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Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit (eBook)

Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
122 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560407-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit -  Seyla Benhabib
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Die globale Integration unserer Welt ist nicht in Abrede zu stellen. Doch die Kehrseite dieser Globalisierung ist ebenso unübersehbar: Im Namen vielfältiger kultureller Unterschiede - ethnischer, nationaler, sprachlicher, religiöser - formieren sich Gegenbewegungen von politischer Wirkmächtigkeit. Um ein genaueres Verständnis dieser neu sich artikulierenden Formen kollektiver Identität, dieser von Identität/Differenz bestimmten neuen politischen Bewegungen muß es einer Gesellschaftstheorie gehen, die angesichts der Dynamik aktueller sozialer und politischer Prozesse adäquate Formen politischer Partizipation entwerfen will. Bei der Frage, wie demokratische Identitäten im Zeitalter der Globalisierung gestaltet sein müßten, gilt besondere Aufmerksamkeit dem Problem der Staatsbürgerschaft und Einbürgerungsrechte, das abschließend in den Blick genommen wird. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Seyla Benhabib, geboren 1950 in der Türkei, ist Professorin für Politikwissenschaft und Philosophie an der Yale University.

Seyla Benhabib, geboren 1950 in der Türkei, ist Professorin für Politikwissenschaft und Philosophie an der Yale University.

I Strange multiplicity –
Die Politik der Identität und Differenz im globalen Zusammenhang


In seinem bemerkenswerten Buch Strange Multiplicity. Constitutionalism in an Age of Diversity versucht der kanadische Philosoph James Tully, die Tradition des europäischen Konstitutionalismus im Licht zeitgenössischer Entwicklungen, die manchmal als »Politik der Anerkennung«, manchmal als »Politik der Identität/Differenz« bezeichnet werden, neu zu bewerten. Tully stellt die Frage: »Kann eine moderne Verfassung kulturelle Verschiedenheit anerkennen und berücksichtigen?« Das ist »eine der schwierigsten und dringendsten Fragen des politischen Zeitalters, in das wir mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts eintreten«.[9]

James Tully gehört zu einer Reihe zeitgenössischer politischer Philosophen, die gemeinsam mit Charles Taylor und Will Kymlicka von der separatistischen Bewegung der Québécois inspiriert und provoziert wurden, die politische Kultur des demokratischen Liberalismus zu überdenken und, um mit Kymlicka zu sprechen, eine »Theorie der kulturellen Minoritäten« zu formulieren. Klarheit über diese neue Politik der Identität/Differenz zu gewinnen ist meiner Ansicht nach die Aufgabe zeitgenössischer kritischer Gesellschaftstheorie. Ich denke jedoch, daß die Konzentration auf den Fall Québec und dessen beherrschende Rolle in den jüngsten Diskussionen unsere Perspektive eingeengt und die Betrachtung neuer Denkstrategien im Lichte globaler Entwicklungen verhindert hat. Das Ergebnis ist ein ›voreiliger Normativismus‹ in der Auseinandersetzung, das heißt eine verfrühte Reifizierung vorausgesetzter Gruppenidentitäten, mangelnde Auseinandersetzung mit der Bedeutung von kultureller Identität überhaupt und eine Abkehr von der soziologischen und historischen Literatur über diese Themen, die gegenwärtig von einem methodologischen ›Konstruktivismus‹ dominiert werden. Ziel dieses Kapitels ist es, den Blick auf die Problematik von Identität und Differenz zu erweitern, indem ich zunächst den Gegensatz ›Essentialismus / Konstruktivismus‹ in den Gesellschaftswissenschaften untersuche, um daraus schließlich normative Schlüsse für die politische Kultur liberaler Demokratien zu ziehen.

 

Seit dem Ende der Polarisierung der Supermächte und des Kalten Krieges 1989 haben sich schwindelerregende Veränderungen auf der europäischen Landkarte vollzogen. Dienten die Begriffe ›Ost‹ und ›West‹ im 19. Jahrhundert noch der Trennung Europas vom ›Orient‹, so standen ›Ost‹ und ›West‹ nach dem Zweiten Weltkrieg für zwei Regime, deren Trennung Europa in der Mitte zerriß und Berlin zur geteilten Stadt machte. Mit der Etablierung des Kommunismus in Ost- und Mitteleuropa verschob sich der Osten westwärts. Andernfalls hätte es keinen Sinn gehabt zu behaupten, Prag läge in Osteuropa, da diese Stadt doch westlicher liegt als Wien. Die Termini ›Ost‹- und ›Westeuropa‹ bezeichneten bis 1989 eher eine geopolitische als eine geographische Abgrenzung: eine geopolitische Abgrenzung, die die Realitäten des Kalten Krieges als geographische erscheinen ließ. Der Antagonismus der Regime wurde durch naturalistische Bezeichnungen unterstrichen: der Osten – ›sie‹ – gegen den Westen – ›uns‹. 1989 demonstrierte unter anderem die Willkür einer Umsetzung politischer Differenzen in quasi naturgemäße Grenzen.

Die gegenwärtige Lage ist gekennzeichnet durch die allmähliche Auflösung all dieser naturalistischen Begriffe in den Bereichen der Politik und Kultur und durch den verzweifelten Versuch, sie wiederherzustellen. Nicht nur in Europa, sondern auch andernorts sind im Augenblick gegenläufige Tendenzen wahrnehmbar: Die rasant voranschreitende Globalisierung, die globale materielle Kultur, die die Welt von Hongkong bis Lima, von Pretoria bis Helsinki überzieht, die weltweite Integration auf den Gebieten der Wirtschaft und der Finanzen, der Kommunikation und des Transports, des Militärs und des Tourismus sind begleitet von kultureller und kollektiver Desintegration. Indien und die Türkei, die zu den ältesten Demokratien der ›dritten Welt‹ gehören, sind in Kämpfe verstrickt, die das politische Projekt säkularer repräsentativer Demokratie insgesamt in Frage stellen. Es ist wohl kaum nötig, den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, die Zerstörung von Tschetschenien durch die Russen, die schwelenden nationalen Konflikte in Aserbaidschan, Armenien, Mazedonien und Griechenland, die fortwährenden Massaker in Ruanda und in der Demokratischen Republik Kongo (bis 1997 Zaire) in diesem Zusammenhang besonders zu erwähnen. Die globale Integration verläuft parallel zu einer soziokulturellen Auflösung und dem Wiederaufflammen ethnischer, nationalistischer, religiöser und kultureller Separationsbestrebungen, weist also eine soziale Dynamik auf, die wir noch kaum verstanden haben.[10] Der globale Trend zur Demokratisierung existiert tatsächlich. Aber ebenso real feststellbar sind die Widerstände und Antagonismen, die sich gegen diesen Trend im Namen vielfältiger Differenzen – ethnischer, nationaler, linguistischer, religiöser und kultureller Natur – behaupten. Wir erleben auf der ganzen Welt das Wiedererstarken einer Politik, die um die Anerkennung kollektiver Formen von Identität kämpft.

Wenn man diesen größeren Zusammenhang einer Globalisierung betrachtet, die von fortschreitender Fragmentierung begleitet ist, sind die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart weit vielfältiger und konfliktträchtiger, als es die punktuelle Befassung mit dem Beispiel Québec vermuten lassen würde. Die politischen Kämpfe, die in aller Welt um die Anerkennung von Identitäten oder die Bestätigung von Differenzen geführt werden, können in drei Kategorien unterteilt werden:

  1. Der Begriff einer Politik der ›Identität‹ ging ursprünglich aus den Erfahrungen hervor, die die neuen sozialen Bewegungen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre in den kapitalistischen westlichen Demokratien machten. Frauen- und Umweltbewegung sowie die Forderungen nach ethnischer und sprachlicher Autonomie und gleichen Rechten für Homosexuelle galten als Ausdruck postmaterialistischer Werte (Ronald Inglehart)[11] und wurden als Signale für einen Wechsel von der gesellschaftlichen Verteilungsproblematik zu einer Beschäftigung mit der Grammatik der Lebensformen (Jürgen Habermas) verstanden.[12] Die Erfahrungen der neuen sozialen Bewegungen bewirkten, daß sich die Charakteristik der als politisch angesehen Problemlagen stark veränderte. Der Kampf um Wohlstand und Machtpositionen, der die Politik des Bürgertums und der Arbeiterklasse das ganze 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hindurch geprägt hatte, wurde von den Auseinandersetzungen um Frauenrechte, Homosexualität, Ökologie und die Folgen neuer medizinischer Technologien sowie von der Frage nach ethnischem und sprachlichem Selbstbewußtsein abgelöst (in der amerikanischen Umgangssprache wurde dieses politische Spektrum als »Regenbogenkoalition« bezeichnet). Die neuen Themen wurden auch von neuen Gruppen politischer Akteure vertreten: Aktivistinnen locker vernetzter Frauengruppen, Farbige, Homosexuelle und besorgte Bürger. Es erfolgte eine Verschiebung der Aktivität von der Parteipolitik zu politischen Protestbewegungen. Das Schlagwort »Strategie oder Identität« charakterisierte treffend diesen Wandel in der Politik der westlichen kapitalistischen Demokratien.[13]

  2. Die sozialen Bewegungen stellen den konstitutionellen Rahmen und die Identitätsgrenzen des politischen Gemeinwesens in den westlichen Demokratien nicht in Frage, wohingegen kultureller, sprachlicher, ethnischer und religiöser Separatismus gerade diese Grenzziehungen herausfordert. Als Beispiele für separatistische Bewegungen können die Québécois in Kanada sowie das Streben der Ureinwohner Kanadas nach mehr Selbstbestimmung dienen. Eine erfolgreich durchgeführte kulturelle Trennung auf der Grundlage eines verfassungsrechtlichen Kompromisses besteht zur Zeit zwischen der spanischen Zentralregierung und der Provinz Katalonien. Auf der anderen Seite ist die baskische Separatistenbewegung ein Musterbeispiel für einen andauernden ethnischen, sprachlichen und regionalen Konflikt. Der Kampf um die sprachlichen, kulturellen und territorialen Rechte der Kurden, der auf verschiedene Weise die Türkei, den Iran und den Irak betrifft, ist ebenfalls ein besonders eindringliches Beispiel für Separatismus. In einigen Fällen, wie dem der Québécois-Bewegung und der Bewegung für kulturelle Rechte in Katalonien, zielen die Auseinandersetzungen auf eine konstitutionelle Einigung und einen Kompromiß innerhalb der Grenzen eines existierenden souveränen Nationalstaates; andere Bewegungen, wie die ETA, IRA und PKK, haben die Zerstörung oder Umgestaltung existierender Formen von Souveränität zum Ziel. Ich werde solche politischen Bewegungen, die umfassendere konstitutionelle Veränderungen fordern als die neuen sozialen Bewegungen, aber weniger als voll entwickelte nationalistische Bewegungen, Bewegungen für multi- oder plurikulturelle Regierungsformen nennen. Der Libanon vor seiner Zerstörung in den siebziger Jahren, die heutigen Staaten Schweiz, Belgien, Niederlande und Kanada sind typische Beispiele für solche plurikulturellen Regierungsformen.

  3. Wie die irische, die kurdische, die baskische und die...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2015
Übersetzer Ursula Gräfe
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Carl Schmitt • Charles Taylor • Demokratie • Dichotomie • Diskursethik • Essentialismus • Gesellschaftskultur • Globalisierung • Konstitutionalismus • Konstruktivismus • Max Horkheimer • Sachbuch • Staatsbürger • Staatsbürgerschaft
ISBN-10 3-10-560407-3 / 3105604073
ISBN-13 978-3-10-560407-6 / 9783105604076
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