Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens (eBook)
300 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73860-3 (ISBN)
Spätestens seit Darwin steht die Frage im Raum, was den Menschen von anderen Tieren unterscheidet. Michael Tomasello präsentiert eine faszinierende Antwort: Es ist das auf Kooperation ausgerichtete soziale Verhalten, das den Sonderweg des Menschen in der Evolution ebnete. In seinem Buch zeichnet er nach, wie veränderte Umweltbedingungen die frühen Menschen zwangen, die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, ihr Verhalten stärker aufeinander abzustimmen und ihr Denken und Handeln im Lichte der normativen Standards der Gruppe zu prüfen. Wie aus kollaborativer Interaktion und Kommunikation völlig neue und einzigartige Formen des Denkens und dann auch Sprache und Kultur entstanden, zeigt dieses Buch.
<p>Michael Tomasello, geboren 1950, ist Professor für Psychologie und Neurowissenschaft an der Duke University. Von 1998 bis 2018 war er Co-Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Für seine Forschungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jean-Nicod-Preis, dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und dem Max-Planck-Forschungspreis. 2015 erhielt er für sein Gesamtwerk den prestigeträchtigen Distinguished Scientific Contribution Award der American Psychological Association.</p>
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INDIVIDUELLE INTENTIONALITÄT
[D]as Verstehen [besteht] in dem Vorstellen der Tatsache […].
LUDWIG WITTGENSTEIN, The Big Typescript
Kognitive Prozesse sind zwar ein Produkt der natürlichen Selektion, aber sie sind nicht ihr Ziel. Tatsächlich kann die natürliche Selektion die Kognition nicht einmal »sehen«; sie kann nur die Wirkungen der Kognition bei der Strukturierung und Regulation manifester Handlungen »sehen« (Piaget, 1983). In der Evolution gilt das Klugsein nichts, wenn es nicht zu klugem Handeln führt.
Die beiden klassischen Theorien des Tierverhaltens, der Behaviorismus und die Ethologie, konzentrierten sich zwar auf manifeste Handlungen, vergaßen aber irgendwie die Kognition. Die klassische Ethologie hat wenig oder gar kein Interesse an der Kognition von Tieren, und der klassische Behaviorismus stand dieser Idee regelrecht feindselig gegenüber. Obwohl zeitgenössische Programme der Ethologie und des Behaviorismus in gewisser Weise kognitive Prozesse berücksichtigen, liefern sie keine systematischen theoretischen Erklärungen. Auch irgendwelche anderen modernen Ansätze der Evolution der Kognition genügen nicht den gegenwärtigen Zielsetzungen.
Daher müssen wir, um mit der Darstellung der evolutionären Entstehung des einzigartig menschlichen Denkens zu beginnen, zuerst in groben Zügen eine Theorie der Evolution der Kognition im allgemeineren Sinne formulieren. Im Anschluß daran können wir dann mit unserer eigentlichen Naturgeschichte anfangen, indem wir diesen theoretischen Rahmen für die Charakterisierung von Kognitions- und Denkprozessen bei modernen Menschenaffen verwenden, und zwar als Stellvertreter des evolutionären Ausgangspunkts der Menschen, bevor sie sich vor etwa sechs Millionen Jahren von den anderen Primaten trennten.22
Die Evolution der Kognition
Alle Organismen verfügen über gewisse Reflexreaktionen, die linear als Reiz-Reaktionsverknüpfungen organisiert sind. Die Behavioristen meinen, daß alles Verhalten auf diese Weise organisiert ist, obwohl die Verknüpfungen bei komplexen Organismen in der Regel gelernt und auf unterschiedliche Weise mit anderen assoziiert werden. Die Alternative besteht darin anzuerkennen, daß komplexe Organismen auch über gewisse adaptive Spezialisierungen verfügen, die zirkulär als Rückkoppelungs-Steuerungssysteme mit eingebauten Zielzuständen und Handlungsmöglichkeiten organisiert sind. Im Ausgang von dieser Grundlage entwickelt sich die Kognition nicht aus einer komplexeren Gestaltung von Reiz-Reaktionsverknüpfungen, sondern daraus, daß der individuelle Organismus (1) Fähigkeiten zum flexiblen Treffen von Entscheidungen und eine Kontrolle über sein Verhalten in unterschiedlichen adaptiven Spezialisierungen gewinnt und (2) imstande ist, die kausalen und intentionalen Beziehungen, welche relevante Ereignisse strukturieren, kognitiv zu repräsentieren und Schlußfolgerungen aus ihnen zu ziehen.
Adaptive Spezialisierungen sind als selbstregulierende Systeme organisiert, ebenso wie viele physiologische Prozesse, etwa die homöostatische Regulation des Blutzuckers und der Körpertemperatur bei Säugetieren. Diese Spezialisierungen gehen in ihrer Fähigkeit, adaptives Verhalten in einem viel größeren Bereich von Umweltbedingungen hervorzubringen, über Reflexe hinaus und können in der Tat ziemlich komplex sein, zum Beispiel bei Spinnen, die Netze weben. Es ist unmöglich, daß eine Spinne ein Netz nur anhand von Reiz-Reaktionsverbindungen weben kann. Der Prozeß ist zu dynamisch und abhängig vom lokalen Kontext. Statt dessen muß die Spinne über Zielzustände verfügen und motiviert sein, diese hervorzubringen, und sie muß die Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum Handeln besitzen, so daß sie diese Zielzustände auf selbstregulierte Weise hervorbringt. Aber adaptive Spezialisierungen sind noch nicht kognitiv (oder nur schwach kognitiv), weil es ihnen per definitionem an Wissen mangelt und sie unflexibel sind: Wahrgenommene Situationen und Verhaltensmöglichkeiten zur Zielerreichung sind zum größten Teil auf unflexible Weise miteinander verknüpft. Der individuelle 23Organismus verfügt nicht über die Art von kausalem oder intentionalem Verständnis der Situation, die ihm ermöglichen würde, mit »neuen« Situationen flexibel umzugehen. Die natürliche Selektion hat diese adaptiven Spezialisierungen so gestaltet, daß sie invariant »in denselben« Situationen wie denen funktionieren, denen der Organismus in der Vergangenheit begegnet ist, und deshalb bedarf es keiner Klugheit seitens des Individuums.
Kognition und Denken betreten die Bühne, wenn Organismen in weniger vorhersagbaren Welten leben, und die natürliche Selektion formt kognitive Prozesse und solche der Entscheidungsfindung, die das Individuum befähigen, neue Situationen zu erkennen und, auf sich gestellt, flexibel mit unvorhersagbaren Erfordernissen umzugehen. Was den effektiven Umgang mit einer neuen Situation ermöglicht, ist ein gewisses Verständnis der daran beteiligten kausalen und/oder intentionalen Beziehungen, das dann eine angemessene und potentiell neue Verhaltensreaktion nahelegt. Beispielsweise könnte ein Schimpanse erkennen, daß das einzige Werkzeug, das ihm in einer gegebenen Situation zur Verfügung steht, aufgrund der physikalischen Kausalität in diesem Fall eine Verhaltensweise erfordert, die er noch nie zuvor im Hinblick auf dieses Ziel vollzogen hat. Ein kognitiv kompetenter Organismus funktioniert daher als Steuerungssystem mit Referenzwerten oder -zielen, mit Fähigkeiten zur Beachtung von Situationen, die kausal oder intentional für diese Referenzwerte oder -ziele »relevant« sind, und mit Fähigkeiten zur Auswahl von Handlungen, die zur Erfüllung dieser Referenzwerte oder -ziele führen (auf der Grundlage der kausalen und/oder intentionalen Struktur der Situation). Diese Beschreibung in Begriffen von Steuerungssystemen ist im Grunde identisch mit dem klassischen Überzeugungs-Wunsch-Modell des rationalen Handelns in der Philosophie: ein Ziel oder Wunsch, gekoppelt mit einer epistemischen Verbindung zur Welt (zum Beispiel einer Überzeugung, die auf einem Verständnis der kausalen oder intentionalen Struktur der Situation beruht), erzeugt eine Absicht, auf eine bestimmte Weise zu handeln.1
Wir werden diese flexible, individuell selbstregulierte, kognitive Art und Weise des Umgangs mit Dingen als individuelle Intentionalität bezeichnen. Innerhalb dieses Selbstregulationsmodells individuel24ler Intentionalität können wir dann sagen, daß Denken stattfindet, wenn ein Organismus bei einer bestimmten Gelegenheit versucht, ein Problem zu lösen, und sein Ziel nicht durch manifestes Verhalten, sondern vielmehr dadurch zu erfüllen trachtet, daß er sich vorstellt, was geschehen würde, wenn er in einer Situation verschiedene Handlungen ausprobieren würde – oder wenn verschiedene äußere Kräfte in die Situation einflössen –, bevor er tatsächlich handelt. Diese Vorstellung ist nichts anderes als die »Offline«-Simulation potentieller Wahrnehmungserlebnisse. Um solcherart in der Lage zu sein, vor dem Handeln zu denken, muß der Organismus daher die oben skizzierten drei Voraussetzungen besitzen: (1) die Fähigkeit zur kognitiven Repräsentation von Erlebnissen »offline«, (2) die Fähigkeit zur Simulation oder zum Vollzug von Schlußfolgerungen, die diese Repräsentationen kausal, intentional und/oder logisch umwandeln, und (3) die Fähigkeit, sich selbst zu beobachten und zu bewerten, wie diese simulierten Erlebnisse zu spezifischen Verhaltensergebnissen führen – und auf diese Weise eine wohlüberlegte Verhaltensentscheidung zu treffen. Der Erfolg oder Mißerfolg einer bestimmten Verhaltensentscheidung gibt die zugrundeliegenden Prozesse der Repräsentation, Simulation und Selbstbeobachtung sozusagen indirekt dem unerbittlichen Sieb der natürlichen Selektion preis.
Kognitive Repräsentation
Die kognitive Repräsentation in einem selbstregulierenden intentionalen System läßt sich sowohl anhand ihres Inhalts als auch anhand ihres Formats charakterisieren. Was den Inhalt betrifft, so lautet die Behauptung, daß sowohl die internen Ziele des Organismus als auch seine von außen gelenkte Aufmerksamkeit (wohlgemerkt nicht nur Wahrnehmung, sondern Aufmerksamkeit) nicht punktförmige Reize oder Sinnesdaten zum Inhalt haben, sondern vielmehr ganze Situationen. Ziele, Werte und andere Bezugsgrößen (Pro-Einstellungen) sind kognitive Repräsentationen von Situationen, für die der Organismus eine Motivation hat, sie hervorzubringen oder aufrechtzuerhalten. Obwohl wir manchmal von einem Gegenstand oder einem Ort als dem Ziel einer Person sprechen, ist das in Wirklichkeit 25nur eine abgekürzte Redeweise: Das Ziel ist die Situation des Habens des Gegenstands oder des Erreichens des Ortes. Der Philosoph Davidson (2001/2013) schreibt: »Wünsche und Gelüste sind auf propositionale Inhalte gerichtet. Was man will, ist, […] daß man den Apfel in der Hand hält. […] Ähnliches gilt für Absichten. Wer die Absicht hat, in die Oper zu gehen, beabsichtigt, dafür zu sorgen, daß er im Opernhaus sitzt.« (S. 215) Im selben Sinne spricht die moderne Entscheidungstheorie häufig von dem Wunsch oder der Präferenz, daß ein bestimmter Sachverhalt verwirklicht sein soll.
Wenn Ziele und...
Erscheint lt. Verlag | 6.10.2014 |
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Übersetzer | Jürgen Schröder |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Natural History of Human Thinking |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Technik | |
Schlagworte | A Natural History of Human Thinking deutsch • Distinguished Scientific Contribution Award 2015 • Evolutionspsychologie • Klaus J. Jacobs Research Prize 2011 • Kognitive Entwicklung • Kooperation • STW 2305 • STW2305 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2305 • Wiesbadener Helmuth Plessner Preis 2014 |
ISBN-10 | 3-518-73860-7 / 3518738607 |
ISBN-13 | 978-3-518-73860-3 / 9783518738603 |
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