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Stadttagebücher

Buch
640 Seiten
2009
Edition Axel Menges (Verlag)
978-3-936681-31-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stadttagebücher - Hans Dieter Schaal
CHF 17,90 inkl. MwSt
Was denken wir, wenn jemand die Namen von Städten wie den folgenden nennt:

Rom, Venedig, Warschau, Singapur, Kuala Lumpur, Tel Aviv, Jerusalem, Lissabon,

San Francisco, Las Vegas, Los Angeles, Wien, Paris, Tallinn, Tartu, New

York, Moskau, Sankt Petersburg, Barcelona, Genf, Brüssel, London?

Die Bedeutungswolke, die über jedem dieser Namen aufsteigt, ist so gewaltig

groß, daß niemand in der Lage sein wird, eine allgemeingültige Antwort zu

geben. Fast jeder Befragte wird mit einem autobiographischen Reflex antworten,

sofern er die Stadt aus eigener Erfahrung kennt. Der eine erinnert sich an einen

betrügerischen Taxifahrer, der ihn vom Flughafen in die Stadt gefahren hat, der

andere denkt an einen geglückten oder mißglückten Geschäftsabschluß, der dritte

an ein mieses oder besonders schönes Hotel oder an ein Projekt, das er in dieser

oder jener Stadt verwirklichen konnte, und wieder ein anderer denkt an Menschen,

die er dort kennengelernt hat. Manche sind hier vielleicht der Liebe ihres

Lebens begegnet oder im Gegenteil, dem finalen Streit. Manche haben hier ihre

Flitterwochen verbracht, andere ließen sich hier scheiden. Es gibt bestimmt auch

Zeitgenossen, die in dieser oder jener Stadt einen schlimmen Unfall hatten oder

ausgeraubt wurden. Sätze wie folgende könnten fallen: 'Das ist eine wunderschöne

Stadt!' 'Das ist eine der häßlichsten und gefährlichsten Städte, die ich

je besucht habe!' 'In dieser Stadt gibt es nur Müll und Chaos!' 'In dieser Stadt

kann man die Zeit vergessen, sie ist so traumhaft altmodisch, daß ich jedesmal

weinen muß, wenn ich nur an sie denke!' 'Diese Stadt ist so vital, bunt und laut,

daß ich dort endlich verstanden habe, was Leben sein kann!' 'Diese Stadt ist so

nüchtern, sauber und vornehm zurückhaltend, daß ich bei einem Aufenthalt dort

noch introvertierter und depressiver werde, als ich es schon von Natur aus bin!'

'Man sollte eine Stadt nur nach ihren Hunden beurteilen!' 'Eine gute Stadt zum

Shoppen!'

Obwohl die Hausansammlungen, Gassen, Straßen und Plätze tatsächlich existieren,

besteht jede Stadt für viele zum großen Teil nur aus Erzählungen, Vermutungen,

Vorurteilen, Klischees, Wissensfragmenten, Beobachtungen, eigenen

Erlebnissen, Bildern aus erster oder zweiter Hand, Träumen, Ängsten und Wünschen.

Der Architekt Hans Dieter Schaal, der für viele bedeutende Theater der Welt

Bühnenbilder schuf, verbrachte oft viele Wochen in den Städten, die er in diesem

Buch beschrieben hat. Er begann, sie auf seinen Spaziergängen zu erforschen,

sich in sie einzufühlen und mit ihnen vertraut zu werden. Die subjektiven

Beobachtungen des Autors werden von zahlreichen Fakten ergänzt, so daß das

Buch ein lebendiges Bild unseres immer mehr von Städten bestimmten Daseins

vermittelt.

Paris (S. 340-343)Paris, 27.Oktober 2003Die Direktoren des Goethe-Instituts und des Modemuseums haben mich zu einem Wettbewerbskolloquium nach Paris eingeladen. Im Palais Galliera soll eine große "Marlene-Dietrich"-Ausstellung stattfinden. Für mich bedeutet das zwei Tage Arbeit und zwei Tage Paris zum Vergnügen.Schon die Busfahrt vom Flughafen Charles de Gaulle zur Endstation am Arc de Triomphe löst bei mir ein Bilder- und Erinnerungsgewitter aus. Wie oft habe ich diese weltberühmte Stadt besucht, studiert und bewundert?! Während ich vor dem Fenster im grauen Oktobernebel trostlose Peripherieindustriebauten vorbeiziehen sehe und hoffe, daß wir nicht im dichten Verkehr steckenbleiben, versuche ich mich zu erinnern.Als erstes taucht in mir ein Erlebnis auf, das 1960 stattgefunden haben muß. Damals betrachtete ich Paris als etwas Ungeheuerliches, als ein lebendiges Wesen mit frivolem Inhalt und weltstädtischem Flair, der mich berauschte, fast schwindlig machte. Alles schien es hier zu geben: lockeres und elegantes Leben, hohe, edle Kunst, bohèmige Avantgarde und erotische Abgründe. Wie benommen streifte ich, der Gymnasiast aus einer deutschen Kleinstadt, durch die engen Gassen und über die vornehmen Boulevards.Ab und zu traf ich meine Schwester, die sich für längere Zeit als Au-pair-Mädchen in der Stadt aufhielt, um ihre Französischkenntnisse zu vertiefen. Im Gegensatz zu mir - dafür hätte ich auch länger in der Stadt leben müssen - lernte sie tatsächlich die Sprache und kann sich seither an jeder französischen Konversation beteiligen, ohne unangenehm aufzufallen. Das ist in Frankreich besonders wichtig, da die selbstbewußten, stolzen Franzosen ungern fremde Sprachen lernen - kaum einer kann Englisch - und davon ausgehen, daß sie von jedem Ausländer verstanden werden.Ich wohnte in einer kleinen, schäbigen Pension unweit des Gare Saint Lazare. Neben dem üblichen Touristenprogramm hat sich mir ein Erlebnis besonders eingeprägt: Als ich an der Opéra Garnier vorbeikam, entdeckte ich auf einem Plakat, daß in den nächsten Tagen die berühmteste aller Sängerinnen - Maria Callas - als "Tosca" in einer Inszenierung von Franco Zeffirelli auftreten würde. Nachts sah ich Menschen in Schlafsäcken vor dem Opernhauseingang campieren. Sie wollten am anderen Morgen als erste an der Kasse sein. Ich fragte meine Schwester, ob sie mir helfen würde, eine Karte zu ergattern. Gemeinsam gingen wir am nächsten Nachmittag zum Opernhaus. Lange Warteschlangen zogen sich über die Haupttreppe hinunter bis zur Straße. Meine Schwester, die mit ihren langen, blonden Haaren sehr attraktiv aussah, durchdrang mutig die Menschenmenge. Überrascht wichen alle zurück. Als wir den Kartenschalter problemlos erreicht hatten, war ich selbst so verblüfft, daß ich mich über nichts mehr wunderte, nicht einmal über die Tatsache, plötzlich ein Ticket für den Abend in der Hand zu halten. Später wurde ich tatsächlich eingelassen und stieg die pompösen Foyertreppen nach oben. Mein Platz befand sich im Olymp, dicht unter der Decke des gewölbten Saals. Edle Damen in weiten Roben, Nerzstolen um die nackten Schultern geworfen, erschienen schmuckglitzernd mit ihren eleganten, schwarzbefrackten Begleitern, schwebten die Treppen empor und verschwanden in den rotplüschigen Vestibülen. Im Zuschauersaal herrschte eine gespannte Atmosphäre, alle starrten auf den geschlossenen roten Vorhang, der sich bald öffnen und das Geheimnis der berühmtesten Gesangstimme der Welt offenbaren würde. Schließlich verdunkelte sich das Licht, die Menschen verstummten und begrüßten mit tosendem Applaus den Dirigenten, der aus versteckten Kellerverliesen in den dämmrigen Schummer des Orchestergrabens trat. Paris (S. 340-343)Paris, 27.Oktober 2003Die Direktoren des Goethe-Instituts und des Modemuseums haben mich zu einem Wettbewerbskolloquium nach Paris eingeladen. Im Palais Galliera soll eine große "Marlene-Dietrich"-Ausstellung stattfinden. Für mich bedeutet das zwei Tage Arbeit und zwei Tage Paris zum Vergnügen.Schon die Busfahrt vom Flughafen Charles de Gaulle zur Endstation am Arc de Triomphe löst bei mir ein Bilder- und Erinnerungsgewitter aus. Wie oft habe ich diese weltberühmte Stadt besucht, studiert und bewundert?! Während ich vor dem Fenster im grauen Oktobernebel trostlose Peripherieindustriebauten vorbeiziehen sehe und hoffe, daß wir nicht im dichten Verkehr steckenbleiben, versuche ich mich zu erinnern.Als erstes taucht in mir ein Erlebnis auf, das 1960 stattgefunden haben muß. Damals betrachtete ich Paris als etwas Ungeheuerliches, als ein lebendiges Wesen mit frivolem Inhalt und weltstädtischem Flair, der mich berauschte, fast schwindlig machte. Alles schien es hier zu geben: lockeres und elegantes Leben, hohe, edle Kunst, bohèmige Avantgarde und erotische Abgründe. Wie benommen streifte ich, der Gymnasiast aus einer deutschen Kleinstadt, durch die engen Gassen und über die vornehmen Boulevards.Ab und zu traf ich meine Schwester, die sich für längere Zeit als Au-pair-Mädchen in der Stadt aufhielt, um ihre Französischkenntnisse zu vertiefen. Im Gegensatz zu mir - dafür hätte ich auch länger in der Stadt leben müssen - lernte sie tatsächlich die Sprache und kann sich seither an jeder französischen Konversation beteiligen, ohne unangenehm aufzufallen. Das ist in Frankreich besonders wichtig, da die selbstbewußten, stolzen Franzosen ungern fremde Sprachen lernen - kaum einer kann Englisch - und davon ausgehen, daß sie von jedem Ausländer verstanden werden.Ich wohnte in einer kleinen, schäbigen Pension unweit des Gare Saint Lazare. Neben dem üblichen Touristenprogramm hat sich mir ein Erlebnis besonders eingeprägt: Als ich an der Opéra Garnier vorbeikam, entdeckte ich auf einem Plakat, daß in den nächsten Tagen die berühmteste aller Sängerinnen - Maria Callas - als "Tosca" in einer Inszenierung von Franco Zeffirelli auftreten würde. Nachts sah ich Menschen in Schlafsäcken vor dem Opernhauseingang campieren. Sie wollten am anderen Morgen als erste an der Kasse sein. Ich fragte meine Schwester, ob sie mir helfen würde, eine Karte zu ergattern. Gemeinsam gingen wir am nächsten Nachmittag zum Opernhaus. Lange Warteschlangen zogen sich über die Haupttreppe hinunter bis zur Straße. Meine Schwester, die mit ihren langen, blonden Haaren sehr attraktiv aussah, durchdrang mutig die Menschenmenge. Überrascht wichen alle zurück. Als wir den Kartenschalter problemlos erreicht hatten, war ich selbst so verblüfft, daß ich mich über nichts mehr wunderte, nicht einmal über die Tatsache, plötzlich ein Ticket für den Abend in der Hand zu halten. Später wurde ich tatsächlich eingelassen und stieg die pompösen Foyertreppen nach oben. Mein Platz befand sich im Olymp, dicht unter der Decke des gewölbten Saals. Edle Damen in weiten Roben, Nerzstolen um die nackten Schultern geworfen, erschienen schmuckglitzernd mit ihren eleganten, schwarzbefrackten Begleitern, schwebten die Treppen empor und verschwanden in den rotplüschigen Vestibülen. Im Zuschauersaal herrschte eine gespannte Atmosphäre, alle starrten auf den geschlossenen roten Vorhang, der sich bald öffnen und das Geheimnis der berühmtesten Gesangstimme der Welt offenbaren würde. Schließlich verdunkelte sich das Licht, die Menschen verstummten und begrüßten mit tosendem Applaus den Dirigenten, der aus versteckten Kellerverliesen in den dämmrigen Schummer des Orchestergrabens trat.

Sprache deutsch
Maße 210 x 245 mm
Gewicht 2530 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Reisen Reiseberichte
Technik Architektur
Schlagworte Stadt • Stadt (Motiv)
ISBN-10 3-936681-31-7 / 3936681317
ISBN-13 978-3-936681-31-4 / 9783936681314
Zustand Neuware
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