Soziale Arbeit und Soziologie (eBook)
267 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8890-8 (ISBN)
Tobias Sander, Prof. Dr., hat seit 2023 eine Professur für Sozialwissenschaften, insb. Soziologie an der HAWK Hildesheim inne. Von 2016-2023 war er Professor an der International University of Cooperative Education, Darmstadt. Nebenberuflich berät er Länder und Kommunen in verschiedenen Feldern der Sozialplanung. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Ungleichheits-, Bildungs- und Professionssoziologie, soziologische Theorien, qualitative und quantitative Methoden empirischer Sozialforschung, Soziale Arbeit und Organisationsentwicklung im Gesundheitswesen. Andreas Langer, Prof. Dr., ist Professor für Sozialwissenschaften an der HAW Hamburg.
Soziale Arbeit und Soziologie
Selbstverständnisse und Bezüge
Tobias Sander und Andreas Langer
Die Debatte um die Emanzipation der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, mithin der Sozialen Arbeit als eigenständige Disziplin ist in den vergangenen Jahren deutlich zur Ruhe gekommen. Wurden in den beiden Jahrzehnten um die Jahrtausendwende die bezugswissenschaftlichen disziplinären Bezeichnungen in den Modulkatalogen von Studiengängen der Sozialen Arbeit noch oftmals vermieden und in Chiffren wie etwa ,Entwicklungsprobleme‘ (Entwicklungspsychologie) übersetzt, zeigen neuere Studiengangsmodelle im Zuge von Akkreditierungsverfahren eine deutlich entspanntere Haltung. Dies spiegelt die mittlerweile erreichte gewisse disziplinäre Eigenständigkeit der Sozialen Arbeit. Dabei befruchten sich Soziologie und Soziale Arbeit in Theoriebildung und empirischen Forschungsprogrammatiken bereits seit Jahrzehnten gegenseitig – und zwar unabhängig von solchen professionellen Inszenierungen.
Zum Verhältnis von Soziologie und Sozialer Arbeit ließe sich die These vertreten, dass sich die Soziologie erkenntnistheoretisch und gegenständlich sicherlich breiter und/oder tiefer als die Forschung in der Sozialen Arbeit mit der empirischen Erhellung von Handeln im menschlichen (Zusammen‑)Leben befasst.1 Eine andere These der gegenseitigen Befruchtung könnte aber auch lauten, dass die Soziologie eine alternative Analyse der Gegenstände Sozialer Arbeit unterbreitet, dabei auch die Soziale Arbeit selbst als Gegenstand in den Blick nimmt, aber gleichzeitig ihre (eigenen) Gegenstände und Erkenntnisinteressen mindestens teilweise aus der Sozialen Arbeit gewinnt.
All dies verweist auf das Konzept der Sozialen Probleme. Soziale Probleme bilden schließlich – einer breit anschlussfähigen theoretischen Grundierung der Sozialen Arbeit folgend – die Argumentationsfolie sozialarbeiterischer und sozialpädagogischer professioneller Interventionen auf der Grundlage wohlfahrtsstaatlicher Infrastrukturen (vgl. Groenemeyer 2018). Dabei geht es aber nicht nur um den vielzitierten Praxisbezug oder um anwendungsorientierte Forschung. Schließlich sind die Erkenntnisinteressenprogrammatiken der Soziologie ebenso wie diejenigen, die zur Identifikation sozialer Probleme führen als Produkt gesellschaftlich komplex situierter Intersubjektivierungen bzw. entsprechender Aushandlungsprozesse aufzufassen: auf alltagsweltlichen, mikropolitischen und schließlich institutionell vermittelten (meso- und makro-)politischen Arenen. Die Erkenntnisinteressen der Soziologie wie der Sozialen Arbeit fußen also – zugespitzt gesprochen – gleichermaßen auf sozialen Konstruktionen.
Soziale Arbeit – politisches Mandat und Individualisierung
Die Reflektion gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse kann schließlich als Domäne der Sozialen Arbeit bezeichnet werden. So werden in der Sozialen Arbeit Verläufe und Ergebnisse solcher Aushandlungsprozesse als Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse aufgefasst, welche von Sozialarbeiter:innen eben nicht unhinterfragt übernommen und damit reproduziert, sondern kritisch begleitet und im Zweifel auch dekonstruiert und professionell umgedeutet werden (sollen). Diese alltägliche professionelle Handlungskonfiguration ist im Tripel-Mandat verankert und bildet allein insofern einen Kerngegenstand der Ausbildung angehender Sozialarbeiter:innen und Sozialpädagog:innen.
Als wissenschaftlich grundierte, sich der Bearbeitung sozialer Probleme widmende Professionalität steht in der Sozialen Arbeit die Fachkräfte-Adressat:innen-Interaktion im Zentrum des Selbstverständnisses – in ihren Kernhandlungsfeldern und professionellen Funktionen und Rollen. Dies verdeutlicht die geradehin ubiquitäre Bedeutung von Tripel-Mandat und uno-actu-Prinzip hinsichtlich der Rahmung professionellen Handelns (in) dieser personengebundenen (Dienst-)Leistung. Auch wenn die sogenannte Psychologisierung der Sozialen Arbeit seit Jahrzehnten ,überwunden‘ ist: Soziale Probleme sind in der Sozialen Arbeit immer zuerst Probleme der Einzelnen (Adressat:innen) gegenüber ,der‘ Gesellschaft und weniger Probleme sozialer Vielheiten. So erscheint in einem die „ganze Person“ (Sander/Weckwerth 2019: 10) adressierenden, im weiteren Sinne pädagogischen Setting naheliegenderweise stets „jeder Fall anders“ (Stummbaum/Harrer-Amersdorfer 2023: 18).2
Diese Individualisierungstendenz wird in der sozialarbeitswissenschaftlichen Theoriebildung mitunter zu einem Individualisierungsideal überhöht. Demnach wird jegliches Wissen über das jeweilige Gegenüber (Adressat:innen) ausschließlich in der konkreten Interaktionssituation erworben. Wissenschaftliche Befunde und Heuristiken, also jegliches die Beziehung zwischen Adressat:innen und Fachkräften ordnende und damit prägende ex- oder implizite Wissen, be- oder verhindern demnach das (gegenseitige) Verstehen maßgeblich (vgl. Müller/Schütte-Bäumner/May 2014; Sander 2021: 252). Soziologisch orientiertes ,Wissen‘ etwa über soziale Ungleichheiten, geschlechtsrekurrierende Selbst- und Fremdzuschreibungen, Stigmatisierungsmuster im Flucht- und Migrationskontext usw. soll oder vielmehr darf in dieser Lesart kein Bestandteil der Fachlichkeit in der Sozialen Arbeit sein (!). Wozu also empirische Forschung in der Sozialen Arbeit – etwa soziologisch inspirierte – wenn sich die Fachkräfte jegliches Wissen vorgeblich ausschließlich in den konkreten Interaktionssituationen mit den Adressat:innen aneignen?
Demgegenüber gehen zumindest zwei der ,Großtheorien‘ der Sozialen Arbeit durchaus von einer relevanten subjektübergreifenden Ähnlichkeit von (sozialen) Problemen – im Sinne von Teilhabebeeinträchtigungen – aus. Neben der Reflexiven Sozialpädagogik wird dabei die Lebensweltorientierung oftmals als Individualisierungsforderung nach dem Motto ,jeder Fall ist anders‘ aufgefasst. Allerdings betont gerade die Lebensweltorientierung die subjektübergreifenden Ähnlichkeiten von alltagsbasierten Herausforderungen: Schließlich sollen die Fachkräfte die „Unmittelbarkeit der Erfahrungen“ der Adressat:innen mit einem Wissen über „soziale und kulturelle Rahmenbedingungen“ (Thiersch/Grunwald/Köngeter 2012: 176) kontrastieren.3 Eine solche Informiertheit über subjektübergreifende soziale Lagen und Alltagskulturen erleichtert den Fachkräften demnach 1) das ,Verstehen‘ der Adressat:innen in den ersten Kontaktsituationen und somit 2) den nachfolgenden Aufbau von Arbeitsbündnissen.
In dem ebenda aufgeführten Fallbeispiel gelingt der Fachkraft in der sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) die (Mit-)Bildung eines Arbeitsbündnisses eben auch, weil sie über die Geschlechterrollenbilder in einer sizilianischstämmigen Arbeiter:innenfamilie fachlich-wissenschaftlich (vor)informiert ist und ihre Kontaktgestaltung entsprechend ausrichten kann (ebd.: 176–178). Die ,Eigensinnigkeiten‘ der Adressat:innen sind also nur teilweise als individuelle, sondern auch als intersubjektive Phänomene aufzufassen. Ein Verstehen der Adressat:innen bezüglich ihrer tatsächlich singulären Deutungsmuster findet in praxi natürlich parallel und korrigierend statt. Soziologisches ,Wissen‘ über kollektive Probleme kann insofern nicht zu den gefürchteten Schematisierungen bzw. Gruppenzuordnungen im Sinne von Vorverurteilungen führen. In dem engen und längerfristigen Interaktionszusammenhang wie im Beispiel der Einzelfallhilfen ist dies hochgradig unwahrscheinlich (vgl. konträr dazu Müller/Schütte-Bäumner/May 2014).4
Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird indes auch in der Soziologie ständig verhandelt. Die soziologische ,Meistererzählung‘, die Dualität von Handeln und Struktur, betont, dass die Regeln des Zusammenlebens (Strukturen) in jeder Sekunde immer wieder aufs Neue durch die Praxis der Individuen zu Stande kommen. Dabei werden die Handlungsspielräume von den einzelnen soziologischen Theorien unterschiedlich umfangreich veranschlagt – und damit sozialer Wandel mehr oder weniger wahrscheinlich. Doch selbst handlungstheoretische soziologische Ansätze, welche zumeist die individuelle Perzeption der (menschlichen) Umwelt hervorheben und so letztlich von kollektiven Regeln abweichendes Verhalten wahrscheinlicher erscheinen lassen, unterstellen grundsätzlich subjektübergreifende Prägungen und damit Handlungsdispositionen. Dies gilt innerhalb des handlungstheoretischen Paradigmas in der Soziologie selbst für...
Erscheint lt. Verlag | 20.11.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8890-9 / 3779988909 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8890-8 / 9783779988908 |
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