Rendezvous mit einem Oktopus (eBook)
336 Seiten
mareverlag
978-3-86648-341-5 (ISBN)
Sy Montgomery, 1958 geboren, ist eine vielfach ausgezeichnete amerikanische Naturforscherin, Drehbuchautorin und Verfasserin von über zwanzig Sachbüchern. 'Rendezvous mit einem Oktopus' war ein New York Times-Bestseller und unter den Finalisten für den National Book Award 2015. Montgomery lebt in New Hampshire.
Sy Montgomery, 1958 geboren, ist eine vielfach ausgezeichnete amerikanische Naturforscherin, Drehbuchautorin und Verfasserin von über zwanzig Sachbüchern. "Rendezvous mit einem Oktopus" war ein New York Times-Bestseller und unter den Finalisten für den National Book Award 2015. Montgomery lebt in New Hampshire.
Erstes Kapitel
ATHENA
Auf der Suche nach dem Verstand der Weichtiere
An einem dieser seltenen warmen Tage Mitte März, wenn der Schnee in New Hampshire zu schmelzen beginnt und in Matsch übergeht, fuhr ich nach Boston, wo die Menschen am Hafen entlangspazierten oder auf Bänken saßen und ihr Waffeleis schleckten. Ich aber tauschte die wohltuende Sonne gegen die feuchte, schummrige Atmosphäre der Auffangstation des New England Aquarium, denn dort war ich mit einem Pazifischen Riesenkraken verabredet.
Ich wusste nicht viel über den Oktopus im Allgemeinen – nicht einmal, dass der wissenschaftlich korrekte Plural von Oktopus nicht Octopi ist, wie ich immer angenommen hatte (die lateinische Pluralendung – i – lässt sich nicht auf Wörter anwenden, die aus dem Griechischen stammen). Doch das Wenige, das ich wusste, machte mich neugierig. Der Oktopus ist ein Tier, das über Gift verfügt wie eine Schlange, über einen Schnabel wie ein Papagei und über Tinte wie ein altmodischer Füllfederhalter. Er kann so viel wiegen wie ein Mensch, sich bis zur Größe eines Autos ausstrecken und dennoch seinen schlabberigen, knochenlosen Körper durch ein Loch mit dem Durchmesser einer Orange zwängen. Er kann Farbe und Form verändern. Er kann mit der Haut schmecken. Am meisten faszinierte mich jedoch, dass ich gelesen hatte, Kraken seien intelligent. Das bestätigten die dürftigen Erfahrungen, die ich schon gemacht hatte: Wie so viele Menschen, die Kraken in öffentlichen Aquarien besuchen, hatte ich oft das Gefühl, dass der Oktopus, den ich beobachtete, mich seinerseits ebenfalls beobachtete, und zwar mit genauso großem Interesse wie ich ihn.
Wie war das möglich? Es findet sich ja kaum ein Tier, das dem Menschen unähnlicher ist als ein Oktopus. Sein Körper ist nicht so aufgebaut wie unserer: Kopf, Rumpf und Glieder. Bei den Kraken ist die Reihenfolge anders: erst der Rumpf, dann der Kopf und die Glieder. Der Mund sitzt also in den Achselhöhlen – oder aber, wenn man die Arme lieber mit den unteren Extremitäten des Menschen vergleichen will, zwischen den Beinen. Sie atmen Wasser. Ihre Glieder sind übersät mit geschickt und fest zupackenden Saugnäpfen – eine Konstruktion, die bei Säugetieren nicht zu finden ist.
Nicht nur zählen die Oktopoden zu jener Gruppe von Lebewesen, die sich vornehmlich durch das Fehlen einer Wirbelsäule von den Lebewesen mit Wirbelsäule unterscheiden, als da sind Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fische; innerhalb der Wirbellosen werden sie zu den Mollusken gezählt wie Schnecken, Nacktschnecken und Muscheln – Tiere, die nicht unbedingt für ihren Intellekt bekannt sind. Muscheln besitzen nicht einmal ein Gehirn.
Vor über 500 Millionen Jahren haben sich die Abstammungslinie der Oktopoden und die des Menschen voneinander getrennt. Würde es möglich sein, fragte ich mich, zu einem intelligenten Wesen auf der anderen Seite dieser Scheidelinie Kontakt aufzunehmen?
Oktopoden verkörpern das große Mysterium dieses Anderen. Sie wirken völlig fremdartig, und doch umfasst ihre Lebenswelt, das Meer, einen weit größeren Teil unseres Planeten als das Land (siebzig Prozent der gesamten Erdoberfläche und über neunzig Prozent des bewohnbaren Raumes). Die meisten Tierarten leben im Meer, und von ihnen zählen die meisten zu den Wirbellosen.
Ich wollte einen Oktopus kennenlernen. Ich wollte so eine alternative Lebenswirklichkeit berühren. Ich wollte eine andere Art von Bewusstsein erkunden, wenn es das überhaupt gab. Wie fühlte es sich an, ein Oktopus zu sein? Lässt es sich vergleichen mit dem Gefühl, ein Mensch zu sein? Und lässt sich das überhaupt herausfinden?
So kam es, dass ich mir wie der privilegierte Besucher einer anderen Welt vorkam, als der Pressesprecher des Aquariums mich in der Halle begrüßte und anbot, mich mit Athena, einem Tintenfischweibchen, bekannt zu machen. Doch was ich an diesem Tag wirklich zu entdecken begann, war mein eigener lieblich blauer Planet, eine Welt, so atemberaubend fremdartig, so erstaunlich und wundersam – ein Ort, an dem ich nach einem halben Jahrhundert meines Erdendaseins, und eines Großteils davon als Naturforscherin, nun endlich vollkommen heimisch werden sollte.
Athenas Tierpfleger ist nicht da. Mir wird ganz bang ums Herz: Nicht jeder darf das Oktopus-Becken öffnen, und das aus gutem Grund. Ein Pazifischer Riesenkrake, die größte aller etwa 250 Oktopus-Arten, kann einen Menschen leicht überwältigen. Bei einem großen Männchen kann jeder einzelne Saugnapf mit einem Durchmesser von 7,5 Zentimetern fünfzehn Kilo anheben, und ein Pazifischer Riesenkrake besitzt 1600 davon. Der Biss eines Oktopus kann ein neurotoxisches Gift injizieren sowie Speichel hinterlassen, der die Fähigkeit hat, Fleisch zu zersetzen. Im schlimmsten Fall kann ein Oktopus die günstige Gelegenheit nutzen und aus seinem geöffneten Becken flüchten, und ein entflohener Oktopus ist ein großes Problem, sowohl für ihn selber als auch für das Aquarium.
Zum Glück wird mir ein anderer Aquarianer, Scott Dowd, zur Seite stehen. Scott ist ein kräftiger Bursche, Anfang vierzig, mit einem silbrigen Bart und blitzenden blauen Augen. Er ist der Leiter der Süßwasserabteilung, die hinter der Kaltwasserabteilung liegt, in der Athena lebt. Scott hat das Aquarium am 20. Juni 1969, dem Eröffnungstag, als Baby und in Windeln zum ersten Mal besucht und es seither praktisch nicht mehr verlassen. Er kennt fast jedes Tier in der gesamten Anlage persönlich.
Athena ist etwa zweieinhalb Jahre alt und wiegt ungefähr zwanzig Kilo, erzählt Scott, als er den schweren Deckel von ihrem Bassin abnimmt. Ich steige die drei kurzen Stufen einer kleinen Trittleiter hinauf und beuge mich vor, um von oben in das Becken hineinzusehen. Sie ist ungefähr einen Meter fünfzig lang. Ihr Kopf – und damit meine ich sowohl den tatsächlichen Kopf als auch den Mantel, weil »wir« Säugetiere dort automatisch den Kopf eines jeden Lebewesens vermuten – hat die Größe einer kleinen Wassermelone. »Oder zumindest einer Honigmelone«, sagt Scott. »Als sie zu uns kam, war ihr Kopf gerade einmal so groß wie eine Grapefruit.« Der Pazifische Riesenkrake ist eines der am schnellsten wachsenden Tiere der Welt. Er schlüpft aus einem Ei von der Größe eines Reiskorns und kann binnen drei Jahren größer und schwerer werden als ein Mensch.
Als Scott mit dem Öffnen des Deckels fertig war, hatte sich Athena schon aus der hinteren Ecke ihres 2000-Liter-Tanks hervorgewagt. Während sie sich mit zwei Armen in der Ecke festklammert, entrollt sie die anderen und streckt sie, am ganzen Körper rot vor Aufregung, bis an die Oberfläche aus. Die Saugnäpfe zeigen nach oben wie die Handfläche eines Menschen bei der Begrüßung.
»Darf ich sie anfassen?«, frage ich Scott.
»Ja klar«, sagt er. Ich nehme Uhr und Schal ab, krempele die Ärmel hoch und tauche beide Arme bis zum Ellenbogen in das schockierende acht Grad kalte Wasser.
Unter Dreh- und Wellenbewegungen sprudeln Athenas gallertartige Arme aus dem Wasser und greifen nach meinen. Im Nu sind meine beiden Hände und Unterarme umschlungen von Dutzenden weicher, mich abtastender Saugnäpfe.
Nicht jeder würde das mögen. Der Naturkundler und Forscher William Beebe empfand die Berührung eines Oktopus als widerlich. »Ich muss mich jedes Mal überwinden, ehe ich meine Hände dazu bekomme, ihre Pflicht zu tun und einen Fangarm zu ergreifen«, gab er zu. Victor Hugo malte sich ein solches Erlebnis als absoluten Horror aus, der in das sichere Verderben führe. »Dieser Albdruck ist über euch gekommen. Der Tiger kann euch lediglich verschlingen. Der Polyp aber, o Graus!, atmet euch ein. Er zieht euch an sich und in sich hinein, und gefesselt und festgeleimt, fühlt ihr euch langsam in diesen schrecklichen Sack ausgeleert, der ein Monstrum ist«, schrieb der Dichter in seinem Roman Die Arbeiter des Meeres. »Eure Muskeln schwellen an, die Fasern krümmen sich, die Haut platzt unter dem widerlichen Druck, das Blut spritzt auf und mischt sich in abscheulicher Weise mit dem Körpersaft der Molluske. Das Tier stülpt sich mit tausend gemeinen Mündern über euch; die Hydra verleibt sich den Menschen ein; der Mensch vermischt sich mit der Hydra. Beide bilden ein einziges Wesen.« Die Angst vor dem Kraken ist tief in der menschlichen Psyche verankert. »Kein anderes Tier ist beim Töten eines Menschen im Wasser grausamer«, schrieb Plinius der Ältere etwa 79 n. Chr. in seiner Naturalis historia, »denn er kämpft mit ihm, umschlingt ihn, verschlingt ihn mit den Saugnäpfen und reißt ihn in Stücke.«
Athenas Saugen ist sanft, aber nachdrücklich. Es fühlt sich an wie der Kuss eines Unbekannten. Mit Schwung schießt ihr melonengroßer Kopf an die Oberfläche, und ihr linkes Auge – Kraken haben ein...
Erscheint lt. Verlag | 1.12.2017 |
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Übersetzer | Heide Sommer |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik |
Technik | |
Schlagworte | Bewusstsein • Donna Leon • Intelligenz • Meeresbiologie • Naturforschung • OCTOPUS • Oktopus • Peter Wohlleben • Seelenleben • Sy Montgomery • Tentakel • Tierintelligenz |
ISBN-10 | 3-86648-341-4 / 3866483414 |
ISBN-13 | 978-3-86648-341-5 / 9783866483415 |
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