Federico Fellini (eBook)
184 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-10896-8 (ISBN)
Federico Fellini – immer noch ein Fall für das Kino?
Einleitung und Überblick
Gerhard Schneider
Warum denn noch Fellini?
Das Filmseminar Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie am Cinema Quadrat in Mannheim startete 2002 mit dem Regisseur Sergej Eisenstein, vorgestellt von dem eminenten Eisenstein-Kenner Hans-Joachim Schlegel († 2016). Ab 2003 wird es in der jetzigen Form durchgeführt: Im Zentrum steht das Œuvre eines Regisseurs1, das von Psychoanalytikern und Filmwissenschaftlern diskutiert wird (vgl. Schneider 2021). Dabei lag der Schwerpunkt zunächst auf den großen Regisseuren der 1950er und 60er Jahre: Diskutiert wurden Alfred Hitchcock (2003), Roman Polanski (2004), Luis Buñuel (2005), Ingmar Bergman (2006), später kamen aus dieser Reihe Michelangelo Antonioni (2009), Pier Paolo Pasolini (2011), Akira Kurosawa (2017) und Jean-Luc Godard (2020) hinzu.2 Mit Pedro Almodóvar (2007) hat sich der Schwerpunkt des Seminars auf Regisseure mit dem Hauptwerk in den 1980er und 90er Jahren oder später verlagert (z.B. David Lynch, Michael Haneke, François Ozon, Claire Denis).
Vergegenwärtigt man sich den ersten Schwerpunkt der Reihe, dann fällt das Fehlen eines zu seiner Zeit, also im fernen »Damals« berühmten Regisseurs auf, der die Filmgeschichte mit geprägt hat, nach seinem Tod 1993 aber relativ bald aus dem Rampenlicht, in dem er sehr lange gestanden hatte, verschwand. Dass Federico Fellini doch nicht vergessen war, wurde durch Ausstellungen, Erinnerungen und Analysen in den Medien im Zusammenhang mit seinem 100sten Geburtstag 2020 und auch die Rückkehr eines seiner Hauptwerke, La dolce vita (Arthaus, 2022) in einer restaurierten 4K-Fassung in die Kinos manifest. Es war also mehr als überfällig, dass wir nach der Wieder-Entdeckung Godards für unsere Seminarreihe »au contraire« zu dessen »denkenden Bildern« (Hamburger et al., 2020) uns den »träumenden Bildern« Fellinis zuwenden wollten – allerdings nicht im Sinne des Versuchs eines nostalgisch-eskapistischen Wiederfindens der guten alten Zeit, sondern mit der kritischen Frage, ob dieser Regisseur aus einer »guten« alten Zeit unserer zutiefst verunsicherten und aktuell heillosen Jetzt-Zeit überhaupt etwas zu sehen und erfahren geben könne oder ob seine Zeit wirklich abgelaufen sei. Oder könnte er doch in irgendeiner Weise »unzeitgemäß zeitgemäß« sein?
Die Beiträge
Gerhard Midding geht in seinem Überblicksvortrag der Frage der Zeitgenossenschaft Fellinis in einem Gesamtblick auf dessen Werk nach. Einerseits hat er Zeit seiner Karriere den Mythos vom Regisseur als Zirkusdirektor kultiviert, der seine privaten Obsessionen, Träume und Erinnerungen vor der Kamera zelebriert und zugleich bändigt – er ist der Inbegriff des auteur, der zum Publikum in der ersten Person Einzahl spricht. Andererseits zeigen seine Filme durchaus viel von der politischen und sozialen Entwicklung Italiens, sein Kino unterhält ein komplexes, wachsames Verhältnis zur Wirklichkeit, seit er als Drehbuchautor im Neorealismus anfing, auch wenn er in seinen Filmen nur selten gesellschaftliche Visionen zu entwickeln scheint. In beiderlei Hinsicht hat sich Fellinis Kino eine nicht zeitverhaftete, vitale sinnliche Präsenz (actualité) bewahrt.
Dirk Blothner arbeitet heraus, dass sich Fellini in seinem fünften Film La strada (La Strada – Das Lied der Straße, 1954) zwar deutlich vom italienischen Neorealismus verabschiedet, aber noch nicht zu der Form findet, die man als »fellinesk« bezeichnet. Mit La strada entwirft er eine im Wesentlichen durch Unbewusstes und durch Mythen bestimmte Wirklichkeit, wobei typisierte Figuren Grundgestaltungen des Psychischen verkörpern. Damit räumt der Film seinen Zuschauern eine distanzierte Position gegenüber einer mythischen Welt ein, und die Gestaltungen des Unbewussten werden noch nicht so wie einige Jahre später etwa in 8 1/2 (1963) spürbar. Diese späteren fellinesken Filme verringern die Distanz, indem sie Unbewusstes als einen schwer fassbaren, mythischen Produktionszusammenhang unmittelbar erfahrbar machen.
Andreas Hamburger stellt zunächst dar, was für ihn ein von der psychoanalytischen Methode her gesehen genuines filmpsychoanalytisches Vorgehen ist, und hinterfragt dementsprechend in seinem Beitrag zu 8 1/2 (Achteinhalb, 1963) eine vom Film nahegelegte psychologisierende, auf den Regisseur bezugnehmende Interpretation, etwa die verbreitete These, dass der Film eine Schaffenskrise Fellinis nach La dolce vita thematisiere . Stattdessen verfolgt er die Irritationen, die 81/2 beim Zusehen auslöst, vor allem die ansteckende Prokrastination, die im Film selbst, seiner Produktion und auch seiner analytischen Bearbeitung auftritt. Durch sie kann der Film als Flucht vor einer als unabwendbar erlebten Katastrophe des Zusammenbruchs aller menschlichen Beziehungen im Angesicht der atomaren Bedrohung entziffert werden.
Manfred Riepe sieht La dolce vita (Das süße Leben, 1960) als einen Wendepunkt zwischen Fellinis neorealistischem Frühwerk und jenen opulent-barocken Bildwelten, die er daraufhin realisierte.
Fellini interessierte sich für die römische Flaniermeile Via Veneto, einen Laufsteg der Eitelkeiten, beobachtet aus der Sicht eines Klatschreporters (Marcello). Die lacanianisch orientierte filmpsychoanalytische Deutung des Autors verfolgt den Weg dieser Hauptfigur, die er als Vertreter des Zuschauers interpretiert. Im Gegensatz zur gängigen Lesart, den Film als Manifestation von Dekadenz aufzufassen, als »Leere hinter dem Glanz«, nähert sich in der von ihm vorgestellten Lesart Marcello sukzessive an jenes Objekt an, das nach Jacques Lacan das Objekt klein a als Ursache des Begehrens ist – und das der Film als Glanz hinter der Leere in Szene setzt.
Katharina Leube-Sonnleitner leitet ihre Überlegungen zu La città delle donne (Stadt der Frauen, 1980) mit einigen Bemerkungen zu Fellini und zur turbulenten Entstehungsgeschichte des Films ein, die bereits etwas von dessen Atmosphäre widerspiegeln, die im weiteren Text spürbar wird. Sie charakterisiert ihren Beitrag, der die Konstruktion weiblicher und männlicher Sexualität untersucht, als »weibliche Lektüre«, der zugleich Fellinis Perspektive und die des Feminismus am Herzen liege. Dabei wird insbesondere die Vermischung der Ebenen von Regisseur, Protagonist und Schauspieler (Fellini, Snàporaz als männlicher Protagonist und Marcello Mastroianni als dessen Darsteller) reflektiert, die der Film immer wieder erzeugt, als einen »prolongierten Traum«. Dementsprechend schließt der Beitrag mit Überlegungen zu Traum und Film.
Rainer Görling versteht Roma (Fellinis Roma, 1972) als einen Film über die Zeit, über die Erinnerungsspuren und Bilder, die das Leben und die Geschichte prägen. Sie sind nicht passiv, vielmehr gehen sie, psychoanalytisch gesehen, als »Rätsel der Verführung« (Jean Laplanche) in unsere Phantasien ein und transformieren sich so auch. Der Autor zeigt das am Insistieren einiger Bilder des Films in seinem eigenen biographischen Erleben und in der filmischen Konstruktion von Fellini selbst auf, in der die drei Zeitebenen der Kindheit, des Erwachsenwerdens zu Beginn der 1940er Jahre und der Gegenwart Roms um 1970 eine solche Transformation entfalten. In der langen Passage über den U-Bahn-Bau und im Schlussteil macht Fellini deutlich, dass diese Spuren und Erinnerungen sich abwenden, wenn sie in der Gegenwart gesehen, aber nicht geachtet werden.
Dietrich Stern stellt die Musik in Fellinis Filmen vor. Sie stammt von Nino Rota, bis zu seinem Tod (1979) Fellinis einziger Komponist, der mit seinen Themen und Motiven dessen Filmen einen unverwechselbaren Charakter gab – und überhaupt die Filmmusik des 20. Jahrhunderts mitgeprägt hat. Der Autor untersucht an ausgewählten Beispielen die Strukturen der musikalischen Themen und die Art und Weise, wie sie als »Hauptfiguren«, als eigene Persönlichkeiten im Film auftreten und dessen Erzählung mit konstituieren. Rotas Musik bewegt sich an der Grenze zwischen Klassik und populären Bereichen und zwischen Ironie und Nostalgie. Wie Fellini in seiner Filmsprache erlaubt er dem Publikum einen offenen Blick auf die Fabrikation der Illusionen dadurch, dass er die verwendeten musikalischen Formen gewissermaßen porträtiert.
Timo Storck bringt in seiner Interpretation von Intervista (Fellinis Intervista, 1987), dem vorletzten und in seinem Aufbau komplexesten aller Fellini-Filme, den Begriff der (film-)psychoanalytischen Probedeutung ins Spiel. Intervista präsentiert in sich drei weitere Filme, die einander überlagern, in sich wiederum verschachtelt sind und sich jeweils von einer der anderen Betrachtungsebenen aus verstehen lassen: zu sehen sind ein japanischer Fernsehfilm über Fellini, Fellinis fiktive Arbeit an Kafkas Amerika, Fellinis Rückblick auf seine Jugend. Die These ist, dass sich...
Erscheint lt. Verlag | 8.1.2024 |
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Mitarbeit |
Sonstige Mitarbeit: Friederike Buchholz |
Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Fellini • Filmgeschichte • Filmpsychoanalyse • Filmtheorie • Kino • Psychoanalyse |
ISBN-10 | 3-384-10896-5 / 3384108965 |
ISBN-13 | 978-3-384-10896-8 / 9783384108968 |
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Größe: 13,9 MB
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