Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Aby Warburg und der Antisemitismus (eBook)

Kulturwissenschaft als Geistespolitik
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
318 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560302-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aby Warburg und der Antisemitismus -  Charlotte Schoell-Glass
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
(CHF 14,65)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Die Auseinandersetzung mit der Rolle von Antisemitismus und Judenfeindschaft für das Werk Aby Warburgs (1866-1929), die Charlotte Schoell-Glass unternimmt, zählt zu den interessantesten Annäherungen an das Werk des bedeutenden Kunsthistorikers. Die Autorin zeigt, daß zentrale Motive dieses Werks in engem Zusammenhang gesehen werden müssen mit Warburgs Reaktion auf den Antisemitismus, dem er mit ?geistespolitischen? Maßnahmen zu begegnen suchte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Charlotte Schoell-Glass, Dozentin für Kunstgeschichte, wurde 1951 geboren.

Charlotte Schoell-Glass, Dozentin für Kunstgeschichte, wurde 1951 geboren.

Einleitung


Der fremde Gast


»Eine jede Idee tritt als fremder Gast in die Erfahrung und wie sie sich zu realisieren beginnt, ist sie kaum von Phantasie und Phantasterei zu unterscheiden.«[1] Dieses Zitat aus den ›Maximen und Reflexionen‹ schrieb der Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker Aby Warburg (18661929) im Juli 1929 auf die Rückseite einer Bildpostkarte, deren Vorderseite die Fassade der von ihm gegründeten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) zeigt.[2] Der von Goethe formulierte Gedanke berührt jenen Grenzbereich der Kognition, in dem sich Warburg ein Gelehrtenleben lang bewegte, einen Grenzbereich, der sich wie ein schillernder Gürtel um die Felder des gesicherten, wohlgeordneten Wissens zieht – ganz gleich, auf welchem Gebiet sie liegen mögen. Warburg hatte aber vor allem im Sinn, daß die KBW selbst das Ergebnis einer so in die Welt getretenen Idee war.[3] In der Gegenüberstellung der Bibliotheksfassade als Manifest realistischer Strategien der Institutionalisierung von Wissenschaft mit der ›Idee‹ und ihrer dubiosen Herkunft aus der ›Phantasterei‹ liegt ein Schlüssel zum Verständnis von Warburgs Lebenswerk und den unleugbaren Schwierigkeiten, denen es innerhalb der Disziplin der Kunstgeschichte, aber auch im weiteren, interdisziplinären Umfeld begegnete.

Nur vier Jahre später, 1933, hatten die Bibliothek und ihre Mitarbeiter das Haus an der Heilwigstraße in Hamburg für immer verlassen: Menschen und Bücher waren im »Büchertrutzkasten«[4] vor ihren Landsleuten nicht mehr sicher. Frühzeitig und rechtzeitig emigrierte das Forschungsinstitut nach England. Für die Rezeption der Warburgschen Kulturwissenschaft seit nunmehr über einem halben Jahrhundert ist in den verschiedensten Bereichen diese eine Tatsache von zentraler Bedeutung: Aby Warburg und viele der Gelehrten in seinem Umkreis waren Juden. Sie bedingt nicht nur das durch Emigration und Einpassung in ein neues intellektuelles Klima bestimmte Schicksal von Kontinuität und Brüchen in der Geschichte des Warburg Institute, wie es ja auf der Hand liegt. Sie ist auch verantwortlich, mindestens zum Teil, für das an Verspätungen, Mißverständnissen und Versäumnissen nicht arme Rezeptionsschicksal seines veröffentlichten Werks und seines Nachlasses.

Das hier vorgelegte Material, das Aby Warburgs vielfältige Reaktionen auf den seit Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 ubiquitären Antisemitismus dokumentiert, macht allerdings offensichtlich, daß auch schon die Entstehung seines Werks in einem bisher nicht erkannten Ausmaß unter der Bedingung der jüdischen Herkunft gesehen werden muß. Die historische Bruchstelle – die Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Juden – ist bis heute unverheilt; hier wie dort bezeichnete diese Bruchstelle mit zusätzlichem Gewicht ein ohnehin in den Wissenschaften aufgerichtetes Tabu, das den Zugang zu den Motiven, aus denen heraus sie je betrieben werden, verwehrt, ein Tabu, das diese Motive zur Schweigezone erklärt.

Diese Studie geht von einer anderen Prämisse aus: Am Beispiel Aby Warburgs will sie zeigen, daß die Frage nach den Motiven des Wissenschaftlers und Gelehrten für seine Forschung und das mit ihr verknüpfte soziale Agieren nicht ausschließlich als in die Kompetenz der Psychologie fallend gesehen werden muß und daß diese Frage auch nicht auf das subjektiv Unvermittelbare zielt. In dieser Auffassung distanziert sie sich vor allem von Ernst Gombrichs Andeutungen über Warburgs Identifikation mit seinen Themen, mit denen er das Mnemosyne-Kapitel seiner ›Intellektuellen Biographie‹ Warburgs abschließt.[5]Hier wird vielmehr die Vermutung zugrunde gelegt, daß das Motiv des Handelns und dessen Ergebnis in einem Zusammenhang stehen, den zu kennen bedeuten kann, daß die so befragten wissenschaftshistorischen Fakten eine andere Farbe, einen neuen Ton annehmen. Mit dieser Metapher soll angedeutet sein, daß die hier entfaltete andere Sicht auf Warburgs Forschung, methodische Zielrichtung und auf sein wissenschaftspolitisches Engagement nicht die Kritik im Sinne der Negation bisheriger Sichtweisen zum Ziel hat, sie vielmehr durch ihre Situierung in einer historischen Bewegung, in der auch diese neue Sicht steht, verstehen hilft. Diese Erklärung erkennt an, daß im kulturwissenschaftlichen und im wissenschaftshistorischen Diskurs Schweigen und Mitteilen, Betonung und Abschwächung, Zeigen oder Verstecken mit genügend Abstand (und aus neuen Motiven heraus) als dessen Historisches, Bedingtes, Unvermeidliches zum Vorschein kommen. Sie will zugleich erweisen, daß gerade in den Kulturwissenschaften, und gerade zu Anfang unseres Jahrhunderts, ein unpolitischer Kulturbegriff nicht denkbar ist. Erst dann, wenn wir Warburgs Leistungen unter den faktischen Bedingungen ihrer Entstehung sehen, werden sie auch sichtbar als ein Teil der großen ideologischen Schlacht unter dem Signum der »Kultur«, die dem Ersten Weltkrieg vorausging.[6]

Warburg selbst hat in seinem veröffentlichten Werk dafür Sorge getragen, daß der Antisemitismus als eine wirkende Kraft im Leben des Autors – wie in dem jedes Juden – außer Sicht blieb. Dort erscheinen dessen Auswirkungen verdeckt, vermittelt. Um so aufschlußreicher ist aber die Spur, die der von ihm dokumentierte Antisemitismus im Arbeitsarchiv, in der Bibliothek und in der Korrespondenz hinterlassen hat. Diese Spur führt ins Herz des Unternehmens ›Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg‹: Die von Warburg intendierte Kulturwissenschaft als Netz richtig formulierter Fragen sucht die Antwort auf eine nicht formulierte Frage: Was ist die Ursache des Judenhasses? Die Antwort auf diese Frage wäre die Bedingung gewesen für eine mögliche Auflösung der von Warburg in immer größerer Schärfe und Intensität gesehenen – und dokumentierten – Bedrohung durch den Antisemitismus. Diese Frage – was ist der Antisemitismus? – wurde noch 1988 »eine der am schwersten zu beantwortenden und am grausamsten verstörenden Fragen, die ein Mensch des 20. Jahrhunderts sich stellen kann«[7] genannt und als eine anthropologische Frage behandelt.

Der ›fremde Gast‹ aus Goethes kleiner Phantasie über den Prozeß der Erkenntnis hat vielerlei Gestalt in Warburgs Lebenswerk. Er ist die Sicht des Ethnologen aufs Eigenste,[8] er ist die Arbeit an der Sprache, bis sie als Mittel der Analyse dem Bild wieder anverwandelt ist,[9] er ist die Fähigkeit, Disparates zusammen und zum Sprechen zu bringen; er ist aber auch die Kraft zur Neuordnung des bereits durch Klassifikation in feststehend erscheinender Ordnung Vorgefundenen. Diese Anstrengung hat der Kunstgeschichte seither einen neuen Platz im Gefüge der Disziplinen zugewiesen, ihr einen anderen und höheren Anspruch gestellt, als den – damals und noch lange – unter dem Stilparadigma formulierbaren Fragen und Antworten. Ob sie ihn erfüllen kann oder nicht, ist dabei unerheblich.[10]

Der ›fremde Gast‹ ist aber auch Warburg selber, der als Student – ironisch und zugleich sehr getroffen – in Straßburg im Spiegel des Judenhasses sich seiner selbst als einer »orientalischen« Erscheinung inne wird. Ihm widerfuhr, was Walther Rathenau so formulierte: »In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn er sich zum ersten Mal voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.«[11] Warburg hat den im Antisemitismus sich äußernden Haß, von den kleinsten Alltagskränkungen bis hin zu den Pogromwellen in Osteuropa am Ende des Ersten Weltkrieges, von den schauerlichsten Exzessen bis zum windigen Pamphlet, registriert und dokumentiert. Und diese Dokumentation ist nicht säuberlich abgetrennt von jener, die sich auf die Kunstgeschichte, die Geschichte, die Sozialgeschichte, die Anthropologie, die Politik bezieht: Sie findet sich eingeordnet in das weiträumig verzweigte Netzwerk von Schlagworten, mit dem Warburg sein kulturwissenschaftliches Konzept und die Systematik seiner Bibliothek zu einer Fangvorrichtung ausgebaut hatte. Dieser Befund legt es nahe, die bereits 1988 von Anne Marie Meyer angestellte Überlegung aufzugreifen: »Aber wie die Beziehung zwischen Warburgs Erforschung des Paganen in der Renaissance und seinen Überlegungen und Befürchtungen über das Judentum (und die Juden) konkret aussah, ist natürlich die Frage.«[12]

Über Warburgs Erforschung der Rolle der ›heidnischen‹ Antike in der Renaissance ließe sich auch jene vielzitierte Äußerung Jacob Burckhardts schreiben, die in den einleitenden Absätzen seiner ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ stehen: »Unser Ausgangspunkt ist der vom einzigen bleibenden und uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird; daher unsere Betrachtung pathologisch sein wird.«[13] Schon in den Wörtern klingt hier an, was Warburg in den Bildern dann als ›Pathosformel‹ dingfest machen konnte; auch die Spannung des Widerspruchs zwischen dem bewegten Leben und der zeitlos postulierten conditio humana, die hier auf den Seziertisch des Historiographen gelegt wird, findet ihre Entsprechung in Warburgs Werk. Der...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Aby Warburg • Albrecht Dürer • Antisemitismus • Antisemitismusstreit • Berlin • Bilderatlas • Deutschland • Ernst Gombrich • Erster Weltkrieg • Frankfurt am Main • Geisteskrisis • Hamburg • Hamburger Kunsthalle • Judenfrage • Martin Luther • München • Robert Galitz • Sachbuch • Theodor Fritsch
ISBN-10 3-10-560302-6 / 3105603026
ISBN-13 978-3-10-560302-4 / 9783105603024
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich