Elefanten (eBook)
320 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27008-4 (ISBN)
Was ist ein Elefant? Ein Säugetier, ein religiöses Symbol, eine Jagdbeute und Quelle von Elfenbein? Die Lieblingsfigur aus einem Kinderbuch, das Aushängeschild für modernen Naturschutz, eine Touristenfalle oder ein Statussymbol? Zu bestimmten Zeiten ist er all das auf einmal gewesen, und die Vielfalt der Bilder zeugt von der komplexen Geschichte, die uns mit den grauen Riesen verbindet. Klug, voll Witz und Selbstironie verknüpft die Verhaltensbiologin Hannah Mumby ihre ausgezeichnete Forschung mit persönlichen Erlebnissen in Kenia, Südafrika, Nepal und Myanmar. Ihr Buch eröffnet einen einzigartigen Einblick in das Leben und Sterben der Elefanten - und in ihre oft verborgene Welt.
Hannah Mumby, geboren 1986, ist Verhaltensbiologin. Nach Stationen in Cambridge, am Wissenschaftskolleg in Berlin und als Fulbright Scholar in Colorado hat sie seit 2019 eine Professur an der Universität von Hongkong inne, wo sie das Applied Behavioural Ecology and Conservation Laboratory leitet. 2020 wurde sie für ihre wissenschaftliche Arbeit mit dem ASAB Christopher Barnard Award for Outstanding Contributions by a New Investigator ausgezeichnet. Elefanten ist ihr Sachbuch-Debüt.
Vorwort
Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel blicken? Ein fühlendes Wesen? Jemanden mit einer Familie und einem größeren sozialen Netzwerk, einer Geschichte und einem Gedächtnis? Ein Individuum mit unzähligen Identitäten und komplexen Beziehungen, die es im Laufe seines möglicherweise (hoffentlich) langen Lebens hegt und pflegt? Ein Wesen, das in der Lage ist, Gefühle auszudrücken, Informationen weiterzugeben, andere Individuen sowie die Angehörigen fremder Arten wiederzuerkennen und mit ihnen zu kommunizieren? Jemanden, der sich bewusst ist, dass er gerade ein Abbild seiner selbst im Spiegel betrachtet?
Wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich einen Elefanten. Das hört sich unwahrscheinlich an? Wagen wir einen erneuten Blick. Okay, gut, ich sehe eine Brille (beziehungsweise ziemlich verschwommen, wenn ich sie nicht aufhabe), ich sehe blonde Haare und definitiv mehr Pickel, als man als 32-Jährige haben sollte. Was ich nicht sehe, sind Stoßzähne und graue, runzelige Haut (jedenfalls nicht in dem Ausmaß, dass man mich ernsthaft zu den Dickhäutern zählen könnte). Einen Rüssel habe ich auch nicht, obwohl ich mir aus praktischen Gründen manchmal sehnlichst einen wünsche. Aber wir wissen alle, dass man beim Blick in den Spiegel nicht wirklich sich selbst betrachtet, sondern seine eigene Wahrnehmung einer Spiegelung.
Der Grund, warum ich mich selbst als Elefant betrachte, liegt darin, dass ich in vielerlei Hinsicht gar nicht so anders bin als ein Elefant, jedenfalls wenn man von Äußerlichkeiten absieht. Sämtliche Fragen, die ich oben gestellt habe, würde ein Elefant mit »Ja« beantworten. Im Grunde muss man ihn noch nicht einmal fragen, man muss einfach nur zusehen, wie er sein Leben lebt. Mit diesem Buch möchte ich Sie bitten, in den Spiegel zu blicken und darüber nachzudenken, wie viel Sie mit einem Elefanten gemeinsam haben. Ich werde Ihnen dazu von meinen Erlebnissen mit Elefanten berichten und mich dabei lose an den wichtigsten Meilensteinen des Elefanten-(und Menschen-)Lebens orientieren. Ich werde das Verhalten der Elefanten erörtern, ihre körperliche Entwicklung und die Begegnungen, die sie im Laufe ihres Lebens mit Menschen haben. Mein Ziel ist es letztlich, dass Sie Elefanten neu kennenlernen, nicht nur als die majestätischen, unglaublichen Tiere, die sie sind, sondern auch als klar unterscheidbare Individuen, als Freunde und sogar als Familienmitglieder, zu denen sie für diejenigen Menschen werden, die in ihrer unmittelbaren Nähe leben. All dies soll weder auf Kosten der Wissenschaft noch des Staunens gehen, sondern die Voraussetzung dafür schaffen, dass Sie Ihre Haltung gegenüber Tieren insgesamt und vielleicht auch die Wichtigkeit, die der Naturschutz für Sie hat, überdenken oder dass Sie einfach nur neu definieren, wen Sie zu Ihrem Freundeskreis zählen. Mein Buch soll außerdem zeigen, dass entgegen unserer Annahme oft gar nicht so klar ist, wer wir eigentlich sind.
Um es ganz deutlich zu sagen: Dies ist nicht das Buch, das ich eigentlich schreiben wollte. In der frühen Phase des Projekts, als ich gerade Gastdozentin an der Colorado State University war, saß ich dort eines Tages auf einer ovalen Rasenfläche. Die helle Sonne spiegelte sich im Bildschirm meines Laptops, während ich tippte. Es war ein niederschmetternd sonniger Frühherbsttag, für mich so ungewohnt, dass ich davon schlechte Laune bekam und erst einmal damit klarkommen musste, dass eine Jahreszeit, die doch von Vergänglichkeit geprägt ist, in so üppiger Schönheit erstrahlte. Der Herbst in Cambridge (dem in England, das ich nur zu gut kannte) war irgendwie weniger widersprüchlich und in seiner Düsternis sehr viel tröstlicher. Ein Student kam auf mich zu und fragte mich, was ich da machte, und ich sagte ihm, dass ich gerade versuchte, ein »populärwissenschaftliches Buch« über Elefanten zu schreiben. Er entgegnete, dass es vielleicht ein bisschen anmaßend sei, davon auszugehen, dass das Buch »populär« werde. Ich beherzigte den Rat und beschloss also, dass ich einfach versuchen würde, ein Buch über Elefanten zu schreiben. Auf diese Weise wollte ich meine Ideen einem größeren Publikum vermitteln, als es bisher möglich gewesen war. Außerdem begeisterte mich die Aussicht, das rein akademische Schreiben hinter mir zu lassen. Man kann über Elefanten schreiben oder darüber, wie es sich anfühlt, ein Elefant zu sein. Ich bin mir ziemlich sicher, was mehr Spaß macht, und falls Sie es nicht erraten können: Ich stoße einen Trompetenlaut aus, während ich dies schreibe.
Da saß ich also: Colorado, im Herbst (der in meinem britischen Kopf »autumn« hieß, und nicht »fall«), und destillierte meine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu etwas, das einem annehmbaren Scotch ähneln würde. Was sollte da groß schiefgehen? Doch was ich dann schrieb, fühlte sich seltsam falsch an — eine chronologische, konventionelle Aufzählung von »Wissenswertem über Elefanten«. Ich sprach mit verschiedenen Leuten über das Problem, und alle sagten das Gleiche: Du selbst bist in dem Text nicht zu erkennen, man sieht die Wissenschaft nicht durch deine Augen. Ich wollte die Wissenschaft, aber nicht mich im Text haben. Wie so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehme ich mich gern aus der Gleichung heraus, weil sie dadurch einfacher wird. Man bringt uns bei, möglichst reduktiv zu sein, Ockhams Rasiermesser, sooft es geht, zum Einsatz zu bringen. In vielen Fällen führt das zu eleganten und vernünftigen Lösungen. Aber in diesem Fall war ich wohl eher so etwas wie mein eigener »Sweeney Todd« gewesen und hatte den ganzen Fußboden vollgeblutet. Aus den Resten war nichts Brauchbares zustande zu bringen. Es war also entschieden: Ich musste auch selbst in dem Buch auftauchen.
Über mich selbst zu schreiben, finde ich alles andere als interessant; es kommt mir meist peinlich und selbstverliebt vor. Ich bin sehr streng mit mir, auch beim Schreiben. Allerdings musste ich einsehen, dass mein persönlicher Werdegang spätestens dann relevant wird, wenn es darum geht, die zeitlichen Sprünge zu überbrücken, die in dem Buch gemacht werden. Zum ersten Mal begann ich mich während meines Studiums, zwischen 2004 und 2007, für das Leben von Tieren zu interessieren. Mit Elefanten arbeite ich jetzt, seit ich im Jahr 2010 ein Praktikum in Kenia gemacht habe. Auch während meiner Doktorarbeit, für die ich in Myanmar forschte, und auf meiner ersten Postdocstelle blieb ich dem Thema treu. Ich hatte das Glück, eine Reihe von Forschungsstipendien zu bekommen, mit deren Hilfe ich von 2015 an nach Afrika zurückkehren konnte, wo ich mir ein Team aufbaute und erfreulicherweise sogar einige meiner ehemaligen Studierenden einstellen konnte. Im Jahr 2019 bekam ich eine Assistenzprofessur und zog wieder zurück nach Asien. Nach einem ganzen Jahrzehnt mit Elefanten und geschätzten fünfzehn Jahren im Wissenschaftsbetrieb absorbiert mich das Nachdenken über Tiere und darüber, wie wir Menschen mit ihnen umgehen, inzwischen vollständig. Es ist mein Beruf als Wissenschaftlerin, aber auch meine Berufung als Mensch. Am meisten denke ich über meine Lieblingstiere, über Elefanten, nach — und über jene Tiere, zu denen mein Verhältnis am kompliziertesten ist, über Menschen. Es beschäftigt mich, wie Elefanten sich untereinander verhalten und wie sie mit ihrer (unbelebten und belebten) Umwelt umgehen, unter anderem mit uns Menschen. Dabei geht es jedoch nicht nur ums Nachdenken. Ich beobachte die Elefanten auch und frage Leute, die sich mit ihnen auskennen. Ich versuche herauszufinden, was Elefanten tun und warum sie es tun, und manchmal sitze ich stundenlang in einem Unterstand und hoffe, dass noch irgendetwas anderes passiert, als dass meine Beine einschlafen. All das ist in einer solchen Intensität Teil meines Lebens, dass ich manchmal vollkommen das Gefühl dafür verliere, dass dampfende Elefantendungkugeln vielleicht nicht das richtige Thema für ein Gespräch beim Abendessen sind. Ich muss gestehen, dass diese Kugeln für mich etwas absolut Wundervolles sind; aber es ist wohl doch besser, anderen Menschen damit frühestens bei einem Drink nach dem Abendessen zu kommen — vor allem, wenn etwas Kugelförmiges oder Braunes oder Klebriges auf der Speisekarte steht.
Ich glaube eigentlich nicht, dass man selbst besonders gut beurteilen kann, wer man ist, weshalb ich am liebsten den einen oder anderen Elefanten bitten...
Erscheint lt. Verlag | 19.4.2021 |
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Übersetzer | Heide Lutosch |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Elephants. Birth, death and family in the lives of the giants |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik |
Technik | |
Schlagworte | Afrika • Artenschutz • Asien • Bangladesch • Cambridge • Elefanten • Erzählendes Sachbuch • erzählendes Tierbuch • Familie • Feldforschung • Frühstück mit Elefanten • graue Riesen • Indien • Jane Goodall • Josef Reichholf • Leben • Leben der Elefanten • Myanmar • Nature writing • Naturschutz • Naturwissenschaft • Nepal • Ökologie • Tierschutz • Umweltschutz |
ISBN-10 | 3-446-27008-6 / 3446270086 |
ISBN-13 | 978-3-446-27008-4 / 9783446270084 |
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