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Jordanien: Einblicke und Analysen zur Situation von Geflüchteten in einem Partnerland der deutschen Flüchtlingspolitik und Entwicklungszusammenarbeit -

Jordanien: Einblicke und Analysen zur Situation von Geflüchteten in einem Partnerland der deutschen Flüchtlingspolitik und Entwicklungszusammenarbeit (eBook)

Albert Scherr (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
234 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8849-6 (ISBN)
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Jordanien wird in Deutschland vor allem als touristisch interessantes Reiseland wahrgenommen. Dass enge politische und wirtschaftliche Beziehungen bestehen und Jordanien ein Aufnahmeland für Flüchtlinge ist, deren Weiterwanderung nach Europa verhindert werden soll, wird bislang kaum diskutiert. Der Band zielt darauf, Grundlagen für eine kritische Betrachtung der prekären Situation von Flüchtlingen in Jordanien bereitzustellen und die engen Verstrickungen der deutschen und europäischen Politik in die Aufrechterhaltung dieser Situation aufzuzeigen. Dargestellt werden zum einen Ergebnisse umfassender Feldforschungen des Herausgebers vor Ort. Zum anderen ermöglichen die Beiträge internationaler Expert*innen vertiefende Einblicke in die deutsch-jordanischen Beziehungen, die Lebensbedingungen von Flüchtlingen sowie zu den politischen, ökonomischen und rechtlichen Hintergründen. Aufgezeigt werden auch die Herausforderungen, mit denen Projekte der Sozialen Arbeit für Flüchtlinge konfrontiert sind.

Albert Scherr, Jg. 1958, Dr. phil. habil., Diplom-Soziologe, ist Professor am Institut für Soziologie der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

Einleitung: Die Bedeutung Jordaniens als Aufnahmeland für Flüchtlinge und als Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit


Albert Scherr

Jordanien ist für Deutschland in verschiedener Hinsicht von erheblicher Bedeutung.2 Es wird seitens der deutschen Politik als ein wichtiger „Partner in einer höchst fragilen Nachbarschaft“ (BMZ 2023) charakterisiert, mit dem eine enge politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Kooperation besteht, die auch eine militärische Zusammenarbeit umfasst (s. dazu die Beiträge von Ratka und Schütze in diesem Band). Dies gilt nicht zuletzt für die Funktion Jordaniens als Aufnahmeland für Flüchtlinge.

Nach Angaben der jordanischen Regierung leben gegenwärtig 1,4 Millionen Geflüchtete, vor allem aus Syrien, in Jordanien.3 Es ist ein offenkundiges Interesse der deutschen und europäischen Politik, dass diese dort verbleiben, also nicht nach Europa und Deutschland weiterreisen und hier Aufnahme und Schutz suchen. Deutlich wird dies in der Beteiligung Deutschlands am 2016 vereinbarten EU-Jordan Compact (s. Turner 2012; vgl. die Beiträge von Lenner und Turner und von Seeberg in diesem Band) sowie der enormen Steigerung der deutschen und internationalen Finanzhilfen in Reaktion auf die syrische Fluchtmigration nach Jordanien seit 2011 (Ratka 2023, S. 25 f.).4

Sucht man nach deutschsprachigen Veröffentlichungen zu Jordanien, dann zeigt sich jedoch ein gänzlich anderer Fokus der Aufmerksamkeit: Die dominante deutsche Perspektive auf Jordanien ist der Blick auf ein kulturhistorisch interessantes Reiseland. Und zweifellos hat Jordanien viel Positives zu bieten. Eine beeindruckende Kultur der Gastfreundschaft und die geringe Kriminalität ermöglichen ein angenehmes Reisen auf den für Tourist:innen vorgesehenen Routen. Die Strom- und Wasserversorgung ist intakt und alle Güter des täglichen Bedarfs sind problemlos verfügbar. In den wohlhabenden Stadtteilen der 4-Millionen-Metropole Amman ist alles erreichbar, was für den Konsum- und Freizeitbedarf der privilegierten Einheimischen sowie der mehreren zehntausend Expats erforderlich ist, die als ausländische Fachkräfte bei Auslandsvertretungen und Unternehmen, zu einem erheblichen Teil auch bei einer der zahlreichen internationalen Stiftungen und Hilfsorganisationen für Geflüchtete beschäftigt sind.

Für eine erste Annäherung an die Lebenssituation von Geflüchteten in Jordanien ist ein kurzer Vergleich instruktiv: Die Lebenshaltungskosten für Expats werden in den einschlägigen Online-Ratgebern auf ca. 1.400 Dollar monatlich für eine alleinstehende Person, ca. 3.000 Dollar für eine vierköpfige Familie geschätzt.5 Dagegen beträgt der gesetzlich fixierte Mindestlohn 260 Jordanische Dinar (JOD), was ungefähr 360 Dollar entspricht. Berechnungen des UNHCR zu den unbedingt erforderlichen Lebenshaltungskosten kommen zu dem Ergebnis, dass diese bei ca. 240 JOD für eine alleinstehende Person, ca. 500 JOD für einen 2-Personen-Haushalt und ca. 670 JOD für eine 4-köpfige Familie liegen.6 In Verbindung mit einer hohen Arbeitslosigkeit – nach amtlichen Statistiken von 22,3 % Ende des Jahres 20237 - sowie der Tatsache, dass der Mindestlohn nach Auskunft von Expert:innen immer wieder auch unterlaufen wird (ILO 2021, S. 7f.), bedeutet dies, dass ca. ein Drittel der Bevölkerung in Armut lebt.8 Dies gilt für Geflüchtete in zugespitzter Weise. Dies wird exemplarisch darin deutlich, dass über 60 % der Geflüchteten Ende 2023 darauf angewiesen waren, Nahrungsmittel durch Kredite zu finanzieren9. In Abhängigkeit von den jeweiligen Berechnungsmodellen gelten zwischen 57 % und 66 % der Geflüchteten als arm (Obi 2021, S. 1).

Bereits diese Hinweise und ein Blick in die leicht zugänglichen Daten des UNHCR10 zeigen: Kennzeichnend für die Situation der überwiegenden Mehrheit der Geflüchteten in Jordanien ist ein Überleben am Rand des Existenzminimums. Hinzu kommt eine existenzielle Unsicherheit der Zukunftsaussichten. Denn ihr Aufenthaltsstatus ist befristet, Möglichkeiten zu einer auf Dauer angelegten gesellschaftlichen Integration sind rechtlich nicht vorgesehen und werden politisch entschieden abgelehnt.11 Die doppelte Prekarität (vgl. Scherr 2023 und 2024; vgl. Grawert 2019) steht in einem deutlichen Kontrast zu einer Charakterisierung Jordaniens als „sicherer Zufluchtsort für Millionen Flüchtlinge aus der Region“, wie sie von der deutschen Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit und wirtschaftliche Entwicklung, Svenja Schulze, im Oktober 2023 geäußert wurde.12 Sicherheit ist für Geflüchtete in Jordanien nur insofern gegeben, als sie dort vor militärischer Gewalt und politischer Verfolgung in ihren Herkunftsländern geschützt sind, was zweifellos bedeutsam ist. Eine ökonomisch gesicherte Existenz, die Möglichkeit, auf der Basis existentieller Grundsicherheit eine zukunftsbezogene Lebensperspektive entwickeln und realisieren zu können sowie eine hinreichende Gewährleistung politischer und sozialer Menschenrechte sind jedoch nicht gegeben.

Dies gilt auch für die soziale Grundsicherung (siehe den Beitrag von Jalal Al Husseini in diesem Band). Zwar haben Flüchtlinge in Jordanien prinzipiell Zugang zu schulischer Grundbildung und zum Gesundheitssystem, obwohl auch diesbezüglich relevante Einschränkungen gegeben sind, auf die in folgenden Beiträgen noch eingegangen wird. Die Leistungen der sozialen Grundsicherung des National Aid Fund stehen jedoch exklusiv jordanischen Staatsbürger*innen zur Verfügung. Geflüchtete, die ihren Lebensunterhalt nicht durch Erwerbsarbeit oder private Unterstützung sicherstellen können, sind deshalb auf finanzielle Hilfen durch das World Food Programme (WFP) sowie karitative Leistungen internationaler und nationaler Nichtregierungsorganisationen (NGOs) angewiesen. D.h.: auf mildtätige Gaben, auf die sie keine rechtlich gewährleisteten Ansprüche haben und die nur in begrenztem Umfang verfügbar sind. Mitte 2024 erhielten 410.000 Geflüchtete in Jordanien Zahlungen des WFP. Diese mussten 2023 erheblich – von 23 JOD auf 15 JOD pro Person und Monat - reduziert werden.13

Symptomatisch für die Situation ist die Auskunft, die der UNHCR Jordan abgelehnten Antragsteller*innen für finanzielle Hilfen auf seiner einschlägigen Informationsseite gibt:

„Aufgrund der begrenzten Finanzierung muss sich das UNHCR auf die Ärmsten der Armen konzentrieren. Obwohl wir wissen, dass Sie bedürftig sind, wurden andere, die noch bedürftiger sind als Sie, für die Bargeldhilfe (…) ausgewählt. Möglicherweise haben Sie jedoch Anspruch auf andere Arten von Hilfe, wie z.B. Gesundheitsdienste von Caritas."14

Aber auch Beratung und Unterstützung durch NGOs und Soziale Arbeit ist überwiegend nur in dem Rahmen erreichbar, der durch Spenden und private Hilfeorganisationen bereitgestellt wird und wird dem vorhandenen Bedarf in keiner Weise gerecht (siehe dazu Nashwan/Scherr 2024 sowie die Beiträge von Kurdi, Alshamleh sowie Anabtawi und Taha in diesem Band).

Für die prekäre Existenzsicherung der Geflüchteten in Jordanien sind Mittel aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit Jordaniens politisch und ökonomisch von zentraler Bedeutung. Ihr Umfang betrug z.B. im Jahr 2022 4,4 Milliarden Dollar, davon 760 Millionen im Rahmen des Syrian Response Plans, also der internationalen Unterstützung für syrische Flüchtlinge. Dies bei staatlichen Ausgaben von insgesamt 10,6 Milliarden Dollar in 2022.15 Von den Geldern der Entwicklungszusammenarbeit wurden ca. 700 Millionen durch die EU und ca. 250 Millionen zusätzlich durch Deutschland bereitgestellt (Ministery of Planning and International Cooperation 2023); Deutschland gilt nach den USA als der zweitgrößte nationale Geldgeber Jordaniens.16 In einer polemisch zugespitzten, aber gleich instruktiven Perspektive der kritischen Migrationsforschung wird Jordanien vor diesem Hintergrund als ein „refugee rentier state“ bezeichnet (Tsourapas 2022, S. 2). Damit wird akzentuiert, dass die Aufnahme von Geflüchteten einerseits zu erheblichen Einnahmen für das Aufnahmeland führt, und anderseits zugleich funktional ist für eine Politik der Flüchtlingsabwehr seitens der Geberländer.

Im Unterschied dazu wurde in einer politisch einflussreichen Perspektive der...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8849-6 / 3779988496
ISBN-13 978-3-7799-8849-6 / 9783779988496
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