Einführung in die Bildungssoziologie (eBook)
138 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-040482-3 (ISBN)
Dr. Michael Bayer ist Professor für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg und forscht zu Sozialer Ungleichheit, (Kinder-)Armut und Bildungssoziologie.
Dr. Michael Bayer ist Professor für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg und forscht zu Sozialer Ungleichheit, (Kinder-)Armut und Bildungssoziologie.
2 Konturen des Bildungskonzepts
Über Bildung wird nicht nur viel in der Öffentlichkeit diskutiert; vielmehr stellt die Auseinandersetzung über den sowohl ›richtigen‹ Bildungsbegriff als auch dessen Abgrenzung von anderen Begriffen wie etwa Erziehung oder Sozialisation eine mittlerweile auf Dauer gestellte Diskussion innerhalb und zwischen den sich dafür zuständig fühlenden Fachdisziplinen dar. Wenn im Folgenden die Konturen dieser wissenschaftlichen Debatten nachgezeichnet werden, soll dies jedoch keineswegs ein Selbstzweck sein. Damit soll vielmehr eine Grundlage erarbeitet werden, die es den Lesenden ermöglicht, die Besonderheiten bildungssoziologischer Fragestellungen, Forschungszugänge und Befunde sortieren und beurteilen zu können. Einerseits soll hierdurch verdeutlicht werden, inwieweit und an welchen Stellen Ähnlichkeiten im Verständnis und den Anliegen unterschiedlicher Fachdisziplinen vorhanden sind, und andererseits, wo die besonderen bildungssoziologischen Perspektiven beginnen und inwieweit diese dann auch eine spezifische Fragerichtung auf Bildung, Ausbildung und Bildungsverläufe beinhalten.
Neben dieser disziplinären Gemengelage, in der Diskussionen über Bildungsbegrifflichkeiten sowie deren historische und normative Grundlegung geführt werden, zeigt sich der Bildungsbegriff selbst umgeben von einer Reihe anderer Begrifflichkeiten, die sich in einem nicht immer ganz eindeutigen Verhältnis zu Bildung zeigen.
Hierzu gehören sowohl der Begriff des Lernens, mit dem auf den Prozess oder die Handlungsform des Erwerbs von Bildung abgezielt, der jedoch ebenfalls ganz unterschiedlich verstanden wird (Holzkamp, 1995), genauso wie der Begriff der Kompetenz (Weinert, 2001), der mittlerweile eine zunehmende Dominanz in den sowohl sozialwissenschaftlichen wie auch bildungspolitischen Diskussionen erlangt hat. Entsprechend findet sich weiter unten eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Kompetenzkonzept innerhalb des Bildungsbereichs (▸ Kap. 2.4).
An der Nahtstelle zwischen Soziologie und allgemeiner Öffentlichkeit werden darüber hinaus Beschreibungsbegriffe platziert, in denen sich Diagnosen über die zentralen Kennzeichnungsmerkmale von Gesellschaft und auch die Relevanz, die Bildung in diesen Gesellschaften zukommt bzw. zukommen soll, ausdrücken. So spricht etwa Manuel Castells (2001, 2002, 2003) von der »Netzwerkgesellschaft in einem Informationszeitalter«. Der amerikanische Soziologe Daniel Bell (1975) kennzeichnet in seinem Buch über die nachindustrielle Gesellschaft diese als eine Wissensgesellschaft. Die Soziologin Jutta Allmendinger spricht von der Bildungsgesellschaft und kommt von diesem Begriff dann auch auf direktem Weg zur Diagnose zunehmender Bildungsarmut (https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/158109/bildungsgesellschaft/, Allmendinger, 1999), da sie Bildung als zentral für die Lebenschancen von Menschen definiert. Diese Reihe an Gesellschaftsbegriffen ließe sich sicherlich auch mühelos fortführen, entscheidend ist jedoch vor allem die zunehmende Nutzung von Beschreibungen, die sich im Begriffskontext von Information, Wissen, Lernen, Bildung und Kompetenz bewegen. Damit wird deutlich, dass die Gesellschaft, in der wir uns bewegen, zunehmend oder zumindest auch durch Begrifflichkeiten charakterisiert wird, die im weitesten Sinne mit Bildung zu tun haben, während es bis vor kurzem eher Beschreibungen wie Industriegesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft o. Ä. waren, mit denen sich die Sozialwissenschaften auf gesellschaftliche Phänomene bezogen.
Bildung ist das neue Schlagwort, wenn es um gesellschaftliche Herausforderungen geht und vor allem, wenn es um die Frage geht, was getan werden sollte. Dann lautet die Antwort meist: mehr Bildung oder auch mehr Bildungsgerechtigkeit.6 Ob und inwiefern ein einfaches ›Mehr‹ jedoch an den gleichzeitig diagnostizierten Ungleichheiten wie auch Ungerechtigkeiten im Bildungssystem etwas ändern kann, ist zumindest befragungswürdig. Über Bildung spricht die Gesellschaft, spricht die Politik ja auch nicht erst seit Kurzem; vielmehr stellen Bildung oder – wenn man historisch etwas weiter ausgreift – Erziehung wichtige gesellschaftliche Thematiken dar.
2.1 Bildungsbegriffe – Bildungsverständnisse – Bildungstheorie
2.1.1 Ein erster Blick auf den Bildungsbegriff
Würde man unterschiedliche Menschen nach ihrem Verständnis von Bildung fragen, so bekäme man sicherlich eine Vielzahl an sich unterscheidenden Antworten. Wir sprechen in unserer Gesellschaft mittlerweile zwar andauernd über Bildung, sobald es jedoch etwas konkreter wird oder werden soll, zeigt sich, dass wir gar nicht immer so genau wissen, was darunter zu fassen ist und was etwa an Bildung anders ist als z. B. an Erziehung.
Gleichzeitig ist Bildung aber auch nicht einfach nur ein Begriff, sondern wird häufig als eine Art Versprechen formuliert. Das wird sofort deutlich, wenn man sich etwa Diskussionen im globalen Kontext anschaut. So benannte beispielsweise die Weltbank7 vor einigen Jahren eine Kampagne mit dem schlagenden Titel: »Educate girls, end child marriage«. Bildung wird hier als eine Art Hebel präsentiert, mit dem sich die Lebenssituation von Mädchen bzw. Frauen verbessern lässt. Gleichzeitig versteht die Weltbank Bildung für Mädchen aber nicht nur als eine moralische Aufgabe; vielmehr wird die Bildung von Mädchen im globalen Kontext darüber hinaus als etwas gesehen, was ökonomisch sinnvoll ist.8
Bereits hier kommt etwas zum Vorschein, was in den nachfolgenden Kapiteln und Abschnitten immer wieder eine Rolle spielt: in unserem Verständnis von Bildung spiegeln sich auch Erwartungen an das wieder, was sich Gesellschaften von Bildung erhoffen.
Bevor wir uns in der Folge dann vor allem mit dem deutschen Bildungsbegriff und mit der modernen Bildungsforschung auseinandersetzen, soll hier ein erster empirischer Blick in Bildungsentwicklungen auf globaler Ebene geworfen werden, der verdeutlicht, in welche großen Veränderungsprozesse Diskussionen über Bildung eingebettet sind. In Abbildung 1 findet sich eine Übersicht der Alphabetisierungsentwicklung auf Ebene der Weltbevölkerung in den letzten mehr als 200 Jahren (▸ Abb. 1).
Abb. 1:Alphabetisierungsgrad der Weltbevölkerung (15 Jahre und älter) (eigene Darstellung mit Daten von Our World in Data; https://ourworldindata.org/global-education#literacy)
Es zeigt sich erstens, dass noch Mitte des 20. Jahrhunderts erst ca. die Hälfte der erwachsenen Weltbevölkerung über Fähigkeiten im Lesen und Schreiben verfügte und dass wir zweitens seit dem Jahrtausendwechsel eine Art von Plateau erreicht zu haben scheinen. Lesen und schreiben stellen sicherlich mit die zentralen Kulturtechniken aus dem Bereich von Bildung dar und Fortschritte in diesem Bereich zeig(t)en deutliche individuelle wie auch gesellschaftliche Effekte.9
Wovon im globalen Kontext gesprochen wird, wenn es um Bildung geht, ist aber im Regelfall schulische Bildung oder zumindest Bildung, wie sie in Institutionen vermittelt wird. Die Indikatoren, die hierbei verwendet werden sind neben so etwas wie »Alphabetisierungsgrad einer Bevölkerung« beispielsweise der »mittlere Anteil absolvierter Schuljahre« (so ein Indikator für die Bildungsentwicklung von Gesellschaften im sogenannten HDI10). Für einen sehr groben und die jeweiligen Besonderheiten nationaler Bildungssysteme ausblendenden Blick sind solche Indikatoren sicherlich hilfreich. Gleichzeitig ›erkauft‹ man sich diesen vergleichenden Blick dann aber auch damit, dass von nationalen Diskussionen und Begriffsverständnissen weitgehend abstrahiert wird bzw. sich dadurch möglicherweise auch eine vermeintlich einheitliche Vorstellung von Bildung durchsetzt.
Die Frage, ob und inwieweit so etwas kritisch zu sehen ist, ist an dieser Stelle jedoch weniger wichtig. Zentral ist vor allem, dass man sich bewusst macht, für was (z. B. für welche Bildungspolitik) welche Arten von Analysen relevant sind bzw. sein könnten. Anknüpfend an die oben formulierte Anmerkung zu »Bildung als Versprechen« sollte man jedoch keineswegs die möglichen Auswirkungen der Nutzung bestimmter Begriffsverständnisse von Bildung unterschätzen.
Nach diesem kurzen Blick auf die globale Ebene der Beschäftigung mit Bildung, geht es im nächsten Schritt um eine vertiefende Auseinandersetzung mit diesem Begriff in der deutschsprachigen Diskussion, da hier mindestens drei Begriffe aufeinandertreffen, die zwar nicht identisch sind und auch nicht exakt das gleiche bezeichnen, die jedoch große Überlappungen aufweisen: Bildung, Erziehung und Sozialisation.
2.1.2 Der Bildungsbegriff im Kontext von Erziehung und Sozialisation
Zwar hatten wir im letzten Abschnitt Befunde kennengelernt, die ein vermeintlich einfaches Verständnis des Begriffs Bildung (meist als Schulbildung) nutzten. Und wenn man ganz pragmatisch wäre,...
Erscheint lt. Verlag | 6.11.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
Schlagworte | Bildungsbenachteiligung • Bildungsforschung • Bildungsgerechtigkeit • Bildungspolitik • bildungspolitische Praxis • Bildungssystem • Bildungsteilhabe • Bildungstheorie • Bildungswesen • Bildungswissenschaften • Digitalisierung • Herkunft |
ISBN-10 | 3-17-040482-2 / 3170404822 |
ISBN-13 | 978-3-17-040482-3 / 9783170404823 |
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