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Das schwere Erbe der marxistischen Nietzsche-Kritik (eBook)

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2024 | 1. Auflage
862 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-4069-3 (ISBN)

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Das schwere Erbe der marxistischen Nietzsche-Kritik -  Andreas Heyer
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Der Band rekonstruiert und analysiert die Entwicklung der marxistischen Nietzsche-Kritik, die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte. Daneben kommen auch die Kritiker dieser Denkrichtung zu Wort. Weitere wichtige thematische Schwerpunkte sind Lukács' Nietzsche-Bild und die Nietzsche-Debatte der untergehenden DDR.

Andreas Heyer, Dr. phil., Jahrgang 1974. Er arbeitet zu den politischen Utopien der Antike und der Neuzeit sowie zur Epoche der französischen Aufklärung. Seit 2012 ist er der Herausgeber der "Nachgelassenen Schriften Wolfgang Harichs". Der erste Band dieser Edition erschien 2013 unter dem Titel "Hegel zwischen Feuerbach und Marx". Mittlerweile liegt das Projekt in 20 Bänden abgeschlossen vor. Zahlreiche Monographien und Aufsätze zu den genannten Forschungsschwerpunkten sowie zur Philosophiegeschichte der DDR.

Franz Mehrings frühe Kritik an Nietzsche


1. Einleitende Bemerkungen

Wenn die Nietzsche-Beiträge von Franz Mehring im Folgenden betrachtet werden, dann ist immer zu berücksichtigen, dass diese Teil einer diskursiven Debatte waren, die theologische und bürgerliche Nietzsche-Kritiker ebenso umfasste wie Revolutionäre und Reaktionäre, Politiker und Politisierte. Darunter beispielsweise Ausführungen von Theoretikern wie Friedrich Jodl, der dem Materialismus Nahe stand. Und es existierten umfassende Nietzsche-Kritiken, die, auch wenn aus politisch unterschiedlichsten Richtungen stammend, den marxistischen Einschätzungen des 20. Jahrhunderts an Radikalität und Durchschlagskraft in Nichts nachstehen. Namentlich genannt seien nur Max Nordau, Otto Henne am Rhyn oder Ludwig Stein.31 Aber die Chronologie der möglichen gegenseitigen Beeinflussung darf eben nicht vergessen werden: Was im vorliegenden Fall bedeutet, dass Mehring eher die positive Literatur über Nietzsche, die Nietzscheaner seiner Gegenwart und die Nietzsche-Kritiken aus dem bürgerlichen Kontext kannte und (stillschweigend) verarbeitete.

Es ist daher durchaus bedauerlich, dass die im Anschluss an Mehring einsetzende marxistische Nietzsche-Kritik diesen Entstehungskontext einfach unterschlug. Denn bei der Belesenheit der ersten Autoren marxistischer Stellungnahmen zu Nietzsche, die vor dem Hintergrund der faschistischen Machtergreifungen in Europa nunmehr erneut und aus anderer Perspektive vor Nietzsche warnten, ist ein bewusster Ausschluss der bürgerlichen Nietzsche-Kritik durchaus zu vermuten: Gemeint sind Hans Günther und Georg Lukács.32

Lukács beispielsweise griff ja auf Mehrings Auseinandersetzung mit Kurt Eisners Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft zurück, so dass ihm dieses Buch bekannt gewesen sein muss. Falls es „die Ironie der Geschichte“ gibt, dann ist es sicherlich eine solche, dass Günther und Lukács ihrerseits aus den marxistischen Diskussionen – so es sich bei den DDR-Debatten um solche handelte – zeitweise ausgeschlossen wurden: Der eine, weil er das „Pech“ hatte, dem stalinistischen Terror zum Opfer zu fallen, der andere, weil er (neben vielen weiteren, parteilich bestimmten und dogmatisierten Gründen) der Untergangsgeneration der DDR-Wissenschaften als Produzent stalinistischer Theorie galt.33

Ernst Behler hielt fest: „Mehring hatte ein komplexes und keineswegs einseitiges Nietzsche-Bild, das sich im Verlauf der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts ausbildete und an Gestalt gewann.“34 Und es ist dabei evident, dass Mehring auch die Nietzsche-Kritiken von Georg Adler, Paul Ernst, Eduard Bernstein und Kurt Eisner auf jeden Fall kannte, andere publizistische Ereignisse dieser Jahre sicherlich ebenfalls wahrnahm. Diese ganze Tradition ging für den Marxismus im 20. Jahrhundert verloren, und zwar nicht nur in der DDR-Diskussion, sondern auch im Westen.35

Zu intervenieren ist allerdings gegen die These Behlers, dass Mehring ein „ein komplexes und keineswegs einseitiges Nietzsche-Bild“ entwickelte. Denn er arbeitete eher holzschnittartig und fokussierte einige wenige Punkte. Ein Ansatz, mit dem er deutlich hinter den frühen bürgerlichen Nietzsche-Kritiken zurückblieb.

Vivetta Vivarelli schrieb: „Franz Mehring, der unter den sozialdemokratischen Theoretikern die beständigste und leidenschaftlichste 'Gefechtsbeziehung' mit Nietzsche und seiner Philosophie unterhielt, gehört auch zu den ersten, die den Anstoß zur 'Politisierung' seines Gedankenguts geben. Trotz der unterschiedlichen Schattierungen, die die Bewertung Nietzsches von Mal zu Mal in den Schriften des marxistischen Theoretikers annimmt, wird doch seine Definition als 'Philosoph des Kapitalismus' zum verzerrenden Filter, durch den Nietzsche in den Spalten der Parteizeitungen präsentiert wird. Diese Anleitung zur politischen Interpretation Nietzsches wird darüber hinaus – auf Grund der unbestrittenen Autorität ihres Urhebers – sozusagen zum zwangsweise vorgezeichneten Weg, was den Schritt zu einer offeneren und ausführlicheren Abrechnung mit den anderen Aspekten von Nietzsches Gedankengut auf offizieller Ebene blockiert. Die Tendenz, Nietzsches Denken ideologisch seines Ansehens zu berauben, da sich sein Ruhm bis an den Rand der Sozialdemokratie hin ausweitete, bedient sich neben dem politischen Urteil eines Arguments, das eine lange Geschichte in der Rezeption Nietzsches, vor allem der akademischen, haben sollte: Sein Denken ist keine Philosophie, da es kein System hat; sie ist ein philosophisches Gestotter, 'das stotternde Philosophieren, resp. das philosophische Stottern Nietzsches', wie Eduard Bernstein in der Neuen Zeit schreibt.“36

Ernst Nolte hielt in seiner von der Nietzsche-Forschung ignorierten Schrift (beruhend auf einer Vorlesung) Nietzsche und der Nietzscheanismus fest: „Wenn man sich vergegenwärtigt, was für schroffe Aussagen Nietzsche über den Sozialismus gemacht hat, dann ist nichts weniger verwunderlich, als dass die Wortführer der Sozialdemokratischen Partei mit empörter Heftigkeit reagierten. Das intellektuelle Hauptorgan der Partei war die Neue Zeit, und keiner der Mitarbeiter der von Karl Kautsky redigierten Zeitschrift kam darin so häufig zu Wort wie Franz Mehring, der einmal ein 'Bürgerlicher' und 'Liberaler' gewesen war und sich, nicht zuletzt aus Hass gegen das preußisch-deutsche System, zum Vorkämpfer des Proletariats und zum Sozialisten gewandelt hatte. Mit seiner scharfen Feder nahm er mehrere Male zu Nietzsche Stellung, und er meinte dabei stets auch bestimmte zeitgenössische Erscheinungen außerhalb oder sogar innerhalb seiner Partei bzw. Richtung (…).“37

2. Mehrings Nietzsche-Kritik

Von Mehring liegen vier Beiträge vor, in denen er sich explizit mit Nietzsche auseinandersetzte: 1) 1891 erschien sein Buch Kapital und Presse. Ein Nachspiel zum Fall Lindau. Das IX. Kapitel (S. 119-127) beschäftigt sich explizit mit Nietzsche.38 Eduard Bernstein schrieb später in der Neuen Zeit – mit Blick auf die Notwendigkeit einer Nietzsche-Kritik: „Friedrich Nietzsche, der mit all seinen Abgeschmacktheiten und Manieriertheiten doch eine bemerkenswerte zeitgeschichtliche Erscheinung ist, ist bisher in diesen Blättern immer nur beiläufig behandelt worden. Und es möchte vielleicht zweifelhaft erscheinen, ob es einen Zweck habe, sich eingehender mit ihm zu beschäftigen. Denn heute hat gegen den Nietzscheanismus sowohl wie gegen den Antinietzscheanismus bereits die Reaktion eingesetzt – der Prediger des 'Übermenschen' wird weniger laut und unbedingt angepriesen, aber auch weniger erbittert bekämpft.39 Indes trotzdem unsere schnelllebige Zeit sich nicht lange über Dinge erregt, die keine direkte Beziehung zu den sie beschäftigenden materiellen Fragen haben, ist die Diskussion über Nietzsche doch eben nur eine ruhigere geworden, nicht aber verstummt, dauert der Einfluss des Mannes immer noch fort. Daher wäre es vielleicht doch angebracht, das Versäumte nachzuholen und 'den Fall Nietzsche' einmal vom Standpunkt der sozialdemokratischen Kritik zu untersuchen, d. h. nicht bloß Urteile mitzuteilen, sondern sie auch zu begründen. Ein Anfang dazu ist von Mehring in dem Schlusskapitel von Kapital und Presse gemacht worden, wo Mehring zwar nur eine Seite des Nietzscheanismus behandelt, dies aber in einer Weise, die als Probe gelten kann – um von einem Kollegen nicht mehr zu sagen –, wie fruchtbar und anregend gerade eine vom Standpunkt der Sozialdemokratie bzw. der ihr zu Grunde liegenden Geschichtsauffassung angestellte Untersuchung der sozial-philosophischen Schriften Nietzsches und ihres Einflusses sich gestalten müsste.“40 2) 1892 erschien dann Mehrings Rezension zu Kurt Eisners Psychopathia spiritualis in Die Neue Zeit (1892). Dieser Text wird im Kapitel zu Eisner besprochen. 3) 1897 folgte der Aufsatz Nietzsche gegen den Sozialismus (in: Die Neue Zeit, 1897), an den sich 4) zwei Jahre später der Aufsatz Über Nietzsche (in: Die Neue Zeit, 1899) anschloss.41 Mehrings Nietzsche-Bild entstand im Laufe eines knappen Jahrzehnts. Und zwar – wie bereits angedeutet – als durchaus geradliniger Prozess, eine Wortmeldung baute auf die vorhergehende auf, einschneidende thematische Brüche sind nicht festzustellen.

Schon in seinem ersten Beitrag sprach Mehring aus, dass Nietzsche „der Sozialphilosoph des Kapitalismus“ wäre.42 Das war eine Charakterisierung, die gegen Paul Lindau und auch gegen Georg Adler gerichtet war, der Nietzsche ja als den „Sozialphilosophen der Aristokratie“ bezeichnet hatte.43 Immerhin konnte Mehring bei Adler aber auch Charakterisierungen Nietzsches lesen wie: „Fratze des Größenwahns“; „die Lehren Nietzsches (…) leugnen also jegliche Moral im alten Sinn“; „So ist Nietzsches Theorie ein Ideal, das nie verwirklicht werden kann – und, fügen wir hinzu, glücklicherweise; denn dieses Ideal ist nicht einmal ein schönes! Was würde aus der Masse der Menschheit unter dem Regime...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Allgemeines / Lexika
Schlagworte Georg Lukács • Marxismus • MONTINARI • Nietzsche-Debatte • Wolfgang Harich
ISBN-10 3-7693-4069-8 / 3769340698
ISBN-13 978-3-7693-4069-3 / 9783769340693
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