Sinne einer sich selbst regulierenden, bezogenen Individuation nicht. Kröger führt dazu aus:
„Strafe hält nicht von Unarten ab, sie macht den Betroffenen nur vorsichtiger bei der Ausübung seines Vorgehens, geschickter im Verwischen der Spuren, gewandter, dem Ertapptwerden zu entgehen. Wenn ein Kind bestraft wird, beschließt es, vorsichtiger, keineswegs aber ehrlicher und verantwortungsbewusster zu sein“ (2005, 44).
Wir können nie ganz in die Welt des anderen eintauchen, sondern uns dieser immer...
Erscheint lt. Verlag | 26.10.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Technik | |
Schlagworte | Fallbeispiele • Grundlagen • Kinder • Neurobiologie • Pädagogik • Pferd • systemisch |
ISBN-10 | 3-497-61422-X / 349761422X |
ISBN-13 | 978-3-497-61422-6 / 9783497614226 |
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