Kein bisschen Frieden (eBook)
512 Seiten
Verlag Die Werkstatt
978-3-89684-722-5 (ISBN)
Christoph Bausenwein, Jahrgang 1959, ist in Nürnberg aufgewachsen. Der Philosoph und Historiker ist Autor zahlreicher Sachbücher und Biografien. U.a. verfasste er das Standardwerk »Geheimnis Fußball«.
Christoph Bausenwein, Jahrgang 1959, ist in Nürnberg aufgewachsen. Der Philosoph und Historiker ist Autor zahlreicher Sachbücher und Biografien. U.a. verfasste er das Standardwerk »Geheimnis Fußball«.
EINLEITUNG
Als sogenannter „Boomer“ – also einer aus den geburtenstarken Jahrgängen um 1960 – im Rentenalter angekommen und daher zunehmend erinnerungsselig geworden, war ich im Februar 2024 damit beschäftigt, meine Notizen aus den turbulenten 1980er-Jahren aufzuarbeiten – und meine etwas spezielle persönliche Geschichte darin –, um eventuell eine Art politische Biografie daraus zu destillieren. Damals war etwas entstanden, was später als „links-versifftes alternatives Milieu“ beschimpft worden ist, und ich wollte einfach mal festhalten, was uns bewegte, worüber wir diskutierten, welche Ideen und Texte uns faszinierten, wie wir uns in „Beziehungskämpfen“ ineinander verhakten, vor allem aber: wogegen wir rebellierten und wie wir uns im Protest engagierten. Ich war damals nur eine Randfigur, aber eine, die oft mittendrin stand und das Geschehen aufmerksam beobachtete. So gehörte ich zu jenen „Rebellen gegen die Wehrpflicht“, die nicht nur den Kriegsdienst mit der Waffe, sondern als Totalverweigerer auch den zivilen Zwangsdienst verweigert hatten. Anders als heute war der Begriff damals genuin politisch und noch nicht missbraucht als beleidigende Bezeichnung für Grundsicherungsempfänger, denen vorgeworfen wird, aus purer Faulheit eine zumutbare Arbeit abzulehnen. Wir hingegen – also diejenigen, die in den sogenannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ aktiv waren – empörten uns vor allem über das Fehlen einer elementaren Grundsicherheit. Getrieben von der Angst vor menschengemachten Bedrohungen, die das Überleben der Menschheit gefährden könnten, sahen wir uns provoziert zu einer Art multiplen Selbstverteidigung: gegen die Wehrpflicht, gegen NATO und Atomraketen, gegen AKWs und WAAs, gegen die Auswüchse von Kapitalismus und Leistungsgesellschaft, gegen die Zerstörung der Umwelt, gegen den im Zuge der Terrorismusbekämpfung entstandenen Überwachungsstaat, gegen Nazis in politischen Ämtern, gegen eine militaristische Erinnerungskultur, gegen Rassismus usw. usf. Die Worte „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ wurden damals ganz groß geschrieben, es war die Zeit, als die Frauenbewegung mit Macht in den Vordergrund rückte, als Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen auf ihre Rechte pochten, als Betriebe und Initiativen aus dem Boden schossen, in denen „Kollektive“ dem Ideal eines hierarchiefreien Miteinanders nahezukommen versuchten. So entstand eine eigene, eben „alternative“ Kultur, in der die Utopie gepflegt wurde, dass alles anders werden könnte: friedlicher, freundlicher, ökologischer, vielfältiger, sozialer und gerechter. Aus heutiger Sicht mögen wir in mancher Hinsicht hoffnungslos naiv gewesen sein, unmittelbar erreicht haben wir nur wenig, gänzlich ohne Wirkung geblieben ist unser Gegenprogramm trotzdem nicht. Vieles von dem, was wir damals gefordert oder experimentell ausprobiert haben, ist heute in abgewandelter Form selbstverständlich geworden.
Und dann baute sich da mit dem Angriffskrieg von Putins Russland auf die Ukraine unvermittelt die scharfkantige Fratze einer schrecklichen Gegenwart vor meiner in Teilen durchaus rosigen Erinnerungswelt auf – und ließ sie platzen wie eine Seifenblase. Der Schock saß bei mir so tief, dass ich die Arbeit erst mal liegen lassen musste. Denn was hat meine Generation bzw. der Teil von ihr, der sich politisch engagiert hat – auf Großdemonstrationen, in kleinen Aktionen, durch individuelle Verweigerungen und Gruppeninitiativen verschiedenster Art –, heute, da die Angst vor einem Krieg plötzlich ganz nahe gerückt ist, noch zu sagen? Frieden schaffen ohne Waffen: Das war damals die Losung von Kriegsdienstverweigerern auf beiden Seiten der in „West“ und „Ost“ geteilten Machtblöcke, die sich in der DDR genauso wie in der BRD der Logik von Zwang und Gewalt entziehen wollten. Von einer blockübergreifenden Friedensbewegung von unten ist in den heutigen, komplizierter und rauer gewordenen Zeiten nicht einmal in Ansätzen etwas zu sehen, überlegte ich verzagt. Können also unsere Programme von damals, die stets einhergingen mit einer ausgeprägten Staatsverdrossenheit und einem Gestus des „Widerstands“, auf den wir uns mächtig etwas einbildeten, heute noch als Ratgeber dienen? Ist jetzt nicht etwas ganz anderes gefordert? Ist es nicht geboten, sich auch militärisch wehrhaft zu machen gegen eine neue Art von Bedrohungen, die wir einstige Weltverbesserer uns so nicht hätten ausdenken können? Und hatten die Grünen, die in ihren Ursprüngen als Protestpartei unsere Sehnsüchte wenigstens teilweise zum Ausdruck gebracht hatten, als aktuelle Regierungspartei die Wende hin zu einem Deutschland, das sich verteidigungsfähig machen muss, nicht schon längst vollzogen?
Zeitenwende, Sondervermögen und Personalsorgen: Die deutsche Politik und die Bundeswehr jedenfalls sahen sich nach dem 24. Februar 2022 plötzlich vor ganz neue Herausforderungen gestellt. „Wir sind da, um unseren Frieden und Freiheit zu erhalten und das im Zweifel auch zu verteidigen“, erklärte Ruprecht von Butler, Kommandeur der 10. Panzerdivision, den Besuchern beim „Tag der Bundeswehr“ am 17. Juni 2023 im unterfränkischen Veitshöchheim. Die während des Kalten Krieges ausschließlich zur Landes- und Bündnisverteidigung an der deutschdeutschen Grenze konzipierte Bundeswehr war im letzten Vierteljahrhundert, konsequent vor allem nach Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011, zu einer Kriseninterventionsarmee im Ausland umgebaut worden. Das sollte sich mit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine nun wieder ändern. „Mit neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert, erfolgt derzeit eine Rückbesinnung auf den alten Kernauftrag“, verkündete die Bundeswehr auf ihrer Webseite. Aber war sie überhaupt gewappnet dafür, den alten Kernauftrag zu erfüllen? Trotz einer Personaloffensive war die Truppenstärke, u. a. auch durch einen plötzlichen Anstieg der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung, im Jahr 2023 sogar geschrumpft, nämlich auf 181.500 Soldatinnen und Soldaten. Auf wenigstens 203.000 FWDLs (Freiwillig Wehrdienstleistende) sollte sie zunächst aufgestockt werden, doch bereits das Erreichen dieses recht bescheidenen Ziels stellte sich als ziemlich ambitioniert heraus. In den schicken Karrierecentern meldeten sich einfach zu wenige, die dienen wollten.
Und so kam sie denn in Gang, die Diskussion über eine Reaktivierung der Wehrpflicht. Immer mehr Politiker meldeten sich zu Wort, etliche hochrangige Generäle, die Wehrbeauftragte Eva Högl oder Experten wie der seit Beginn des Krieges in Talkshows omnipräsente Militärhistoriker Sönke Neitzel aus Potsdam. Zu alldem passte, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schon seit längerem die Idee einer sozialen Pflichtzeit ventiliert und die CDU sich für die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahrs ausgesprochen hatte. Warum also nicht ein verpflichtendes, entweder im zivilen oder militärischen Bereich abzuleistendes „Dienstjahr für Deutschland“?
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hingegen, ein ehemaliger Kriegsdienstverweigerer, versuchte im Mai 2024, die aufgeregte Debatte herunterzudimmen. Einen „Wehrdienst wie früher“ werde es nach seiner Überzeugung nicht mehr geben, man werde nicht wieder zurückkehren zu einer Wehrpflichtarmee alten Stils. Für die Einberufung eines kompletten Jahrgangs wie anno 1980, als die Truppenstärke fast eine halbe Million Soldaten betragen hatte, fehlten die Infrastruktur und die organisatorischen Ressourcen, so etwas „würde nicht mehr funktionieren“. Und man verfolge auch keinen solchen Plan, all das würde ja gar nicht benötigt, denn die Bewältigung des Personalmangels bei der Bundeswehr sei eine „überschaubare“ Aufgabe. Und so kam es, dass der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius seine eigentlich viel weitergehenden Vorstellungen abspecken musste und lediglich das Ausfüllen eines Fragebogens für junge Männer zur Pflicht machen durfte. Vorläufig also würde es keine „richtige“ Wehrpflicht geben. Aber die Diskussion, da war ich mir sicher, würde weitergehen.
Unverkennbar ist: Im Angesicht neuer Bedrohungen sind die Aufgaben der Bundeswehr, das Thema Wehrhaftigkeit und die Begriffe Pflicht und Zwang wieder in den Fokus gerückt, und zudem hat sich die Tonlage geändert, in der über all das diskutiert wird. Als der Bundestag am 25. April 2024 mit großer Mehrheit die Einführung eines Veteranentags beschloss, mit dem jedes Jahr am 15. Juni den ehemaligen Soldaten Anerkennung und Dank ausgedrückt werden soll, war deutlich geworden, in welche Richtung sich der Wind der Moral gedreht hatte: Denjenigen, die uns verteidigen, soll nun wieder Ehre zuteilwerden; der zivile Ungehorsam von Kriegsdienstgegnern und Pazifisten hingegen, der lange die Stimmung in der Bundesrepublik geprägt hatte, haben als Leitbilder ausgedient in einer Zeit, in der die Fähigkeit zu militärischer Abschreckung als das Gebot der Stunde erscheint. Damals pochten wir darauf, Soldaten unter Berufung auf ein Tucholsky-Zitat als Mörder bezeichnen zu dürfen, und wir setzten uns dafür ein, dass Deserteure der Wehrmacht umfassend rehabilitiert und mit Denkmälern bedacht würden. Heute hingegen scheint es so, dass es bald wieder Staatsbegräbnisse und neue Ehrenmale für gefallene Helden geben könnte.
Kaum mehr vorstellbar ist, dass – wie noch zu Beginn des „Einstein-Jahres“ 2005 – am Bundeskanzleramt der Einstein-Spruch angebracht würde: „Der Staat ist für die Menschen und nicht die Menschen für den Staat.“ Das vollständige Zitat wurde freilich schon damals unterschlagen, wohl mit gutem Grund. Denn so geht es in „Mein Weltbild“ weiter: „Der Staat soll also unser...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2024 |
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Verlagsort | Rastede |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
ISBN-10 | 3-89684-722-8 / 3896847228 |
ISBN-13 | 978-3-89684-722-5 / 9783896847225 |
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